Es ging lediglich um die Verlesung eines Testaments, aber die Einzelheiten waren von entscheidender Bedeutung. Der Richter F. Parr Wycliff hatte während der Weihnachtstage kaum an etwas anderes gedacht. Jeder Platz im Gericht würde besetzt sein, und diejenigen, die keinen Sitzplatz bekommen hatten, würden in mehreren Reihen an den Wänden stehen. So sehr hatte ihn die Angelegenheit beschäftigt, dass er am Tag nach Weihnachten den leeren Gerichtssaal aufgesucht und überlegt hatte, wohin er jeden einzelnen setzen würde.
Wie nicht anders zu erwarten, waren die Medien nicht zu bändigen. Man wollte mit im Gang aufgestellten Kameras durch die kleinen, viereckigen Fensterchen in den Türen Aufnahmen machen, doch das hatte er abgelehnt. Die Leute wollten Plätze in den vordersten Reihen, und wieder hatte die Antwort »Nein« gelautet. Man wollte Interviews mit ihm, doch zumindest im Augenblick war er dazu nicht bereit.
Auch die Anwälte tauchten auf. Die einen bestanden darauf, die Öffentlichkeit samt und sonders auszuschließen, andere wollten aus leicht zu begreifenden Gründen, dass das Fernsehen die Testamentseröffnung aufzeichnete. Man stellte Forderungen, meldete Wünsche an, machte Anregungen: Wer in den Gerichtssaal durfte und wer nicht, wo sie sitzen sollten und wo nicht und dergleichen. Einige der Anwälte regten sogar an, ihnen solle gestattet werden, das Testament zu öffnen und zu lesen. Da es sich um ein sehr umfangreiches Schriftstück handele, könne es sich ohne weiteres als nötig erweisen, die eine oder andere komplizierte Bestimmung während des Verlesens zu erläutern.
Wycliff kam schon früh ins Gericht. Gefolgt von seiner Sekretärin, der Protokollbeamtin und den von ihm angeforderten zusätzlichen Polizeibeamten ging er im Gerichtssaal umher und wies Plätze an, zählte die Stühle und probierte die Lautsprecheranlage aus. Er legte Wert darauf, dass alle Einzelheiten stimmten. Als jemand sagte, ein Fernsehteam versuche sich im Eingangsbereich festzusetzen, schickte er rasch einen Polizeibeamten hin, der das Gebäude räumen sollte.
Nachdem im Saal alles bereit war, kehrte er in sein Dienstzimmer zurück, um sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Nie wieder würde ein so aufregender Programmpunkt auf seinem Terminplan stehen. Nicht ganz uneigennützig hoffte er, Troys Testament werde heftig umstritten sein und beispielsweise einer seiner früheren Frauen und ihren Kindern alles Geld zu Lasten einer anderen zusprechen. Oder vielleicht enthielt er seinen verrückten Kindern alles vor und machte jemand anders reich. Eine sich lange hinziehende Anfechtungsklage, bei der man ausgiebig schmutzige Wäsche wusch, würde Wycliffs eher beschauliches Dasein am Nachlassgericht mit Sicherheit interessanter machen. Er stünde im Mittelpunkt der ganzen Auseinandersetzung, bis zu deren Ende zweifellos Jahre ins Land gehen würden, denn immerhin standen elf Milliarden auf dem Spiel.
Er war sicher, dass das Testament angefochten würde. Hinter verschlossener Tür bügelte er in seinem Amtszimmer eine volle Viertelstunde lang seine Robe.
