Als geplagter Großstadtanwalt hatte Nate nie gelernt, ruhig irgendwo zu sitzen, während Phil in dieser Fertigkeit viel Übung besaß. Zwei ältere Männer seiner Gemeinde erwarteten von Phil, dass er einmal in der Woche vorbeikam und sich eine Stunde zu ihnen setzte, während sie am Kamin dösten. Ein Gespräch war angenehm, aber nicht erforderlich. Es genügte, einfach dazusitzen und die Stille zu genießen. Wenn ein Gemeindemitglied erkrankte, wurde vom Pfarrer erwartet, dass er die Familie besuchte und längere Zeit im Hause verbrachte, bei Todesfällen tröstete er die Hinterbliebenen, und wann immer jemand aus der Nachbarschaft ins Pfarrhaus kam, setzten sich Laura und er mit dem Besucher hin und plauderten, ganz gleich, welche Tageszeit es sein mochte. Bisweilen saßen sie auch ganz allein auf der Veranda in der Schaukel.
Doch Nate holte rasch auf. Er setzte sich in einem dicken Pullover mit Phil auf die Stufen vor dem Häuschen der Staffords und trank mit ihm Kakao, den er in der Mikrowelle heiß gemacht hatte. Dabei ließen sie den Blick auf der Bucht ruhen, die sich unter ihnen erstreckte, auf dem kleinen Hafen und dem schaumgekrönten Meer dahinter. Gelegentlich sagten sie etwas, aber meist wurde geschwiegen. Phil wusste, dass sein Gefährte eine anstrengende Woche hinter sich hatte. Inzwischen hatte Nate ihn in die meisten Einzelheiten der Erbschaftssache Phelan eingeweiht. Sie vertrauten einander.
»Ich möchte eine kleine Reise unternehmen«, kündigte Nate ruhig an. »Wollen Sie mitkommen?«
»Wohin?«
»Ich muss meine Kinder sehen. Wahrscheinlich fahre ich zuerst nach Salem in Oregon. Da wohnen meine beiden jüngsten, Austin und Angela. Mein älterer Sohn studiert an der Northwestern University in Evanston, und seine jüngere Schwester Kaitlin in Pittsburgh. Es wird eine hübsche kleine Rundreise.«
»Wie lange soll sie dauern?«
»Ich habe keine Eile. Zwei Wochen. Ich fahre mit dem Auto.«
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Die beiden aus der ersten Ehe schon über ein Jahr nicht. Mit den Kleinen habe ich im Juli ein Spiel der Orioles besucht. Dabei habe ich mich betrunken. Ich wusste nicht mal mehr, dass ich anschließend nach Arlington zurückgefahren war.«
»Fehlen sie Ihnen?«
»Na klar. Eigentlich hab ich nie viel Zeit mit ihnen verbracht. Ich weiß kaum etwas über sie.«
»Sie haben viel gearbeitet.«
»Das stimmt, und noch mehr getrunken. Ich war nie zu Hause. Wenn ich mir ab und zu etwas freie Zeit gegönnt hab, bin ich mit den Kollegen nach Las Vegas gefahren, habe Golf gespielt oder war zum Hochseeangeln auf den Bahamas. Die Kinder habe ich nie mitgenommen.«
»Daran können Sie nichts ändern.«
»Nein. Warum kommen Sie nicht mit? Wir können uns stundenlang unterhalten.«
»Vielen Dank, aber das geht nicht. Ich habe da unten im Keller endlich etwas in Gang gebracht und möchte nicht aus dem Tritt kommen.«
Nate hatte einige Stunden zuvor einen Blick in den Keller geworfen. Der Pfarrer schien dort unten tatsächlich mit der Arbeit vorangekommen zu sein.
Phils und Lauras einziges Kind war ein Sohn von gut zwanzig Jahren, der das College ohne Abschluß verlassen hatte und sich irgendwo an der Westküste herumtrieb. Laura hatte einmal beiläufig gesagt, sie hätten keine Ahnung, wo. Er hatte sich seit über einem Jahr nicht zu Hause gemeldet.
