Der Fluss stieg den ganzen Tag über an, trat an einigen Stellen langsam über die Ufer, verschluckte Sandbänke, stieg bis ins dichte Unterholz, überflutete die kleinen, schlammigen Gärten von Häusern, an denen sie in Abständen von etwa drei Stunden vorüberkamen. Immer mehr trieb im Wasser: Laub und Gräser, Äste und mitsamt den Wurzeln aus dem Boden gespülte junge Bäume. Mit zunehmender Breite des Paraguay wurde sein; Strömung stärker und verlangsamte die Fahrt des Bootes noch mehr.
Aber niemand sah auf die Uhr. Taktvoll war Nate von seinem Posten als Schiffsführer abgelöst worden, nachdem ein im Wasser treibender Baumstamm, den er nicht gesehen hatte, die Santa Loura erschüttert hatte. Zwar blieb das Boot unbeschädigt, aber der Aufprall ließ Jevy und Welly sofort zum Ruderhaus eilen. Nate kehrte zu seinem eigenen kleinen Deck mit der Hängematte zurück und brachte den Vormittag mit Lesen zu und dam t, dass er die Tierwelt beobachtete.
Jevy setzte sich mit einer Tasse Kaffee zu ihm. »Wie finden Sie das Pantanal?« fragte er. Sie saßen nebeneinander auf de: Bank und ließen, die Arme durch die Stäbe der Reling gesteckt, die bloßen Füße über dem Wasser baumeln.
»Es ist herrlich.«
»Kennen Sie den Staat Colorado?«
»Ich war schon mal da.«
»In der Regenzeit treten die Flüsse im Pantanal so sehr über die Ufer, dass sie ein Gebiet von der Größe Colorados unter Wasser setzen.«
»Waren Sie denn schon mal da?«
»Ja, ich hab da einen Vetter.«
»Und wo waren Sie noch?«
»Vor drei Jahren bin ich mit meinem Vetter in einem Greyhound durch die USA gefahren. Bis auf sechs Staaten haben wir alle gesehen.«
Nate war doppelt so alt wie Jevy mit seinen vierundzwanzig Jahren und hatte meist viel Geld verdient. Trotzdem hatte Jevy viel mehr von den Vereinigten Staaten gesehen als er.
Solange Nate genug Geld hatte, war er immer nach Europa gereist. Seine Lieblingsrestaurants waren in Rom und Paris .
»Wenn die Überflutungen nachlassen«, fuhr Jevy fort, »beginnt die Trockenzeit. Dann gibt es Grasland, Sumpfgebiete und zahllose Lagunen und überschwemmte Flächen. Dieser ständige Wechsel von Regen- und Trockenzeit sorgt dafür, dass es hier eine vielfältigere Fauna gibt als irgendwo sonst auf der Erde. Hier leben sechshundertfünfzig Vogelarten, mehr als in den Vereinigten Staaten und Kanada zusammen, außerdem mindestens zweihundertsechzig Fischarten. Dann haben wir noch Schlangen und Kaimane. Sogar Riesenotter leben im Wasser.« Wie auf Bestellung wies er auf ein Dickicht am Rande eines Wäldchens. »Sehen Sie, ein Stück Rotwild«, sagte
er. »Davon gibt es hier Unmengen. Außerdem Jaguare, große Ameisenbären, capivaras, Tapire und HyazinthAras. Der Artenreichtum im Pantanal ist unerschöpflich.«
»Sind Sie hier geboren?«
»Meinen ersten Atemzug hab ich im Krankenhaus von Corumba getan, aber wirklich zur Welt gekommen bin ich an diesen Flüssen. Hier ist meine Heimat.«
»Sie haben gesagt, dass Ihr Vater Flusslotse war.«
»Ja. Als kleiner Junge bin ich oft mit ihm gefahren. Frühmorgens, wenn alle anderen noch schliefen, durfte ich immer das Steuer übernehmen. Als ich zehn Jahre war, kannte ich schon die wichtigsten Flüsse.«
»Und ist er auf dem Fluss hier gestorben?«
»Nicht auf diesem, auf dem Taquiri, weiter im Osten. Er hat ein Boot mit deutschen Touristen geführt, das in ein Unwetter geriet. Der einzige Überlebende war ein Matrose.«
»Wann war das?«
»Vor fünf Jahren.«
Der Prozessanwalt in Nate hatte noch ein Dutzend Fragen zu dem Unfall. Er brannte darauf, Einzelheiten zu erfahren - Einzelheiten, mit denen man Prozesse gewinnt. Aber er stellte die Fragen nicht, sondern sagte lediglich: »Das tut mir leid.«
»Man will das Pantanal zerstören«, sagte Jevy.