Kurz nach acht traf der erste Zuschauer ein. Es war ein Reporter, und weil er der erste war, unterzogen ihn die nervösen Sicherheitsleute, die an der Doppeltür zum Gerichtssaal Aufstellung genommen hatten, einer besonders gründlichen Behandlung. Sie begrüßten ihn mürrisch, verlangten seinen Presseausweis. Dann musste er sich in eine für Medienvertreter vorgesehene Liste eintragen, und sie untersuchten seinen Stenoblock, als wäre es eine Handgranate. Als er durch die Sicherheitsschleuse ging, waren die beiden Wachmänner offenbar enttäuscht, dass der Metalldetektor nicht Alarm gab. Der Mann war dankbar, dass er keine vollständige Leibesvisitation über sich ergehen lassen musste. Im Gerichtssaal führte ein weiterer Uniformierter ihn durch den Mittelgang an einen Platz in der dritten Reihe. Erleichtert setzte er sich. Der Saal war noch leer.
Die Testamentseröffnung war für zehn Uhr angesetzt, doch hatte sich im Vorraum bereits um neun eine beträchtliche Menschenmenge angesammelt. Die Leute standen im Gang Schlange, denn die Sicherheitsleute ließen sich Zeit mit der Durchsuchung und der Sichtung der Papiere.
Einige der Anwälte der Phelan-Erben stürmten herbei und waren verärgert, dass man sie nicht sofort in den Saal ließ. Harte Worte fielen von beiden Seiten, Anwälte und Polizeibeamte stießen Drohungen aus. Jemand schickte nach Wycliff, doch dieser polierte gerade seine Schuhe auf Hochglanz und dachte nicht daran, sich stören zu lassen. Außerdem wollte er, ganz wie eine Braut bei der Hochzeit, nicht vor seinem großen Auftritt gesehen werden. Nach einer Weile gingen die Sicherheitskräfte dazu über, die Erben und ihre Anwälte mit Vorrang zu behandeln, was die Situation ein wenig entspannte.
Allmählich füllte sich der Saal. Tische wurden in Hufeisenform vor dem Richtertisch aufgestellt. Auf diese Weise würde Wycliff von seinem Platz aus alle sehen können: Anwälte, Erben und Zuschauer. Die Mitglieder der Familie Phelan kamen an einen langen Tisch links vom Richtertisch, unmittelbar vor der Geschworenenbank.
Troy Junior kam als erster. Er und Biff wurden in unmittelbare Nähe des Richters gesetzt, wo sie mit dreien ihrer Anwälte Platz nahmen und sich große Mühe gaben, einen feierlichen Eindruck zu machen und zugleich niemanden sonst im Saal zur Kenntnis zu nehmen. Biff war wütend, weil die Wachmänner ihr Mobiltelefon konfisziert hatten. Jetzt konnte sie keine Anrufe in Immobilienangelegenheiten vornehmen.
Als nächster kam Ramble. Auch dieser Anlass hatte ihn nicht dazu bewegen können, sein Haar, das zwei Wochen lang nicht gewaschen worden war und immer noch Spuren von Limetten-grün aufwies, in Fasson zu bringen. Überall hatte er Ringe, an Ohren, Nase und Augenbrauen. Er trug zerfetzte Jeans, alte Stiefel und eine schwarze Lederweste. Seine dürren Arme waren voller Abziehbild-Tätowierungen. Außerdem war er mürrisch.
Auf seinem Weg durch den Mittelgang erregte er die Aufmerksamkeit der Journalisten. Sein Anwalt Yancy, der alternde Hippie, der es irgendwie geschafft hatte, seinen kostbaren Mandanten zu behalten, war auf Schritt und Tritt wie eine Glucke um ihn.
Nach einem kurzen Blick auf die Sitzordnung verlangte Yancy, so weit wie möglich von Troy Junior entfernt gesetzt zu werden. Der Polizeibeamte tat ihm den Gefallen und brachte ihn und Ramble am Ende eines herangeschobenen Tisches gegenüber dem Richtertisch unter. Ramble lümmelte sich so auf seinen Stuhl, dass das grüne Haar über die Lehne hing. Die Zuschauer waren entsetzt - dieser Kerl sollte eine halbe Milliarde Dollar erben?
Gar nicht auszudenken, was für Unfug er damit anrichten könnte.
