SIEBENUNDDREISSIG

Der Arzt gab seine Behandlungsanweisungen vom Bett aus telefonisch durch. Den Infusionsbeutel mit vielen guten Sachen füllen, ihm die Nadel in den Arm stechen, versuchen, ein besseres Zimmer für ihn zu finden. Da alle Zimmer voll waren, ließ man ihn einfach auf dem Gang der Männerabteilung in der Nähe eines unaufgeräumten Tisches stehen, der als Schwesternzimmer fungierte. Zumindest konnte man ihn dort nicht übersehen. Jevy wurde aufgefordert zu gehen. Er konnte nichts tun als warten.

Irgendwann am Vormittag tauchte, als der Betrieb gerade nicht besonders hektisch war, ein Krankenpfleger mit einer Schere auf. Er schnitt die neue Turnhose und das neue rote T-Shirt durch und legte Nate wieder ein gelbes Flügelhemd an. Während dieses Vorgangs lag er volle fünf Minuten lang vor den Augen aller Vorüberkommenden splitternackt auf dem Bett. Niemand sah hin; und er selbst bekam nichts davon mit. Die Laken wurden gewechselt, weil sie völlig durchnässt waren. Nate O'Rileys zerschnittene Kleidungsstücke wurden fortgeworfen, und wieder einmal hatte er nichts anzuziehen.

Wenn er zu sehr zitterte oder zu laut stöhnte, erhöhte ein Arzt, Pfleger oder eine Schwester, je nachdem, wer sich gerade in der Nähe befand, den Durchfluss der Infusion ein wenig, und wenn er zu laut schnarchte, drehte jemand sie ein wenig ab.

Durch einen Krebstoten wurde ein Platz in einem Zimmer frei. Nate wurde in den nächstgelegenen Raum zwischen einen Arbeiter, der einen Fuß eingebüsst hatte, und einen Mann geschoben, der wegen Nierenversagens im Sterben lag. Im Lauf des Tags sah der Arzt zweimal nach ihm. Das Fieber pendelte ständig zwischen neununddreißig und vierzig Grad. Im Lauf des Spätnachmittages kam Senhor Ruiz vorbei, um sich mit Nate zu unterhalten, aber der Patient war nicht wach. Der Anwalt teilte Mr. Stafford vom Gang aus über sein Mobiltelefon die Ereignisse des Tages mit. Was Josh da hörte, gefiel ihm nicht.

»Der Arzt sagt, dass das völlig normal ist«, sagte Valdir. »Mr. O'Riley kommt bald wieder auf die Beine.«

»Lassen Sie ihn bloß nicht sterben, Valdir«, knurrte Josh.

Geld war telegrafisch angewiesen. Außerdem bemühte man sich um einen Pass für Nate.

Wieder einmal lief der Tropf leer, ohne dass es jemandem auffiel. Stunden vergingen, und die Wirkung der Medikamente ließ allmählich nach. Es war pechschwarze Nacht, und niemand rührte sich in den drei anderen Betten, als Nate endlich die Spinnweben seiner Bewusstlosigkeit abschüttelte und Lebenszeichen von sich gab. Er konnte kaum sehen, wer da außer ihm im Zimmer war. Durch die offene Tür fiel ein leichter Lichtschimmer aus dem Gang herein. Man hörte keine Stimmen, und keine Füße schlurften vorüber.

Er fasste nach seinem schweißnassen Hemd und merkte, dass er darunter wieder nackt war. Er rieb sich die geschwollenen Augen und versuchte die steifen Beine zu strecken. Seine Stirn fühlte sich sehr heiß an. Er hatte Durst und konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal gegessen hatte. Er bemühte sich, keine Bewegung zu machen, um niemanden um sich herum zu wecken. Bestimmt würde bald eine Schwester vorbeikommen.

Die Laken waren nass von Schweiß, und als der Schüttelfrost erneut einsetzte, gab es keine Möglichkeit, warm zu werden. Er zitterte, seine Zähne schlugen aufeinander, und er rieb sich Arme und Beine. Nachdem der Schüttelfrost abgeklungen war, versuchte er wieder zu schlafen, was ihm während der Nacht auch für jeweils kurze Zeit gelang, doch als es am dunkelsten war, stieg das Fieber erneut. Es hämmerte so sehr in Nates Schläfen, dass ihm die Tränen kamen. Er legte sich das Kissen um den Kopf und drückte zu, so fest er konnte.