»Wer?«
»Viele. Großkonzerne, denen riesige landwirtschaftliche Betriebe gehören. Im Norden und Osten sind sie schon dabei, Flächen für den Sojaanbau zu roden. Sie wollen Sojabohnen exportieren. Je mehr Bäume gefällt werden, desto mehr Regenwasser sammelt sich im Pantanal, und desto mehr Ablagerungen werden in die Flüsse geschwemmt. Die Ackerkrume ist nicht besonders gut, also setzen die Konzerne Kunstdünger und Schädlingsbekämpfungsmittel ein. All das landet in den Gewässern. Viele der landwirtschaftlichen Großbetriebe stauen Flüsse auf, um zusätzliche Weideflächen zu schaffen. Damit gerät der Zyklus von Überschwemmung und Trockenzeit aus dem Takt. Außerdem fallen die Fische dem Quecksilber zum Opfer.«
»Woher kommt das?«
»Aus dem Bergbau. Im Norden wird Gold abgebaut, und dazu verwendet man Quecksilber. Es gelangt in die Flüsse, und die fließen ins Pantanal. Unsere Fische schlucken das Zeug und gehen ein. Aller Umweltmist landet im Pantanal. Cuiaba, eine Stadt im Osten, hat eine Million Einwohner und keine Kläranlage. Dreimal dürfen Sie raten, wo die Abwässer landen.«
»Unternimmt denn die Regierung nichts?« Jevy stieß ein bitteres Lachen hervor. »Haben Sie schon mal von Hidrovia gehört?«
»Nein.«
»Das ist ein geplanter gewaltiger Graben quer durch das ganze Pantanal, der später einmal die Länder Brasilien, Bolivien, Paraguay, Argentinien und Uruguay miteinander verbinden soll. Angeblich will man damit Südamerika retten, aber in Wirklichkeit legt man damit das Pantanal trocken - und unsere Regierung unterstützt das Projekt auch noch.«
Fast hätte Nate etwas über die Notwendigkeit gesagt, sich verantwortlich gegenüber der Umwelt zu verhalten, dann aber fiel ihm ein, dass seine Landsleute die größten Energieverschwender waren, die die Welt je gesehen hat. » Es ist immer noch sehr schön «, sagte er.
»Das stimmt.« Jevy trank seinen Kaffee aus. »Manchmal denke ich, es ist so groß, das können sie gar nicht zerstören.«
Sie kamen an einem schmalen Flussarm vorüber, der dem Paraguay noch mehr Wasser zuführte. Ein kleines Rudel Rehwild watete durch das stehende Wasser am Ufer und benagte grüne Ranken, ohne auf das vom Fluss herüberdringende Geräusch zu achten. Sie zählten sieben Stücke, zwei von ihnen waren gesprenkelte Jungtiere. »Ein paar Stunden von hier liegt eine kleine Handelsstation«, sagte Jevy und stand auf. »Wir sollten es bis zum Einbruch der Dunkelheit dahin schaffen.«
»Was wollen wir denn einkaufen?«
»Eigentlich nichts. Aber Fernande, der Inhaber, erfährt alles, was am Fluss passiert. Vielleicht weiß er etwas über Missionare.«
Er leerte seine Tasse in den Fluss und reckte die Arme. »Manchmal hat er auch Bier da. Cerveja.«
Nate hielt den Blick auf die Wasserfläche gerichtet.