» Rechnen Sie damit, dass Ihre Reise ein Erfolg wird?« fragte Phil.
»Ich habe keine Ahnung, womit ich rechnen soll. Ich möchte meine Kinder in den Arm nehmen und um Entschuldigung dafür bitten, dass ich ein so schlechter Vater war, aber ich weiß nicht recht, ob ihnen das jetzt hilft.« »Ich würde das lassen. Dass Sie ein schlechter Vater waren, wissen sie selbst. Zerknirschung nützt da überhaupt nichts. Aber es ist wichtig, dass Sie da sind und den ersten Schritt zu einer neuen Beziehung unternehmen.«
»Ich habe meinen Kindern gegenüber so schrecklich versagt.«
»Sie können sich nicht gut selbst dafür schlagen, Nate. Sie dürfen die Vergangenheit vergessen. Gott hat es bestimmt vergessen. Paulus hat Christen getötet, bevor er selbst einer wurde, und er hat sich für seine früheren Taten nicht gegeißelt. Alles ist vergeben. Zeigen Sie Ihren Kindern, was Sie jetzt sind.«
Ein kleines Fischerboot verließ den Hafen und fuhr in die Bucht hinaus. Es war der einzige bewegliche Punkt auf dem Bild, das sie sahen, und sie beobachteten es mit gespannter Aufmerksamkeit. Nate musste an Jevy und Welly denken, die vermutlich gerade mit einer cbalana voller landwirtschaftlicher Erzeugnisse und anderer Waren den Paraguay befuhren und vom stetigen Takt des Diesels immer tiefer ins Pantanal getrieben wurden. Jevy würde am Steuerruder stehen und Welly auf der Gitarre klimpern. Bestimmt herrschte in ihrer Welt Frieden.
Später, lange nachdem Phil ins Pfarrhaus zurückgekehrt war, setzte sich Nate ans Kaminfeuer und begann einen weiteren Brief an Rachel. Es war der dritte. Nachdem er geschrieben hatte, »Samstag, 22. Februar«, fuhr er fort: »Liebe Rachel, ich habe soeben eine sehr unerfreuliche Woche mit Ihren Halbgeschwistern zugebracht.«
Er schilderte ihr die Brüder und Schwestern, begann mit Troy Junior und endete drei Seiten später mit Ramble.
Er machte kein Hehl aus ihren Schwächen und dem Schaden, den sie sich selbst und anderen antun würden, wenn sie das Geld bekämen. Doch er zeigte zugleich, dass er Mitleid für sie empfand.
Er legte einen für die Missionsgesellschaft bestimmten Scheck über fünftausend Dollar bei, der die Kosten für ein Boot, einen Motor, Medikamente und Verbandsmittel decken sollte, und teilte ihr mit, es stehe noch weit mehr Geld zur Verfügung, wenn sie welches brauche. Ihr Vermögen werfe täglich etwa zwei Millionen Dollar an Zinsen ab, Geld, mit dem sich viel Gutes tun lasse.
Als Hark Gettys und seine Mitverschwörer auf die Dienste von Dr. Flowe, Dr. Zadel und Dr. Theishen verzichteten, begingen sie einen schweren Fehler. Die Anwälte hatten den Psychiatern Vorwürfe gemacht, sie beleidigt und nicht wiedergutzumachenden Schaden angerichtet.
Die neu verpflichteten Psychiater konnten ihr Urteil auf Sneads jüngste Aussagen stützen. Flowe, Zadel und Theishen hatten diesen Vorteil nicht gehabt. Als Nate sie am Montag befragte, befolgte er bei allen dreien die gleiche Taktik. Er begann mit Zadel und zeigte ihm das Videoband, das bei Troy Phelans Begutachtung aufgenommen worden war. Er fragte ihn, ob er irgendeinen Grund sehe, seine Meinung zu ändern. Wie nicht anders zu erwarten, verneinte Zadel die Frage. Wenige Stunden nach der Videoaufnahme und dem Selbstmord hatten die Psychiater auf Betreiben Harks und der anderen Phelan-Anwälte ihr achtseitiges Gutachten abgefaßt und mit einer eidesstattlichen Versicherung unterzeichnet. Nate forderte Zadel nunmehr auf, es der Protokollbeamtin des Gerichts vorzulesen.