Als nächste kam Geena Phelan Strong mit ihrem Mann Cody und zweien der von ihnen beschäftigten Anwälte. Sie sahen, dass Troy Junior und Ramble weit voneinander entfernt saßen, und suchten sich einen Platz so weit wie mö glich von beiden. Cody, der besonders ernst und bedrückt wirkte, machte sich sogleich daran, mit einem seiner Anwälte einige wichtige Papiere durchzugehen. Geena glotzte unverhohlen zu Ramble hinüber; sie konnte einfach nicht glauben, dass das ihr Halbbruder sein sollte.
Die Stripperin Amber hatte einen großen Auftritt in einem kurzen Rock und einer Bluse, die so tief ausgeschnitten war, dass ihre beachtlichen Brüste fast vollständig frei lagen. Der Polizeibeamte, der sie durch den Mittelgang geleitete, konnte sein Glück nicht fassen. Er redete unaufhörlich mit ihr, ohne den Blick vom Rand ihrer Bluse zu nehmen. Rex folgte in einem dunklen Anzug, eine prallgefüllte Aktentasche in der Hand, als hätte er heute ernste Dinge zu erledigen. Ihm folgte Hark Gettys, nach wie vor der lauteste Anwalt von allen. Er brachte zwei seiner neuen Kollegen mit; seine Kanzlei wurde wöchentlich größer. Da Amber und Biff nicht miteinander sprachen, schritt Rex ein und wies auf eine Stelle zwischen Ramble und Geena.
Allmählich wurde der freie Platz an den Tischen knapper. Es würde nicht mehr lange dauern, bis einige der Phelans einander nicht mehr ausweichen konnten.
Rambles Mutter, Tira, brachte zwei etwa gleichaltrige junge Männer mit. Der eine trug eine enganliegende Jeans und gönnte allen einen Blick auf seine behaarte Brust, der andere war gepflegt und kam im Nadelstreifenanzug. Mit dem Gigolo ging sie ins Bett, der Anwalt würde seinen Lohn später bekommen.
Eine weitere Lücke füllte sich. Klatsch und Spekulationen flogen im Zuschauerraum hin und her. »Kein Wunder, dass der Alte vom Balkon gesprungen ist«, sagte ein Reporter beim Anblick der Familienmitglieder des Phelan-Clans zu einem anderen.
Die Enkel mussten beim gemeinen Volk im Saal Platz nehmen. Mit ihrem Gefolge und ihren Anhängern bildeten sie kleine Grüppchen und kicherten nervös, während sie darauf warteten, dass sich die Waagschale der Göttin Fortuna ihnen zuneigte.
Libbigail Jeter kam mit ihrem Mann Spike, dem ehemaligen Motorradfahrer, der nach wie vor gut hundertvierzig Kilo wog. Während sie hinter ihrem Anwalt Wally Bright durch den Mittelgang watschelten, wirkten sie denkbar fehl am Platz, obwohl sie weiß Gott oft genug einen Gerichtssaal von innen gesehen hatten. Wally, den sie im Branchenverzeichnis gefunden hatten, trug einen fleckigen Regenmantel, der auf dem Boden schleifte, ein Hemd mit abgestoßenen Kragenecken und einen zwanzig Jahre alten Polyesterschlips. Aus einer Abstimmung im Zuschauerraum über den am schäbigsten gekleideten Anwalt wäre er mit weitem Abstand als Sieger hervorgegangen. Seine Papiere trug er in einem Ziehharmonika-Ordner, der ihm vor Gericht schon bei zahllosen Ehescheidungen und anderen Fällen gedient hatte. Aus irgendeinem Grund hatte er sich nie einen Aktenkoffer gekauft. Zielsicher strebten sie der größten Lücke zu und nahmen Platz. Dann machte sich Wally Bright geräuschvoll daran, seinen Regenmantel auszuziehen, wobei dessen zerfetzter Saum den Hals eines von Harks namenlosen jungen Anwälten streifte. Angewidert wich der ernsthaft wirkende junge Mann vor Brights Körpergeruch zurück.