»Wir sollten aber keins kaufen«, sagte Jevy und ging fort.
Mir recht, dachte Nate. Er trank seine Tasse aus und schluckte den Kaffeesatz und den nicht aufgelösten Zucker mit herunter.
Eine kalte braune Flasche, vielleicht Antartica oder Brahma, die beiden Marken, die er in Brasilien bereits probiert hatte. Ausgezeichnetes Bier. Besonders gern war er früher in eine Studentenkneipe in der Nähe der Georgetown University gegangen, mit hundertzwanzig ausländischen Biersorten auf der Karte. Er hatte sie alle durchprobiert. Körbchen mit Erdnüssen standen auf den Tischen, und niemand fand etwas dabei, wenn man die Schalen auf den Fußboden warf. Mit Studienfreunden, die nach Washington kamen, hatte er sich immer in der Kneipe getroffen und mit ihnen Erinnerungen an alte Zeiten nachgehangen. Das Bier war eiskalt, die Mädchen waren jung und ungebunden, die Erdnüsse scharf und salzig, und wenn man über den Fußboden ging, krachten die
Schalen unter den Füssen. Das Lokal hatte es schon immer gegeben, und bei jeder Entziehungskur, bei jedem Klinikaufenthalt, war es das gewesen, was Nate am meisten gefehlt hatte.
Er begann zu schwitzen, obwohl die Sonne hinter den Wolken versteckt war und ein kühles Lüftchen wehte. Er verkroch sich in der Hängematte und betete darum, schlafen zu können, betete um ein tiefes Koma für die Zeit, wenn sie anlegten, bis sie wieder in die Nacht weiterfuhren. Der Schweißausbruch verstärkte sich, bis sein Hemd durchnässt war. Er begann, ein Buch über den Untergang der brasilianischen Indianer zu lesen, und versuchte dann erneut einzuschlafen.
Er war hellwach, als die Maschine auf langsame Fahrt gestellt wurde und das Boot sich ans Ufer schob. Man hörte Stimmen, dann gab es einen leichten Ruck, als sie gegen den Anleger stießen. Langsam kletterte Nate aus der Hängematte, ging zur Bank an der Reling und setzte sich.
Es war eine Art Gemischtwarenhandlung auf Pfählen - ein winziges Gebäude aus unbehandelten Brettern mit einem Blechdach und einer schmalen Veranda, auf der einige Einheimische saßen, die Zigaretten rauchten und Tee tranken, was ihn nicht weiter überraschte. Ein schmaler Flusslauf umrundete das Gebäude, neben dem sich ein großer Brennstofftank befand, und verschwand im Pantanal.
Ein Anleger, der nicht besonders stabil aussah, sprang in den Fluss vor, damit Boote an ihm festmachen konnten. Jevy und Welly schoben das Boot langsam am Anleger entlang, denn die Strömung war stark. Sie unterhielten sich mit den pantaneiros auf der Veranda und traten dann durch die offene Tür ins Innere des Gebäudes.
Nate hatte sich fest vorgenommen, auf dem Boot zu bleiben. Er ging zur gegenüberliegenden Seite hinüber, setzte sich dort auf die Bank, steckte Arme und Beine durch die Reling und sah über die volle Breite des Flusses hinweg. Er würde hier oben bleiben, an Armen und Beinen von der Reling gehalten. Das kälteste Bier auf der Welt würde ihn nicht von hier weglocken können.
Ihm war bereits bekannt, dass es in Brasilien keine kurzen Besuche gab, und schon gar nicht am Fluss, wo selten ein Fremder auftauchte. Nach einer Weile kehrte Jevy mit hundertzehn Litern Diesel in Kanistern zurück; es war Ersatz für den Kraftstoff, den sie im Unwetter verloren hatten. Dann wurde die Maschine wieder angelassen. »Fernando sagt, dass es hier in der Gegend eine Missionarin bei den Indianern gibt.« Er gab ihm eine Flasche kaltes Wasser. Das Boot fuhr wieder.