»Haben Sie irgendeinen Grund, von einer der in diesem Gutachten enthaltenen Ansichten abzurücken?« fragte Nate.
»Nein«, sagte Zadel mit einem Blick auf Hark.
»Heute ist der vierundzwanzigste Februar: Ihre Begutachtung Mr. Phelans liegt also über zwei Monate zurück. Sind Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Ansicht, dass sein damaliger Geisteszustand die Abfassung eines gültigen Testaments zuließ?«
»Allerdings«, sagte Zadel und lächelte Hark an.
Flowe und Theishen lächelten ebenfalls; es schien beide aufrichtig zu freuen, den Anwälten, die sie zuerst beauftragt und ihnen dann den Auftrag wieder entzogen hatten, Schwierigkeiten machen zu können. Nate zeigte einem nach dem anderen das Videoband, stellte jedem dieselben Fragen und bekam dieselben Antworten. Jeder verlas das gemeinsam abgefasste Gutachten für das Protokoll. Am Montag Nachmittag um vier wurde die Befragung vertagt.
Pünktlich um halb neun am nächsten Morgen wurde Snead in den Raum geführt und auf den Ehrenplatz gesetzt. Zu seinem braunen Anzug trug er eine Fliege, die ihm eine unverdiente intellektuelle Note verlieh. Die Anwälte hatten große Sorgfalt auf die Auswahl seiner Kleidung verwendet. Sie hatten den Armen wochenlang programmiert und auf seine Rolle festgelegt, bis er selbst daran zweifelte, ob er auch nur ein einziges spontanes oder ehrliches Wort herausbringen würde. Jede Silbe musste sitzen. Er musste Zuversicht außtrahlen, durfte aber zugleich nicht im entferntesten den Verdacht erwecken, überheblich zu sein. Er und er allein bestimmte, was als zutreffend zu gelten hatte, und daher war von grundlegender Bedeutung, dass alles, was er sagte, glaubwürdig
war.
Josh kannte Snead seit vielen Jahren. Oft hatte Mr. Phelan davon gesprochen, dass er sein Faktotum loswerden wollte. Lediglich in einem einzigen der elf Testamente, die Josh für Troy Phelan ausgearbeitet hatte, war der Name Malcolm Snead aufgetaucht. Darin war ihm eine Million Dollar zugedacht gewesen, doch hatte ein Monate später abgefasstes neues Testament diese Zuwendung rückgängig gemacht. Mr. Phelan hatte seinen Namen gestrichen, weil Snead sich erkundigt hatte, mit wie viel Geld er nach seinem Ableben rechnen dürfe.
Snead war für den Geschmack seines Arbeitgebers zu sehr hinter dem Geld her gewesen. Dass sein Name auf der Zeugenliste derjenigen stand, die das Testament anfochten, konnte nur einen Grund haben - Geld. Er wurde für seine Außage bezahlt, und das wusste Josh. Zwei Wochen der Beschattung durch einen Privatdetektiv hatten ergeben, dass sich Snead einen neuen Range Rover zugelegt, eine Flugreise nach Rom in der ersten Klasse gegönnt und eine Wohnung in einem Gebäude gemietet hatte, in dem die Mieten bei achtzehnhundert Dollar pro Monat begannen.
Snead saß vor der Videokamera und fühlte sich einigermaßen sicher. Er hatte den Eindruck, ein volles Jahr lang nichts anderes getan zu haben, als in eine Videokamera zu blicken. Den ganzen Samstag und den halben Sonntag war er in Harks Kanzlei noch einmal auf Herz und Nieren geprüft worden. Er hatte sich die Videoaufnahmen seiner Aussagen stundenlang angesehen und Dutzende von Seiten erdachter Ereignisse aus den letzten Tagen von Troy Phelans Leben zu Papier gebracht. Außerdem hatte er mit der hirnlosen Puppe Nicolette geprobt.
