ACHTUNDVIERZIG

Daniel, sein Ältester, wollte sich unbedingt in einer Kneipe mit ihm treffen. Nate fand sie nach Einbruch der Dunkelheit, zwei Nebenstraßen vom Universitätsgelände entfernt, in einer Straße voller Bars und Klubs. Die Atmosphäre dort war ihm nur allzu vertraut: Musik, die grelle Bierreklame, die Studentinnen, die über die Straße riefen. Genauso war es noch vor wenigen Monaten in Georgetown gewesen, und an nichts davon konnte er Geschmack finden. Vor einem Jahr hätte er zurückgerufen, die jungen Frauen von einem Lokal ins nächste verfolgt, sich vorgemacht, selbst zwanzig Jahre alt zu sein und die ganze Nacht durchmachen zu können.

Daniel wartete in einer engen Sitznische mit einer Freundin. Auf dem Tisch standen zwei Flaschen Bier. Beide rauchten. Vater und Sohn schüttelten sich die Hand. Augenscheinlich wäre Daniel jede liebevollere Geste Nates peinlich gewesen.

»Das ist Stef«, sagte Daniel und wies auf seine Begleiterin. »Sie ist Mannequin«, fügte er rasch hinzu, wohl um dem Vater zu beweisen, dass er mit Klassefrauen Umgang hatte.

Aus irgendeinem Grund hatte Nate gehofft, einige Stunden allein mit seinem Sohn verbringen zu können. Das sollte offenbar nicht sein.

An Stef fiel ihm als erstes der Schmollmund und der dick aufgetragene graue Lippenstift auf. Zur Begrüßung gönnte sie ihm kaum die Andeutung eines Lächelns. Auf jeden Fall war sie hübsch und dürr genug, um tatsächlich Mannequin zu sein. Ihre Arme sahen aus wie Besenstiele. Zwar konnte Nate ihre Beine nicht sehen, doch vermutete er, dass sie dünn waren und ihr bis zu den Achselhöhlen reichten. Zweifellos hatte sie um die Fußknöchel herum mindestens zwei Tätowierungen.

Nate konnte sie vom ersten Augenblick an nicht leiden, und es kam ihm ganz so vor, als beruhe das auf Gegenseitigkeit. Und wer weiß, was Daniel ihr über seinen Vater berichtet hatte.

Daniel hatte vor einem Jahr das College in Grinnell beendet und den darauffolgenden Sommer in Indien verbracht. Nate hatte ihn seit dreizehn Monaten nicht gesehen. Weder war er zu seiner Abschlussfeier gegangen, noch hatte er ein Geschenk oder auch nur eine Glückwunschkarte geschickt. Nicht einmal angerufen hatte er. Daher herrschte am Tisch genug Spannung, ohne dass das Mannequin Rauchringe blies und Nate ausdruckslos anstarrte.

»Möchtest du ein Bier?« fragte Daniel seinen Vater, als ein Kellner in der Nähe auftauchte. Es war eine grausame Frage, ein kleiner Pfeil, der abgefeuert wurde, um ihn zu quälen.

»Nein, einfach Wasser«, sagte Nate. Daniel rief dem Kellner die Bestellung zu und fragte dann: »Immer noch abstinent, was?«

»Na klar«, sagte Nate lächelnd.

»Und seit dem vorigen Sommer kein Rückfall?«

»Nein. Lass uns von was anderem reden.«

»Dan hat mir gesagt, dass Sie im Entzug waren«, sagte Stef und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus. Es überraschte Nate, dass sie einen vollständigen Satz herausbrachte. Sie sprach langsam, und ihre Stimme klang so hohl, wie ihre Augenhöhlen aussahen.

»Ja, mehrfach. Was hat er Ihnen noch erzählt?«

»Da war ich auch schon«, sagte sie, »aber erst einmal.« Sie schien stolz auf ihre Leistung zu sein und zugleich ihren Mangel an Erfahrung zu bedauern. Die beiden Bierflaschen auf dem Tisch waren inzwischen leer.

»Wie schön«, sagte Nate kühl. Er brachte es nicht fertig, so zu tun, als wäre sie ihm sympathisch. In ein oder zwei Monaten wäre sie ohnehin mit einem anderen Mann zusammen.

»Was macht das Studium?« fragte er Daniel.