»Wo?«
»Er weiß es nicht genau. Einige Ansiedlungen liegen im Norden in der Nähe der Grenze zu Bolivien. Aber die Indianer fahren nicht auf dem Fluss, und so weiß er nicht viel über sie.«
»Wie weit ist die nächste Ansiedlung entfernt?«
»Wir können morgen früh in der Nähe sein. Aber nicht mit diesem Boot hier. Wir müssen das kleine nehmen.« »Macht sicher Spaß.«
»Erinnern Sie sich noch an den Bauern Marco, dessen Kuh wir mit unserem Flugzeug getötet haben?«
»Natürlich. Er hatte drei kleine Jungen.«
»Ja. Er war gestern hier«, sagte Jevy und wies auf die Handelsstation, die gerade hinter einer Biegung verschwand. »Er kommt einmal im Monat.«
»Hatte er die Jungen dabei?«
»Nein. Das ist zu gefährlich.«
Wie klein die Welt doch war. Nate hoffte, dass die Jungen das Geld ausgegeben hatten, das er ihnen zu Weihnachten geschenkt hatte. Er hielt den Blick auf die Handelsstation gerichtet, bis von ihr nichts mehr zu sehen war.
Vielleicht würde es ihm auf dem Rückweg so gut gehen, dass er einkehren und sich ein oder zwei kühle Bier genehmigen konnte, um den Erfolg seiner Expedition zu feiern. Er kroch zurück in die Sicherheit seiner Hängematte und verfluchte sich wegen seiner Schwäche. In der Wildnis eines riesigen Sumpfgebiets wäre er fast dem Alkohol erlegen, und stundenlang hatten seine Gedanken um nichts anderes gekreist. Die Vorfreude, die Angst, der Schweißausbruch und die Überlegungen, wie er es anstellen könnte, etwas zu trinken zu bekommen. Dann das knappe Verfehlen seines Ziels, das Entkommen, das nicht sein Verdienst war, und jetzt, gleich danach, durchlebte er schon wieder in Gedanken die Wonnen einer neuen Begegnung mit dem Alkohol. Nur ein paar Schluck, das wäre schön, denn dann könnte er leicht aufhören. Damit belog er sich am liebsten.
Er war schlicht und einfach ein Säufer. Auch wenn man ihn in eine noch so noble Entwöhnungsklinik schickte, die tausend Dollar am Tag kostete, er war und blieb süchtig. Man mochte ihn Dienstagabend im Untergeschoss einer Kirche zum Treffen einer Gruppe Anonymer Alkoholiker schicken, er war und blieb ein Säufer.
Seine Sucht überfiel ihn, und er wurde von Verzweiflung erfasst. Er zahlte für das verdammte Boot; Jevy arbeitete für ihn. Wenn er darauf bestand, dass sie umkehrten und auf kürzestem Wege zu der Handelsstation zurückfuhren, würden sie das tun. Er konnte so viel Bier kaufen, wie Fernando in seinem Laden hatte, es unterwegs auf Eis packen und den ganzen Weg bis Bolivien ein Brahma nach dem anderen schlürfen. Niemand konnte daran auch nur das geringste ändern.
Wie eine Fata Morgana tauchte Welly mit breitem Lächeln und einer Tasse frisch gebrühtem Kaffee auf. » Vou cozinhar«, sagte er. Ich werde etwas kochen.
Etwas zu essen würde helfen, überlegte Nate - und wenn es auch wieder ein Teller mit Bohnen, Reis und Hühnchen war. Das Essen würde ihn besänftigen oder zumindest seine Aufmerksamkeit von anderen Begierden ablenken.
Während er in der Dunkelheit allein auf dem Oberdeck bedächtig seine Mahlzeit verzehrte, schlug er immer wieder nach Moskitos, die sein Gesicht umsirrten. Am Ende der Mahlzeit sprühte er sich vomHals bis zu den bloßen Füssen mit Insektenschutzmittel ein. Der Anfall war vorüber. Er hatte den Geschmack von Bier nicht mehr im Mund und roch auch nicht mehr die Erdnüsse aus seiner Lieblingsbar.