Snead war bereit. Die Anwälte hatten vorausgesehen, dass man ihn fragen würde, ob Geld im Spiel sei, und ihn angewiesen, zu lügen, wenn man ihn fragte, ob er für seine Aussagen bezahlt werde. So einfach war das. Es gab keine andere Möglichkeit. Snead musste bestreiten, die halbe Million bekommen zu haben, die er bereits hatte, wie auch, dass er im Falle eines günstigen Ausgangs weitere viereinhalb Millionen Dollar bekommen würde. Er musste die Existenz des zwischen ihm und den Anwälten geschlossenen Vertrags bestreiten. Da er über Mr. Phelan log, konnte er sicher auch über das Geld lügen.
Nate stellte sich vor und fragte dann mit lauter Stimme: »Mr. Snead, wie viel Geld bekommen Sie für Ihre Au-
ßage?«
Sneads Anwälte hatten mit der Frage gerechnet: »Bekommen Sie Geld für Ihre Außage?« Die mit Snead einstudierte Antwort darauf lautete: »Nein, natürlich nicht!« Aber auf die Frage, die jetzt noch im Räume hing, fiel ihm keine rasche Antwort ein. Er zögerte und schien lautlos zu keuchen, während er verzweifelt zu Hark hinübersah, der wie versteinert und mit starrem Blick dasaß.
Man hatte Snead darauf hingewiesen, dass sich Mr. O'Riley gründlich vorbereiten und den Anschein erwecken würde, schon alles zu wissen, bevor er seine Fragen stellte. In den langen, qualvollen Sekunden, die auf diese erste Frage folgten, sah er Snead mit gerunzelten Brauen und zur Seite geneigtem Kopf an, wobei er einige Blätter hob.
»Na hören Sie, Mr. Snead, ich weiß doch, dass Sie Geld bekommen. Wie viel ist es?«
Snead knackte mit den Fingerknöcheln, als wolle er sie durchbrechen. Schweißperlen standen in den Falten seiner Stirn. »Hm, äh, ich bekomme kein -«
»Ach was, Mr. Snead. Haben Sie im vergangenen Monat einen neuen Range Rover gekauft oder nicht?«
»Nun ja, ehrlich gesagt -«
»Eine Dreizimmerwohnung in Palm Court gemietet?«
»Ja.«
»Und Sie sind doch auch erst kürzlich von einer zehntägigen Flugreise nach Rom zurückgekehrt. Das stimmt doch?«
»Ja.«
Er wusste alles! Die Phelan-Anwälte sanken auf ihren Sitzen in sich zusammen, duckten sich, als könnten sie so den Querschlägern von Nates Fragen ausweichen.
»Wie viel zahlt man Ihnen?« fragte Nate wütend. »Vergessen Sie nicht, dass Sie unter Eid stehen.« »Fünfhunderttausend Dollar«, platzte Snead heraus. Nate sah ihn ungläubig an. Selbst die Protokollbeamtin erstarrte.
Zwei der Phelan-Anwälten gelang es, leicht auszuatmen. So entsetzlich der Augenblick war, es hätte viel schlimmer kommen können. Was, wenn Snead noch mehr in Panik geraten wäre und die vollen fünf Millionen zugegeben hätte?
Aber das war nur ein schwacher Trost. Im Augenblick sah es ganz so aus, als sei ihre Sache damit, dass sie dem Zeugen eine halbe Million Dollar gezahlt hatten, zum Scheitern verurteilt.
Nate suchte in seinen Papieren herum, als brauche er ein bestimmtes Blatt. Die Worte klangen noch in den Ohren aller im Raum Anwesenden nach.
»Vermutlich haben Sie das Geld bereits bekommen?« fragte er.