Eine schattenhafte Gestalt trat in das dunkle Zimmer, ging von Bett zu Bett und blieb schließlich neben dem Nates stehen. Sie sah eine Weile zu, wie seine Gliedmaßen unter den Laken zuckten und hörte sein vom Kissen gedämpftes leises Stöhnen. Dann fasste sie ihn sacht am Arm und flüsterte: »Nate.«

Unter normalen Umständen wäre er hochgeschreckt, aber inzwischen hatte er sich an solche Erscheinungen gewöhnt. Er legte sich das Kissen auf die Brust und versuchte, die Gestalt zu erkennen.

»Ich bin es, Rachel«, flüsterte sie.

»Rachel?« flüsterte er zurück. Sein Atem ging schwer. Er versuchte sich aufzusetzen und bemühte sich dann, seine Lider mit den Fingern hochzuschieben. »Rachel?«

»Ich bin hier, Nate. Gott hat mich geschickt, Sie zu schützen.«

Er streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus, und sie nahm sie. Sie küsste seine Handfläche. »Sie werden nicht sterben«, sagte sie. »Gott hat Pläne mit Ihnen.«

Er konnte nichts sagen. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, und er konnte sie sehen. »Ja, Sie sind es«, sagte er. Oder war das wieder ein Traum?

Er sank wieder zurück, legte den Kopf auf das Kissen und spürte, wie sich die Anspannung in seinen Muskeln und die Verkrampfung seiner Gelenke löste. Er schloss die Augen, ließ ihre Hand aber nicht los. Das Hämmern hinter seinen Augen ließ nach. Die Hitze schwand von seiner Stirn und aus seinem Gesicht. Das Fieber hatte seine Kräfte erschöpft, und er sank wieder in Schlummer, einen tiefen Schlaf, den nicht die Medikamente bewirkt hatten, sondern seine völlige Erschöpfung.

Er träumte von Engeln - junge Mädchen in weißen Gewändern schwebten zu seinem Schutz in den Wolken über ihm, summten Melodien, die er nie gehört hatte, die ihm aber trotzdem vertraut vorkamen.

In Jevys und Valdirs Begleitung verließ Nate, mit Anweisungen des Arztes versehen, das Krankenhaus am nächsten Mittag. Es gab keine Spur von Fieber, keinen Ausschlag, lediglich Gelenke und Muskeln schmerzten ein wenig. Er bestand darauf zu gehen, und der Arzt erklärte sich rasch damit einverstanden. Er war froh, ihn loszuwerden.

Zuerst machten sie in einem Restaurant halt, wo er eine große Schüssel Reis und einen Teller gekochte Kartoffeln verzehrte. Anders als Jevy würdigte er die Steaks und Koteletts keines Blicks. Beide hatten noch Hunger von ihrem gemeinsamen Abenteuer. Der Anwalt trank Kaffee, rauchte Zigaretten und sah ihnen beim Essen zu. Niemand hatte Rachel beim Betreten oder Verlassen des Krankenhauses gesehen. Nate hatte Jevy das Geheimnis zugeflüstert, der seinerseits die Schwestern und Helferinnen befragt hatte. Nach dem Mittagessen verließ Jevy die beiden und machte sich zu Fuß in der Stadt auf die Suche nach Rachel. Er ging zum Fluss und sprach mit den Matrosen auf dem letzten Viehtransportboot, das in der Stadt eingetroffen war. Mit ihnen war sie nicht gereist. Auch die Fischer hatten sie nicht gesehen. Niemand schien etwas über das Eintreffen einer Weißen aus dem Pantanal zu wissen.

Als Nate allein in Valdirs Büro war, wählte er die Nummer von Staffords Kanzlei, an die er sich nur mit Mühe erinnern konnte. Sie holten Josh aus einer Besprechung. »Leg los, Nate«, sagte er. »Wie geht es dir?«

»Das Fieber ist vorbei«, sagte er, in Valdirs Lehnstuhl schaukelnd. »Ich fühle mich großartig. Ein bißchen müde und mitgenommen, aber sonst prima.«

»Es klingt auch danach. Du solltest zurückkommen.«

»Lass mir ein paar Tage.«

»Ich schicke eine Düsenmaschine, Nate. Sie fliegt heute Abend ab.«

»Tu das nicht, Josh. Es ist keine gute Idee. Ich komme, wenn mir danach ist.«

»Von mir aus. Erzähl mir von der Frau, Nate.«

»Wir haben sie gefunden. Sie ist Troy Phelans uneheliche Tochter und will von dem Geld nichts wissen.«

»Und wie hast du es geschafft, sie zu überreden, dass sie es doch nimmt?«

»Josh, diese Frau kann man zu nichts überreden. Ich habe es versucht, aber nichts erreicht und aufgegeben.«