Er zog sich in seine Zuflucht zurück. Es regnete wieder, still, ohne Wind oder Donner. Josh hatte ihm vier Bücher für Mußestunden eingepackt. Da er inzwischen alle Aktennotizen und Anweisungen mehrfach gelesen hatte, blieben ihm nur die Bücher. Die Hälfte des dünnsten hatte er bereits gelesen.
Er vergrub sich tief in die Hängematte und wandte sich erneut dem Buch zu, das die traurige Geschichte von Brasiliens Ureinwohnern beschrieb.
Als der Portugiese Pedro Alvares Cabral im April des Jahres 1500 an der Küste von Bahia zum ersten Mal den Fuß auf brasilianischen Boden setzte, lebten dort fünf Millionen Indianer, die sich auf rund neunhundert Stämme mit elfhundertfünfundsiebzig Sprachen verteilten. Sah man von den üblichen Stammesfehden ab, handelte es sich um friedliche Menschen.
Nach knapp fünfhundert Jahren der >Zivilisierung< durch Europäer gab es nur noch zweihundertsiebzigtausend Indianer in zweihundertsechs Stämmen, die sich mit Hilfe von einhundert-siebzig Sprachen verständigten. Krieg, Mord, Sklaverei, Gebietsraub, Krankheiten - die Vertreter der zivilisierten Länder hatten keine Möglichkeit ausgelassen, die indianische Bevölkerung zu dezimieren.
Es war eine üble Geschichte voller Gewalt. Verhielten sich die Indianer friedfertig und bemühten sich, mit den Siedlern auszukommen, fielen sie Krankheiten wie Pocken, Masern, Gelbfieber, Grippe, Tuberkulose zum Opfer, die bei ihnen bis dahin unbekannt waren und gegen die sie keine Abwehrkräfte besaßen. Waren sie nicht friedfertig, wurden sie von Männern abgeschlachtet, deren Waffen raffinierter waren als Blasrohre und Giftpfeile. Sofern sie sich gegen ihre Angreifer zur Wehr setzten und sie töteten, wurden sie als Wilde gebrandmarkt.
Sie wurden von Bergbauunternehmern, Viehzüchtern und Kautschukbaronen versklavt, und jeder, der genug Schusswaffen hatte, konnte sie aus ihren angestammten Wohngebieten vertreiben. Priester verbrannten sie auf dem Scheiterhaufen, Banditenhorden jagten sie, jeder, dem danach war, tötete sie ungestraft und vergewaltigte ihre Frauen. Sobald die Interessen der brasilianischen Eingeborenen und der Weißen aufeinander prallten, hatten die Indianer verloren, ganz gleich, ob es dabei um wichtige oder unwichtige Ereignisse ging.
Wer nahezu ein halbes Jahrtausend lang immer nur auf der Verliererseite steht, erwartet nur wenig vom Leben. Das größte Problem für einige der Stämme war in neuerer Zeit der Selbstmord ihrer jungen Leute.
Endlich beschloss die Regierung des Landes nach Jahrhunderten des Völkermords, es sei an der Zeit, die »edlen Wilden« zu schützen. Da Massaker in jüngerer Zeit zu internationaler Kritik geführt hatten, richtete man Behörden ein und erließ Gesetze. Nicht ohne auf die eigene Großzügigkeit hinzuweisen, gab man den Eingeborenen einen Teil ihrer Stammesgebiete zurück und zog auf amtlichen Karten Linien, mit denen diese zu Sicherheitszonen erklärt wurden.
Doch die Regierung war zugleich der Feind. Als im Jahre 1967 die für die Indianerfragen zuständige Behörde überprüft wurde, waren die meisten Brasilianer von dem Ergebnis entsetzt. Aus dem Bericht ging hervor, dass Agenten, Bodenspekulanten und Viehzüchter - Kriminelle, die entweder im Dienst der Behörde standen oder denen die Behörde zuarbeitete - mit Hilfe chemischer und bakteriologischer Waffen systematisch Indianer ausgerottet hatten. Entweder hatten sie mit Pocken- und Tuberkulose-Erregern infizierte Kleidungsstücke unter sie verteilt oder von Flugzeugen und Hubschraubern aus tödliche Bakterien über ihrem Siedlungsgebiet und ihren Dörfern verbreitet.