Unsicher, ob er lügen oder bei der Wahrheit bleiben sollte, sagte Snead: »Ja.«
Einer Eingebung folgend, fragte Nate ihn: »Eine halbe Million gleich. Und wie viel soll es später geben?«
Darauf bedacht, die einstudierten Lügen abzuspulen, sagte Snead: »Nichts.« Das wirkte beiläufig und glaubwürdig. Auch die beiden anderen Phelan-Anwälte atmeten auf.
»Sind Sie sich da auch ganz sicher?« fragte Nate aufs Geratewohl. Wenn ihm danach gewesen wäre, hätte er Snead auch fragen können, ob man ihn je wegen Grabräuberei verurteilt hätte.
Es war ein Spiel, bei dem es darum ging, wer zuerst die Nerven verlor, und Snead hielt stand. »Natürlich bin ich sicher«, sagte er mit gerade genug Empörung in der Stimme, um glaubwürdig zu wirken.
»Wer hat Ihnen das Geld gezahlt?«
»Die Anwälte der Familie Phelan.«
»Und wer hat den Scheck unterschrieben?«
»Es war ein bestätigter Bankscheck.«
»Haben Sie verlangt, dass man Sie für Ihre Außage bezahlt?«
»Ich denke, das kann man so sagen.«
»Sind Sie zu den Anwälten gegangen, oder sind die an Sie herangetreten?«
»Ich bin zu ihnen gegangen.«
»Und warum?«
Endlich schien das Gespräch in die gewünschte Richtung zu laufen. Die Phelan-Anwälte entspannten sich und begannen, sich Notizen zu machen.
Snead schlug unter dem Tisch die Beine übereinander und runzelte die Stirn. »Weil ich bei Mr. Phelan war, bevor er starb, und wusste, dass der Arme den Ve rstand verloren hatte.«
»Seit wann?«
»Den ganzen Tag.«
»Das heißt, als er morgens wach wurde, war er verrückt?«
»Als ich ihm das Frühstück gebracht habe, wusste er meinen Namen nicht.«
»Was hat er zu Ihnen gesagt?«
»Nichts. Er hat nur geknurrt.«
Nate stützte die Ellbogen auf und achtete nicht weiter auf die um ihn herum verstreuten Papiere. Dieser Zweikampf begann ihm Freude zu machen. Er wusste, worauf er hinauswollte, der arme Snead aber nicht.
»Haben Sie gesehen, wie er gesprungen ist?«
»Ja.«
»Und wie er gefallen ist?«
»Ja.«
»Und wie er unten aufgeschlagen ist?«
»Ja.«
»Haben Sie in seiner Nähe gestanden, als ihn die drei Psychiater befragten?«
»Ja.«
»Das war gegen halb drei am Nachmittag, nicht wahr?«
»Ja, soweit ich mich erinnern kann.«
»Und er war den ganzen Tag schon verrückt gewesen, nicht wahr?«
»Ich bedaure, das sagen zu müssen, ja.«
»Wie lange haben Sie für Mr. Phelan gearbeitet?«
»Dreißig Jahre.«
»Und Sie wussten alles über ihn, nicht wahr?«
» So viel, wie man über einen anderen Menschen wissen kann.«
»Dann kennen Sie auch seinen Anwalt, Mr. Stafford?«
»Ja. Ich habe ihn oft gesehen.«
»Hat Mr. Phelan ihm vertraut?«
»Ich denke schon.« ,
»Ich dachte, Sie wüssten alles?«
»Ich bin sicher, dass er Mr. Stafford vertraut hat.«
»Hat Mr. Stafford während der Befragung durch die Psychiater neben ihm gesessen?«
»Ja.«
»Wie würden Sie Mr. Phelans Geisteszustand während dieser Befragung einschätzen?«
»Er war nicht bei klarem Verstand, wusste weder, wo er war, noch, was er tat.«
»Sind Sie sich dessen sicher?«
»Ja.«
»Wem haben Sie das gesagt?«
»Es war nicht meine Aufgabe, es jemandem zu sagen.«
»Warum nicht?«
»Man hätte mir gekündigt. Es gehörte zu meiner Aufgabe, den Mund zu halten. Man nennt das Diskretion.«
»Sie wussten aber, dass Mr. Phelan im Begriff stand, ein Testament zu unterschreiben, in dem er sein gewaltiges Vermögen aufteilte. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt nicht bei klarem Verstand war, haben Sie seinem Anwalt, einen Mann, dem er vertraute, nichts davon gesagt?«
»Das war nicht meine Aufgabe.« ,
»Mr. Phelan hätte Sie auf die Straße gesetzt?«
»Sofort.«
»Und nachdem er gesprungen war? Wem haben Sie es danach gesagt?«
»Niemandem.«
»Warum nicht?«
Snead holte Luft und schlug erneut die Beine übereinander. Seiner Ansicht nach lief die Sache nicht schlecht.