»Das habe ich an den Nagel gehängt.« Es klang gezwungen und ärgerlich. Daniel stand erkennbar unter Druck. Bestimmt trug Nate eine Mitschuld daran, dass sein Sohn das Studium aufgegeben hatte, nur war ihm nicht recht klar, inwiefern und warum. Sein Wasser kam. »Habt ihr beiden schon gegessen?« fragte er.

Stef vermied jegliche Nahrungsaufnahme, und Daniel hatte keinen Appetit. Nate hatte zwar schrecklichen Hunger, wollte aber nicht allein essen. Er sah sich im Lokal um. Irgendwo in einer Ecke wurde Haschisch geraucht.

Die Geräuschkulisse war laut. Es war noch nicht lange her, dass er sich in solchen Lokalen wohl gefühlt hatte. Daniel steckte sich die nächste Zigarette an, eine filterlose Camel, der schlimmste Sargnagel auf dem Markt, und blies eine dicke Rauchwolke gegen den billigen Kneipenleuchter, der von der Decke hing. Er war schlecht gelaunt und gereizt.

Bestimmt hatte er die junge Frau mitgebracht, damit es keinen Streit oder gar eine Prügelei gab. Nate vermutete, dass Daniel pleite war und seinem Vater einmal ordentlich die Meinung sagen wollte, weil er ihn nicht genug unterstützt hatte. Auf der anderen Seite aber fürchtete er wohl, dass sich Nate, den er als nicht besonders belastbar kannte, darüber gleich wieder aufregte. Stefs Anwesenheit sollte dafür sorgen, dass er sich zusammennahm. Außerdem wollte er vermutlich das Zusammentreffen so kurz wie möglich halten. Es dauerte etwa eine Viertelstunde, bis Nate das durchschaut hatte.

»Wie geht es deiner Mutter?« fragte er.

Daniel bemühte sich zu lächeln. »Gut. Ich war Weihnachten bei ihr. Du warst verschwunden.«

»Ich war in Brasilien.«

Eine Studentin in enganliegenden Jeans ging vorüber. Stef musterte sie von Kopf bis Fuß, wobei endlich Anzeichen von Leben in ihre Augen traten. Die junge Frau war noch dürrer als sie selbst. Wieso galt es eigentlich auf einmal als cool, wie ein Gerippe herumzulaufen?

»Was gibt es denn in Brasilien?« fragte Daniel.

»Eine Mandantin.« Nate war es leid, immer wieder von seinem Abenteuer zu erzählen.

»Mama hat gesagt, dass du Ärger mit dem IRS hast.«

»Darüber freut sie sich bestimmt.«

»Möglich. Besondere Sorgen schien es ihr jedenfalls nicht zu machen. Musst du dafür ins Gefängnis?«

»Nein. Könnten wir über etwas anderes reden?«

»Genau das ist der Haken, Papa. Es gibt nichts anderes, nur die Vergangenheit, und da können wir nicht hin.«

Die Schiedsrichterin Stef rollte mit den Augen, als wolle sie sagen: »Das reicht.«

»Warum hast du das Studium geschmissen?« fragte Nate, um die Frage hinter sich zu bringen.

»Aus verschiedenen Gründen. Es wurde langweilig.«

»Er hatte kein Geld mehr«, sagte Stef hilfreich. Sie sah Nate so ausdruckslos an, wie ihr das nur möglich war. »Stimmt das?« fragte Nate.

»Das ist ein Grund.«

Nate spürte den Impuls, das Scheckbuch zu zücken, um dem Jungen aus der Patsche zu helfen. So hatte er es immer gehalten. Elternschaft war für ihn nichts anderes gewesen als eine unaufhörliche Kette von Zahlungen. Wenn du schon nicht selbst da sein kannst, schick wenigstens Geld. Aber inzwischen war Daniel dreiundzwanzig, hatte das College abgeschlossen und zog mit Gestalten wie Fräulein Bulimie herum. Es war höchste Zeit, dass er lernte, auf eigenen Füssen zu stehen, sonst würde er umfallen.

Außerdem war Nates Scheckbuch nicht mehr das, was es einmal war.