Im übrigen nahmen Viehzüchter und Bergbauunternehmer im Amazonasbecken und anderen Grenzgebieten die Linien auf der Landkarte so gut wie nicht zur Kenntnis.
Im Jahre 1986 verseuchte ein Viehzüchter in Rondonia ein in der Nähe seines Besitzes gelegenes Indianergebiet mit tödlich wirkenden Schädlingsbekämpfungsmitteln, die er aus dem Flugzeug versprühte. Er wollte dort Weideflächen anlegen und musste dazu zuvor die Bewohner eliminieren. Obwohl dreißig Indianer dabei umkamen, wurde der Mann nie vor Gericht gestellt. Im Mato Grosso zahlte 1989 ein Viehzüchter Kopfgeldjägern eine Belohnung für die Ohren ermordeter Indianer.
Goldgräber griffen 1993 in Manaus die Angehörigen eines friedfertigen Stammes an, die nicht bereit waren, ihnen zuliebe von ihrem Land zu weichen. Dreizehn Indianer wurden ermordet, ohne dass man jemanden dafür zur Rechenschaft gezogen hätte.
Da es im Norden des Pantanal zahlreiche Bodenschätze gibt, hatte sich die Regierung in den neunziger Jahren mit Nachdruck bemüht, das Amazonasbecken dort zu erschließen. Dabei waren ihr immer noch im dortigen Urwald lebende Indianer im Weg: Schätzungen zufolge war es immerhin fünfzig Stämmen gelungen, Kontakte mit der Zivilisation zu vermeiden.
Diese schlug jetzt erneut zu. Die Übergriffe gegen Indianer wurden häufiger, je mehr Bergleute, Holzfäller und Viehzüchter mit Unterstützung der Regierung in jenes Gebiet vordrangen.
Eine fesselnde, aber auch eine deprimierende Geschichte. Nate las vier Stunden ununterbrochen, dann hatte er das Buch aus.
Er ging zum Ruderhaus hinüber und trank Kaffee mit Jevy. Es regnete nicht mehr.
»Werden wir morgen früh dort ankommen?« fragte er.
»Ich glaube schon.«
Die Lichter des Bootes bewegten sich ganz sacht mit der Strömung.
»Haben Sie Indianerblut in Ihren Adern?« fragte Nate nach einigem Zögern. Es war eine persönliche Frage, wie sie in den Vereinigten Staaten niemand zu stellen wagen würde.
Jevy lächelte, ohne den Blick vom Fluss zu nehmen. »Das hat hier jeder. Warum fragen Sie?«
»Ich habe gerade ein Buch über die Geschichte der Indianer in Brasilien gelesen.«
»Und was meinen Sie dazu?«
»Sie ist ziemlich tragisch.«
»Das stimmt. Glauben Sie, dass man die Indianer hier schlecht behandelt hat?«
»Natürlich.«
»Und wie war das bei Ihnen?«
Aus irgendeinem Grund kam ihm als erstes General Güster in den Sinn. Einmal zumindest hatten auch sie gewonnen. Außerdem haben wir sie nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannt, mit Chemikalien besprüht oder in die Sklaverei verkauft. Oder? Was ist mit all den Reservaten? Überall Land.
»Ich fürchte, nicht viel besser«, sagte er und gab sich geschlagen. Er legte keinen Wert auf diese Art von Diskussion.
Nach einem langen Schweigen machte sich Nate auf den Weg zur Toilette. Bevor er den kleinen Raum verließ, zog er die Kette. Hellbraunes Flusswasser füllte die Toilettenschüssel und spülte alles durch ein Rohr unmittelbar in den Fluss.