»Na hör mal, Nate! Niemand lässt so viel Geld einfach sausen. Du hast ihr doch bestimmt klarmachen können, wie unvernünftig das wäre.«

»Keine Chance, Josh. Sie ist der glücklichste Mensch, den ich je kennengelernt habe, und vollkommen bereit,

den Rest ihres Lebens bei den Indianern zuzubringen. Dort hat Gott sie abgestellt. «

»Aber die Papiere hat sie doch unterschrieben?«

»Nein.«

Eine längere Pause trat ein, während Josh diese Mitteilung verdaute. »Du machst Witze«, sagte er schließlich so leise, dass es in Brasilien kaum hörbar war.

»Nein. Tut mir leid, Chef. Ich habe mir die größte Mühe gegeben, sie dazu zu bringen, dass sie zumindest die Papiere unterschrieb, aber sie wollte nicht. Sie wird sie nie unterschreiben.«

»Hat sie das Testament gelesen?«

»Ja.«

»Und hast du ihr gesagt, dass es sich um elf Milliarden Dollar handelt?«

»Ja. Sie lebt allein in einer Hütte mit einem Strohdach, ohne sanitäre Einrichtungen und Strom, hat kaum Ansprüche an Nahrung und Kleidung, kein Telefon und kein Fax und macht sich nicht im geringsten Sorgen um das, was ihr fehlen könnte. Sie lebt in der Steinzeit, Josh, und genau da möchte sie auch leben. Und Geld würde das verändern.«

»Unfassbar.«

»Das hab ich auch gedacht, und ich war selbst da.«

»Ist sie klug?«

»Sie ist promoviert, Josh, eine Ärztin. Außerdem hat sie einen Abschluß von ihrem Missionsseminar und spricht fünf Sprachen. «

»Sie ist Ärztin?«

»Ja, aber wir haben uns nicht über Kunstfehlerprozesse unterhalten.«

»Du hast gesagt, dass sie wunderschön sei.«

»Habe ich das?«

»Ja, vor zwei Tagen am Telefon. Ich glaube, da hast du unter dem Einfluss von Medikamenten gestanden.« »Stimmt. Aber ich nehme kein Wort zurück.«

»Heißt das, du magst sie?«

»Wir sind Freunde geworden.« Es hätte keinen Sinn, Josh mitzuteilen, dass sie in Corumba war. Nate hoffte, sie bald zu finden und mit ihr über Troys Nachlass zu reden, solange sie sich in der Zivilisation befand.

»Das war ein ziemliches Abenteuer«, sagte Nate. »Milde gesagt.«

»Ich hab vor Sorge um dich nicht schlafen können.«

»Reg dich ab. Unkraut vergeht nicht.«

»Ich hab dir fünftausend Dollar runter telegrafiert. Valdir hat das Geld.«

»Danke, Chef.«

»Ruf mich morgen wieder an.«

Valdir lud ihn zum Abendessen ein, aber er lehnte ab. Er holte sich das Geld und durchstreifte zu Fuß die Straßen von Corumba. Als erstes kleidete er sich ein: Unterwäsche, Safarishorts, einfache weiße T-Shirts; außerdem kaufte er Wanderstiefel. Als er seine Neuerwerbungen vier Nebenstraßen weiter ins Palace Hotel geschleppt hatte, war er so erschöpft, dass er zwei Stunden lang schlief.

Jevy fand nicht die geringste Spur von Rachel. Er suchte mit den Augen die Menschenmenge ab, die sich auf den Straßen drängte. Er sprach mit den Leuten vom Fluss, die er so gut kannte, aber keiner von ihnen hatte sie ankommen sehen. Er steckte den Kopf in alle Hotelhallen der Stadt und schäkerte mit den Frauen am Empfang. Niemand hatte eine alleinreisende etwa vierzigjährige Amerikanerin gesehen.

Je länger sich der Nachmittag hinzog, desto mehr zweifelte Jevy an Nates Geschichte. Das Denguefieber ruft Halluzinationen hervor, man sieht Dinge, hört Stimmen, glaubt an Gespenster, vor allem in der Nacht. Trotzdem suchte er weiter.

Auch Nate streifte umher, nachdem er wieder aufgewacht war und eine weitere Mahlzeit zu sich genommen hatte. Er trug eine Flasche Wasser mit sich, achtete darauf, dass er langsam ging, und hielt sich möglichst im Schatten. Auf dem Felsabsturz über dem Fluss machte er eine Pause und betrachtete das Pantanal, das sich majestätisch Hunderte von Kilometern vor ihm erstreckte.