»Passen Sie doch gefälligst auf!« sagte er scharf, während er mit dem Handrücken nach Bright schlug und ihn verfehlte. Die Worte knisterten in der angespannten Atmosphäre. Köpfe hoben sich von wichtigen Dokumenten auf den Tischen und fuhren herum. Jeder verabscheute jeden.
»Tut mir leid«, erwiderte Bright mit unverhohlenem Sarkasmus. Zwei Polizeibeamte schoben sich näher, um erforderlichenfalls einzugreifen. Aber der Regenmantel fand ohne weiteren Zwischenfall einen Platz unter dem Tisch, und schließlich gelang es Bright auch, sich neben Libbigail zu setzen, an deren anderer Seite Spike saß, sich den Bart strich und Troy Junior einen Blick zuwarf, als hätte er ihn am liebsten geohrfeigt.
Kaum jemand unter den Anwesenden nahm an, das sei das letzte Scharmützel unter den Phelans.
Wer bei seinem Tod elf Milliarden hinterlässt, darf damit rechnen, dass man sich für sein Testament interessiert, vor allem, wenn es so aussieht, als werde eins der bedeutendsten Vermögen auf der Welt den Geiern in den Rachen gestopft. So war es kein Wunder, dass außer den Massenblättern und den örtlichen Zeitungen auch alle wichtigen Finanzzeitschriften vertreten waren. Die drei Stuhlreihen, die Wycliff für die Presse reserviert hatte, waren um halb zehn gefüllt. Die Journalisten genossen es offensichtlich zu beobachten, wie sich die Mitglieder der Familie Phelan vor ihren Augen versammelten. Fieberhaft strichelten drei Pressezeichner; was sie sahen, bot ihnen reichlich Material. Der grünhaarige Punker wurde häufiger skizziert, als er es verdient hatte.
Um zehn vor zehn erschien Josh Stafford, von Tip Durban, zwei weiteren Anwälten aus seiner Kanzlei und einigen Anwaltsgehilfen begleitet. Mit würdiger Miene nahmen sie ihre reservierten Plätze ein. Verglichen mit der drangvollen Enge, die an den Tischen der Phelans und ihrer Anwälte herrschte, ging es bei ihnen großzügig zu. Josh legte eine einzige dicke Akte vor sich, und sogleich richteten sich die Augen aller darauf. Sie schien einen Schriftsatz von fast fünf Zentimetern Stärke zu enthalten, sehr ähnlich dem, den Troy vor den Videokameras unterzeichnet hatte. Das lag gerade neunzehn Tage zurück.
Außer Ramble sahen alle unwillkürlich hin. Den Gesetzen des Staates Virginia zufolge waren Zahlungen an
Erben frühzeitig möglich, sofern der Nachlass liquide war und keinerlei Bedenken wegen Steuerrückständen und zu begleichenden Schulden bestanden. Die Schätzungen der Phelan-Anwälte reichten von mindestens zehn Millionen pro Erben bis hin zu den von Bright vermuteten fünfzig Millionen. Er selbst hatte in seinem Leben noch nie auch nur fünfzigtausend Dollar gesehen. Das mochte damit zu tun haben, dass er an der Abendschule für Juristen beim Abschluss seines Jahrgangs lediglich auf dem zehnten Platz gelandet war.
Um zehn Uhr wurden die Türen verschlossen, und wie auf ein Stichwort hin tauchte Wycliff in einer Wandöffnung hinter dem Richtertisch auf. Schlagartig herrschte im Raum Schweigen. Der Richter setzte sich, wobei er seine frisch gebügelte Robe um sich ausbreitete. Mit einem Lächeln sagte er »Guten Morgen« in das Mikrophon, das vor ihm stand.