»Es war eine Privatangelegenheit«, sagte er ernst. »Ich habe meine Beziehung zu Mr. Phelan als vertraulich betrachtet.«
»Bis jetzt. Bis man Ihnen eine halbe Million Dollar angeboten hat, nicht wahr?«
Snead fiel keine rasche Antwort ein, und Nate gab ihm auch keine Gelegenheit, sich eine zu überlegen. »Sie verkaufen also nicht nur Ihre Außage, sondern auch Ihre vertrauliche Beziehung zu Mr. Phelan, nicht wahr, Mr. Snead?«
»Ich versuche, ein Unrecht wieder gut zumachen.«
»Wie edelmütig. Würden Sie das auch tun, wenn man Sie nicht dafür bezahlte?«
Snead brachte ein zittriges »Ja« heraus, und Nate stimmte ein lautes und langgezogenes Gelächter an. Dabei sah er zu den Phelan-Anwälten hinüber, die sich bemühten, ernsthafte Gesichter zu machen, soweit sie sie nicht versteckten. Er lachte Snead ins Gesicht, stand auf und trat ans Ende des Tisches. »Was für eine Scharade«, sagte er und setzte sich wieder.
Er warf einen Blick auf seine Notizen und fuhr dann fort: »Mr. Phelan ist am neunten Dezember gestorben. Sein Testament wurde am siebenundzwanzigsten desselben Monats eröffnet. Haben Sie in der Zwischenzeit jemandem anvertraut, dass er nicht bei klarem Verstand war, als er das Testament unterschrieb?«
»Nein.«
»Natürlich nicht. Sie haben gewartet, bis es eröffnet war, und als Sie merkten, dass Sie daraus gestrichen worden waren, haben Sie sich entschlossen, die Anwälte aufzusuchen und mit ihnen ein Abkommen zu treffen. So ist es doch, Mr. Snead?«
Der Zeuge antwortete zwar »Nein«, aber Nate achtete nicht darauf.
»War Mr. Phelan geisteskrank?«
»Ich bin kein Fachmann auf diesem Gebiet.«
»Sie haben gesagt, dass er nicht bei klarem Verstand war. War das ein Dauerzustand bei ihm?«
»Es kam und ging.«
»Und wie lange kam und ging das schon so?«
»Seit Jahren.«
»Seit wie vielen Jahren?«
»Vielleicht zehn. Das ist aber nur eine Vermutung.«
»In den letzten vierzehn Jahren seines Lebens hat Mr. Phelan elf Testamente abgefasst und Ihnen in einem davon eine Million Dollar hinterlassen. Haben Sie damals erwogen, jemandem mitzuteilen, er sei bei dieser Gelegenheit nicht bei klarem Verstand gewesen?«
»Das war nicht meine Aufgabe.«
»Hat er je einen Psychiater aufgesucht?«
»Meines Wissens nicht.«
»Hat er je irgend jemanden aufgesucht, der ihn auf seinen Geisteszustand untersucht hat?«
»Meines Wissens nicht.«
»Haben Sie ihm je empfohlen, einen solchen Fachmann aufzusuchen?«
»Es war nicht meine Aufgabe, ihm derlei mitzuteilen.«
»Falls Sie ihn nach einem Schlaganfall auf dem Fußboden liegend gefunden hätten - wären Sie dann hingegangen und hätten jemandem gesagt, dass er Hilfe brauchen könnte?«
»Natürlich.«
»Und wenn Sie gesehen hätten, dass er Blut hustet, hätten Sie dann jemandem etwas gesagt?«
»Ja.«
Nate hatte einen fünf Zentimeter dicken Aktenstapel mit Einzelheiten über Mr. Phelans Industriebeteiligungen vor sich liegen.