»Das ist gar nicht so schlecht«, sagte er daher. »Arbeite eine Weile, dann lernst du vermutlich die Uni schätzen.« Stef widersprach. Sie hatte zwei Freundinnen, die das Studium abgebrochen hatten und damit in ein tiefes Loch gefallen waren. Während sie weiterplapperte, zog sich Daniel in seine Ecke der Nische zurück und leerte seine dritte Flasche Bier. Nate kannte jeden denkbaren Vortrag zum Thema Alkohol, wusste aber auch, wie scheinheilig es klingen würde, wenn ausgerechnet er solche Töne anschlüge.

Nach vier Bier war Stef nicht mehr ansprechbar, und Nate hatte nichts mehr zu sagen. Et kritzelte seine Telefonnummer in St. Michaels auf eine Papierserviette und gab sie Daniel. »Hier bin ich in den nächsten Monaten zu erreichen. Ruf an, wenn du mich brauchst.«

»Bis dann, Pa«, sagte Daniel.

»Gib auf dich acht.«

Nate trat in die kalte Nacht hinaus und ging zum Lake Michigan hinüber.

Zwei Tage später traf er in Pittsburgh ein, doch zur vorgesehenen dritten und letzten Wiederbegegnung kam es nicht. Zweimal hatte er Kaitlin, seine Tochter aus erster Ehe, angerufen, und sie hatten sich auf halb acht zum Abendessen in der Halle seines Hotels in der Stadtmitte verabredet. Ihre Wohnung lag zwanzig Minuten entfernt. Um halb neun rief sie an und teilte ihm mit, sie sei im Krankenhaus bei einer Freundin, die bei einem Autounfall eine schwere Kopfverletzung erlitten habe.

Nate schlug vor, am nächsten Tag miteinander zu Mittag zu essen, doch Kaitlin erklärte, das sei nicht möglich, weil die Freundin auf der Intensivstation liege und sie in ihrer Nähe bleiben wolle, bis sich ihr Zustand stabilisiert habe. Als Nate merkte, dass seine Tochter auf Abstand zu ihm ging, erkundigte er sich nach der Adresse des Krankenhauses. Zuerst wusste sie sie nicht, dann war sie nicht recht sicher, bis sie schließlich nach weiterem Nachdenken erklärte, ein Besuch dort sei keine gute Idee, denn sie könne ihre Freundin nicht allein lassen.

Er aß in seinem Zimmer an einem Tischchen neben dem Fenster, von wo sein Blick auf die Straße fiel. Lustlos stocherte er auf dem Teller herum und überlegte, warum seine Tochter ihn nicht sehen wollte. Trug sie einen Ring durch die Nase? Eine Tätowierung auf der Stirn? War sie einer obskuren Religion beigetreten und hatte sich den Schädel kahl rasieren lassen? Hatte sie fünfzig Kilo zu- oder fünfundzwanzig abgenommen? War sie schwanger?

Er versuchte, ihr die Schuld zuzuschieben, damit er sich nicht dem stellen musste, was auf der Hand lag. War es möglich, dass sie ihn so sehr hasste?

In der Einsamkeit seines Hotelzimmers in einer Stadt, in der er niemanden kannte, war es leicht, sich selbst zu bemitleiden und sich erneut durch die Fehler der Vergangenheit runterziehen zu lassen.

Er griff zum Telefon und rief Phil an, um sich zu erkundigen, wie es in St. Michaels stehe. Phil hatte die Grippe, und da es im Keller der Kirche kühl war, ließ ihn seine Frau nicht dort arbeiten. Wunderbar, dachte Nate. Wie viele Ungewissheiten auch auf seinem Weg liegen mochten, die eine Konstante zumindest in der näheren Zukunft war die Aussicht darauf, dass ihm die Arbeit im Keller der Dreifaltigkeitskirche nicht ausgehen würde.

Dann erledigte er seinen allwöchentlichen Anruf bei Sergio und berichtete ihm, dass er die Dämonen unter Kontrolle habe und sich überraschend wohl fühle. Er habe nicht einmal einen Blick in die Minibar in seinem Hotelzimmer geworfen.

Er rief in Salem an und führte ein angenehmes Gespräch mit Angela und Austin. Wie sonderbar, dass die jüngeren Kinder bereit waren, mit ihm zu reden, die älteren aber nicht.

Schließlich rief er Josh an, der sich im Arbeitszimmer im Keller seines Hauses aufhielt und über das Chaos des

Phelan-Falls nachdachte. »Du musst zurückkommen, Nate«, sagte er. »Ich habe einen Plan.«

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