Alle erwiderten sein Lächeln. Mit großer Befriedigung stellte er fest, dass der Raum bis an die Grenzen seines Fassungsvermögens gefüllt war. Ein rascher Blick zeigte ihm, dass insgesamt acht bewaffnete Polizeibeamte bereitstanden. Er sah zu den Phelan-Familien hinüber: An ihren Tischen gab es nicht die kleinste Lücke. Manche ihrer Anwälte saßen praktisch auf Tuchfühlung nebeneinander.
»Sind alle Parteien anwesend?« fragte er. An den Tischen wurde heftig genickt.
»Ich muss jeden einzelnen identifizieren«, sagte er und griff nach seinen Unterlagen. »Den ersten Antrag hat Rex Phelan eingereicht.« Bevor er ausgesprochen hatte, erhob sich Hark Gettys.
»Euer Ehren, ich bin Hark Gettys«, sagte er mit laut tönender Stimme zum Richtertisch hinüber, nachdem er sich geräuspert hatte. »Ich vertrete Mr. Rex Phelan.«
»Vielen Dank. Sie können sitzen bleiben.«
Er nahm sich Tisch für Tisch vor und notierte die Namen der Erben wie auch die ihrer Anwälte, aller Anwälte.
Die Reporter schrieben so rasch mit wie der Richter. Insgesamt sechs Erben, drei ehemalige Gattinnen. Alle waren anwesend.
»Zweiundzwanzig Anwälte«, murmelte Wycliff vor sich hin.
»Haben Sie das Testament, Mr. Stafford?« fragte er.
Josh erhob sich mit einer anderen Akte in der Hand. »Ja.«
»Würden Sie bitte den Zeugenstand aufsuchen?«
Josh ging um die Tische und an der Protokollbeamtin vorbei zum Zeugenstand, wo er die rechte Hand hob und schwor, die Wahrheit zu sagen.
»Sie haben Troy Phelan vertreten?« fragte Wycliff.
»Ja. Über mehrere Jahre.«
»Haben Sie für ihn ein Testament erstellt?«
»Mehrere.«
»Haben Sie auch sein letztes Testament erstellt?«
Eine Pause trat ein, und je länger sie wurde, desto näher reckten sich die Hälse der Phelans dem Zeugenstand entgegen.
»Nein, das letzte nicht«, sagte Josh langsam und sah die Geier an. Seine leisen Worte verbreiteten sich im Saal wie Donnerhall. Die Anwälte reagierten deutlich schneller als die Erben, von denen mehrere nicht so recht wussten, was diese Außage zu bedeuten hatte. Auf jeden Fall war sie schwerwiegend und unerwartet. Spannung lag erkennbar über den Tischen. Es wurde noch leiser im Gerichtssaal.
»Wer hat das letzte Testament erstellt?« fragte Wycliff wie ein Schmierenkomödiant, der seinen Part abliest.
»Mr. Phelan selbst.«
Das konnte nicht stimmen. Die Erben hatten mit eigenen Augen gesehen, wie der Alte, von seinen Anwälten flankiert, den drei Psychiatern - Zadel, Flowe und Theishen - gegenüber am Tisch gesessen hatte. Sekunden nach der Bestätigung seiner Zurechnungsfähigkeit durch diese hatte er ein von Stafford und einem seiner Mitarbeiter ausgearbeitetes dickes Testament ergriffen, erklärt, dass es sich um seinen Letzten Willen handele, und es unterschrieben.
Das war nicht zu bestreiten.
» Großer Gott«, sagte Hark Gettys. Obwohl er flüsterte, konnte es jeder hören.
»Wann hat er es unterzeichnet?« fragte Wycliff.
»Wenige Augenblicke bevor er über das Geländer gesprungen ist.«
»Handelt es sich um ein eigenhändiges Testament?«
»Ja.«
»Hat er es in Ihrer Gegenwart unterzeichnet?«
»Ja. Es gibt auch weitere Zeugen. Außerdem ist der Akt auf Video festgehalten worden.«
»Bitte übergeben Sie mir das Testament.«
Betont langsam entnahm Josh dem Aktendeckel einen Umschlag und gab ihn dem Richter. Er wirkte schrecklich dünn. Auf keinen Fall war das Testament ausführlich genug, um all das zu enthalten, was den Phelans von Rechts wegen zustand.