Er schlug aufs Geratewohl eine Seite auf und fragte Snead, ob er etwas über die Firma Xion Drilling wisse.
Snead gab sich größte Mühe, seinem Gedächtnis den Namen zu entlocken, doch war in jüngster Zeit so viel Neues auf ihn eingestürmt, dass es ihm nicht gelang. Delstar Communications? Wieder verzog Snead das Gesicht; er konnte nichts darüber sagen.
Das fünfte Unternehmen, das Nate nannte, kam ihm bekannt vor. Stolz teilte Snead dem Anwalt mit, dass er die Firma kenne. Mr. Phelan habe sie ziemlich lange besessen. Nate stellte Fragen über Umsatz, Erzeugnisse, Besitzverhältnisse, Erträge, eine endlose Liste von Einzelheiten. Snead gab keine einzige richtige Antwort.
»Wie viel wussten Sie über Mr. Phelans Industriebeteiligungen?« fragte Nate mehrfach. Dann stellte er Fragen über den Aufbau des Phelan-Konzerns. Snead hatte sich zwar die großen Zusammenhänge eingeprägt, Einzelheiten aber waren ihm nicht geläufig. Er konnte den Namen keines einzigen Mitarbeiters der mittleren Führungsebene nennen und kannte auch die Steuerberater des Unternehmens nicht.
Nate bombardierte ihn mitleidlos mit Fragen, auf die er keine Antwort wusste. Als Snead am Spätnachmittag erschöpft und benommen war, sagte Nate unmittelbar nach der tausendsten Frage über das Finanzwesen der Phelan-Gruppe ohne Vorankündigung: »Haben Sie eigentlich mit den Anwälten einen Vertrag unterzeichnet, als
Sie die halbe Million genommen haben?«
Ein schlichtes »Nein« hätte als Antwort genügt, aber Snead war überrascht worden. Er zögerte, sah zu Hark und dann zu Nate hin, der erneut in Papieren blätterte, als hätte er eine Kopie des Vertrags vor sich. Zwei Stunden lang hatte Snead nicht einmal gelogen, und so antwortete er nicht rasch genug.
»Äh, natürlich nicht«, stotterte er, überzeugte aber niemanden.
Nate erkannte zwar, dass er die Unwahrheit sagte, ließ die Sache aber auf sich beruhen. Es gab andere Möglichkeiten, ein Exemplar des Vertrags in die Hände zu bekommen.
Anschließend trafen sich die Phelan-Anwälte in einer dunklen Bar, um ihre Wunden zu lecken. Nach zwei Runden starker Drinks schien ihnen Sneads katastrophales Abschneiden noch schrecklicher als zuvor. Zwar konnte man ihn für die Fortsetzung der Befragung noch ein wenig trainieren, aber die bloße Tatsache, dass man ihm so viel gezahlt hatte, würde entwerten, was auch immer er sagte.
Woher hatte O'Riley das nur gewusst? Er war so sicher gewesen, dass Snead bezahlt worden war.
»Das muss Grit gewesen sein«, sagte Hark. Grit, wiederholte jeder für sich. Bestimmt war Grit zur Gegenseite übergelaufen.
»Das kommt davon, wenn man jemandem die Mandanten abspenstig macht«, sagte Wally Bright nach langem Schweigen.
»Halten Sie den Mund«, sagte Ms. Langhorne.
Hark war zu müde zum Kämpfen. Er leerte sein Glas und bestellte ein weiteres. Über all den Aussagen hatten die anderen Phelan-Anwälte gar nicht mehr an Rachel gedacht. In den Unterlagen des Gerichts gab es nach wie vor keine amtliche Bestätigung ihrer Existenz.