Dann überfiel ihn die Erschöpfung, und er schleppte sich ins Hotel zurück, um wieder zu schlafen. Er wurde davon wach, dass Jevy an die Tür klopfte. Sie hatten sich für sieben Uhr zum Abendessen verabredet, und es war acht Uhr durch. Beim Eintreten hielt Jevy misstrauisch Ausschau nach leeren Flaschen. Es gab keine.

Sie aßen Brathähnchen in einem Straßencafe. Fußgänger belebten die Straßen, und Musik erfüllte die Luft. Paare mit kleinen Kindern kauften Eiscreme und kehrten nach Hause zurück. Halbwüchsige zogen in Gruppen ohne erkennbares Ziel umher. Vor den Lokalen standen die Gäste auf dem Bürgersteig. Junge Männer und Frauen zogen von einem Lokal zum nächsten. Auf den Straßen war es warm und sicher; kein Mensch schien zu befürchten, dass man auf ihn schießen oder ihn ausrauben könnte.

An einem Tisch in der Nähe trank ein Mann kaltes Brahma-Bier aus einer braunen Flasche, und Nate sah ihm bei jedem Schluck zu.

Nach dem Nachtisch verabschiedeten sie sich voneinander und verabredeten, früh am nächsten Morgen gemeinsam weiterzusuchen. Jevy ging in die eine Richtung, und Nate in die andere. Er war ausgeruht und hatte es satt, im Bett herumzuliegen.

Zwei Nebenstraßen vom Fluss entfernt wurde es stiller. Die Läden waren geschlossen, in den Häusern brannte kein Licht, es herrschte kaum Verkehr. Vor sich sah Nate die Lichter einer kleinen Kapelle. Da wird sie sein, sagte er sich. Fast hätte er es laut gesagt.

Da die Tür weit offen stand, konnte er vom Bürgersteig aus hölzerne Bankreihen sehen, die leere Kanzel, das Wandbild mit Christus am Kreuz und die Rücken einiger Menschen, die mit gesenkten Köpfen versunken beteten. Leise Orgelmusik lockte ihn ins Innere. Er blieb in der Tür stehen und sah, dass insgesamt fünf Menschen in den Bänken verteilt saßen. Keiner von ihnen sah Rachel auch nur im entferntesten ähnlich. Die Orgelbank unter dem Wandgemälde war leer. Die Musik kam aus einem Lautsprecher.

Er hatte Zeit und konnte warten. Vielleicht würde sie ja kommen. Langsam ging er an der hintersten Bankreihe entlang und setzte sich. Er betrachtete die Kreuzigungsszene, die Nägel in Seinen Händen, den Lanzenstich in Seiner Seite, die Qual auf Seinen Zügen. Hatte man Ihn wirklich auf so abscheuliche Weise umgebracht? Irgendwann in seinem kläglichen und auf weltliche Dinge gerichteten Leben hatte auch Nate die Geschichten aus dem Leben Jesu gelesen oder erzählt bekommen: die jungfräuliche Geburt, daher Weihnachten; das Gehen auf dem Wasser; dann noch das eine oder andere Wunder; hatte der Wal Ihn verschlungen, oder war das ein anderer gewesen? Dann der Verrat durch Judas, das Verfahren vor Pilatus, die Kreuzigung, daher Ostern, und schließlich die Himmelfahrt.

Ja, die grundlegenden Tatsachen waren Nate bekannt. Vielleicht hatte seine Mutter sie ihm erzählt. Keine seiner Frauen war zur Kirche gegangen, obwohl Gattin Nummer zwei katholisch gewesen war und sie jedes zweite Jahr die Christmette besucht hatten.

Drei weitere Menschen kamen von der Straße herein. Ein junger Mann mit einer Gitarre trat durch einen Seiteneingang und ging zur Kanzel. Es war genau halb zehn. Er schlug einige Akkorde an und begann zu singen, wobei sein Gesicht vor Begeisterung glühte. Eine winzige Frau, die eine Bank weiter saß, klatschte in die Hände und sang mit.

Unter Umständen würde die Musik Rachel anlocken. Sie musste doch große Sehnsucht nach dem Gottesdienst in einer richtigen Kirche mit einem Holzfußboden und Buntglasfenstern haben, in der vollständig angezogene Menschen in einer Kultursprache aus der Bibel lasen. Gewiss suchte sie die Kirchen auf, wenn sie in Corumba war.