»Was zum Teufel soll das sein?« zischte Troy Junior dem neben ihm sitzenden Anwalt zu, doch der konnte ihm darauf keine Antwort geben.
Der Umschlag enthielt ein einziges gelbes Blatt. Vor aller Augen zog Wycliff es langsam heraus, entfaltete es sorgfältig und betrachtete es einen Augenblick lang.
Panik überfiel die Phelans, aber sie waren ohnmächtig. Hatte der Alte sie ein letztes Mal reingelegt? Entglitt ihnen der Reichtum? Vielleicht hatte er es sich anders überlegt und ihnen sogar noch mehr zugesprochen? Um die Tische herum stießen sie mit dem Ellbogen ihre Anwälte an, die alle bemerkenswert still waren.
Der Richter räusperte sich und beugte sich noch ein wenig tiefer über das Mikrophon. »Ich habe hier ein aus einem Blatt bestehendes Dokument in der Hand, bei dem es sich dem Vernehmen nach um ein eigenhändiges Testament Troy Phelans handelt. Ich werde es jetzt verlesen:
>Letztwillige Verfügung von Troy L. Phelan. Ich, Troy L. Phelan, widerrufe hiermit im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte nachdrücklich jedes früher von mir abgefasste Testament sowie alle Nachträge dazu und verfüge über mein Vermögen wie folgt:
Meinen Kindern, Troy Phelan Jr., Rex Phelan, Libbigail Jeter, Mary ROSS Jackman, Geena Strong sowie Ramble Phelan, hinterlasse ich einen Geldbetrag, der ausreicht, ihre jeweiligen Schulden in der Höhe zu begleichen, die sie am heutigen Tag aufweisen. Nach dem heutigen Datum anfallende Schulden werden davon nicht gedeckt. Sollte einer der genannten Nachkommen den Versuch unternehmen, dies Testament anzufechten, entfällt das für ihn vorgesehene Geldgeschenk vollständige«
Selbst Ramble hörte das und verstand, was es bedeutete. Geena und Cody begannen lautlos zu weinen. Rex beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Sein Gehirn war vollständig leer. Libbigail sah an Bright vorbei zu Spike hinüber und sagte: »Der Schweinehund.« Spike stimmte ihr zu. Mary ROSS schlug die Hände vor die Augen, während ihr der Anwalt beruhigend das Knie tätschelte. Ihr Mann tätschelte das andere. Lediglich Troy Junior brachte es fertig, ein teilnahmsloses Gesicht zu machen, hielt es aber nicht lange durch.
Noch war das Schlimmste nicht vorüber. Wycliff war noch nicht fertig. »>Meine ehemaligen Ehefrauen Lillian, Janie und Tira bekommen nichts. Sie sind bei der Scheidung jeweils angemessen versorgt worden.<«
Bei diesen Worten fragten sich Lillian, Janie und Tira, was sie eigentlich im Gerichtssaal wollten. Hatten sie wirklich erwartet, dass ein Mann, den sie hassten, ihnen noch mehr Geld geben würde? Sie spürten die Blicke, die auf ihnen ruhten, und versuchten sich hinter ihren Anwälten zu verstecken.
Den Journalisten war regelrecht schwindlig. Sie wollten mitschreiben, befürchteten aber, ihnen könnte ein Wort entgehen. Manche konnten sich ein breites Grinsen nicht verkneifen.
»>Mein verbleibendes Vermögen hinterlasse ich meiner am 2. November 1954 im katholischen Krankenhaus von New Orleans, Louisiana, geborenen Tochter Rachel Lane. Ihre Mutter, eine Frau namens Evelyn Cunningham, ist zwischenzeitlich verstorben.<«
Der Richter ließ eine Pause eintreten, allerdings nicht, um die Wirkung der Worte zu steigern. Die Bombe war eingeschlagen. Jetzt blieben nur noch zwei kurze Absätze vorzulesen. Die elf Milliarden waren an eine uneheliche Erbin gegangen, von deren Existenz der Richter nichts gewusst hatte. Die Angehörigen der Familien Phelan, die vor ihm saßen, würden leer ausgehen. Er musste einfach zu ihnen hinsehen.
»>Zum Verwalter meines Nachlasses setze ich den Anwalt meines Vertrauens, Josh Stafford, ein und lasse ihm weitgehende Entscheidungsfreiheit in der Frage, wie er dabei vorgeht.<«
Bisher hatte keiner von ihnen an Josh gedacht, der wie ein unschuldiger Zuschauer bei einem Autounfall im Zeugenstand saß. Jetzt sahen sie ihn so hasserfüllt an, wie sie konnten. Wie viel hatte er gewusst? War er an der Verschwörung beteiligt? Zweifellos hätte er etwas unternehmen können, um das hier zu verhindern.
Josh gab sich große Mühe, keine Miene zu verziehen.
»>Es handelt sich um ein eigenhändiges Testament, das ich Wort für Wort selbst verfasst habe und nachstehend unterschreibe<«
Wycliff ließ das Blatt sinken und sagte: »Dies Testament hat Troy L. Phelan am 9. Dezember 1996 um drei Uhr nachmittags unterschrieben.«
Er legte es hin und sah sich im Gerichtssaal um, dem Epizentrum des Erdbebens. Gleich würden die Nachbeben einsetzen. Die Phelans saßen zusammengesunken da, manche rieben sich Stirn und Augen, andere sahen verzweifelt die Wände an. Noch brachte keiner der zweiundzwanzig Anwälte ein Wort heraus.
Die Schockwellen pflanzten sich durch die Zuschauerreihen fort, in denen man sonderbarerweise das eine oder andere Lächeln sah. Ach ja, wegen der Medienvertreter, die auf einmal kein anderes Ziel kannten, als den Raum möglichst rasch zu verlassen und ihre Berichte zu schreiben.
Amber schluchzte laut und fing sich dann. Sie grämte sich nicht um den Verlust eines geliebten Menschen. Sie war Troy lediglich ein einziges Mal begegnet, und bei dieser Gelegenheit hatte er einen unverblümten Annäherungsversuch unternommen. Geena weinte lautlos, Mary ROSS ebenfalls. Libbigail und Spike fluchten. »Keine Sorge«, sagte Bright und machte eine wegwerfende Handbewegung, als werde es ihn nur wenige Tage kosten, diese Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen.
Biff warf Troy Junior wütende Blicke zu, in denen die Drohung einer Scheidung lag. Seit dem Selbstmord seines Vaters hatte er sich ihr gegenüber besonders hochnäsig und herablassend verhalten. Sie hatte sich das aus nachvollziehbaren Gründen gefallen lassen, jetzt aber war Schluss. Sie freute sich schon auf den ersten Streit, der zweifellos beginnen würde, kaum dass sie den Gerichtssaal verlassen hatten.
Auch andere Weichen waren gestellt. Die dickfelligen Anwälte hatten die Überraschung zur Kenntnis genommen und dann instinktiv abgeschüttelt wie eine Ente das Wasser. Der Fall würde sie reich machen. Ihren hochverschuldeten Mandanten blieb keine Wahl, als das Testament anzufechten. Die Prozesse würden sich über Jahre
hinziehen.
»Wann gedenken Sie, das Testament gerichtlich bestätigen zu lassen?« wandte sich der Richter an Josh. »Im Lauf einer Woche.«
»Sehr wohl. Sie können jetzt den Zeugenstand verlassen.«
Josh kehrte im Triumph an seinen Platz zurück, während sich die Anwälte daran machten, ihre Papiere einzusammeln. Sie taten so, als stehe alles zum besten.
»Die Sitzung ist geschlossen.«