Als das Lied zu Ende war, las der junge Mann einen Bibeltext und begann darüber zu sprechen. Nate hatte im Verlauf seines kleinen Abenteuers noch niemanden so langsam portugiesisch sprechen hören. Die leisen, ver-schliffenen Laute und der getragene Rhythmus fesselten ihn. Obwohl er kein Wort verstand, versuchte er, sich die Sätze zu wiederholen. Dann schweiften seine Gedanken ab.

Sein Körper hatte sich von den Auswirkungen der Fieberanfälle und der Medikamente erholt. Er war gut genährt, ausgeruht und tatendurstig. Er war wieder er selbst, und das bedrückte ihn mit einem Mal. Die Gegenwart stand wieder vor ihm, Hand in Hand mit der Zukunft. Die Last, die er bei Rachel abgeladen hatte, drohte ihm wieder, hier in dieser Kirche. Rachel musste sich unbedingt zu ihm setzen, seine Hand halten und ihm beten helfen.

Er hasste seine Schwächen. Er zählte sie eine nach der anderen auf, und die Länge der Liste betrübte ihn. Die Dämonen warteten zu Hause auf ihn - die guten und die schlechten Freunde, die Orte, an denen er sich aufzuhalten pflegte, und die Gewohnheiten, denen er anhing, der Druck, dem er nicht länger standhalten konnte. Weder vermochte er für tausend Dollar am Tag ein Leben mit den Sergios dieser Welt zu führen, noch eines, bei dem er frei auf der Straße umherzog.

Jetzt betete der junge Mann, die Augen fest geschlossen, während er die Arme flehend zum Himmel erhob. Auch Nate schloss die Augen und sagte den Namen Gottes. Gott wartete auf ihn.

Mit beiden Händen umklammerte er die Lehne der Bank vor ihm. Murmelnd wiederholte er die Liste, sagte leise jede Schwäche, jede Sünde, jede Qual und jedes Übel vor sich hin, die ihn heimsuchten. Er beichtete alles. In einem einzigen langen Bekenntnis seines Versagens stellte er sich nackt und bloß vor Gott hin. Er verschwieg nichts. Er lud so viele Bürden ab, dass sie genügt hätten, drei Männer unter sich zu begraben. Als er schließlich endete, standen ihm Tränen in den Augen. »Es tut mir leid«, flüsterte er Gott zu. »Bitte hilf mir.«

Ebenso rasch, wie das Fieber seinen Körper verlassen hatte, fühlte er seine Seele von ihrer Last befreit. Mit einer sanften Handbewegung war sein Sündenregister getilgt. Er stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, aber sein Puls jagte.

Wieder hörte er die Gitarre. Er öffnete die Augen und wischte sich die Wangen. Jetzt sah er nicht den jungen Mann auf der Kanzel, sondern das von Leid und Schmerz verzerrte Gesicht Christi, der am Kreuz starb. Für ihn. Eine Stimme rief ihn. Sie kam aus seinem Inneren und wollte ihn durch den Mittelgang der kleinen Kirche führen. Aber die Aufforderung verwirrte ihn. In ihm lagen viele Empfindungen im Widerstreit miteinander. Mit einem Mal waren seine Augen trocken.

Warum weine ich eigentlich in einer kleinen Kapelle, in der es heiß ist, und höre mir Musik an, die ich nicht verstehe, in einer Stadt, die ich nie wiedersehen werde? Die Fragen bestürmten ihn, ohne dass er eine Antwort darauf fand.

Es war schön und gut, dass Gott ihm seine verblüffende Zahl von Missetaten vergab, und es kam Nate tatsächlich so vor, als wäre seine Last leichter geworden - aber dass von ihm erwartet wurde, die Nachfolge Christi anzutreten, dieser Schritt war sehr viel schwerer zu vollziehen.

Während er weiter der Musik zuhörte, fühlte er sich verwirrt. Es war unmöglich, dass Gott ihn rief. Er war Nate

O'Riley - Säufer, Drogensüchtiger, Weiberheld, ein Vater, der seine Kinder vernachlässigte, ein schlechter Ehemann, ein habgieriger Anwalt, ein Steuerbetrüger. Die traurige Liste hörte überhaupt nicht auf.

Ihm war schwindelig. Die Musik hörte auf, und als sich der junge Mann daran machte, ein weiteres Lied anzustimmen, verließ Nate die Kirche in aller Eile. Während er eine Ecke umrundete, warf er einen Blick hinter sich. Er hoffte, Rachel zu sehen, wollte sich aber auch vergewissern, dass ihm Gott nicht jemanden nachschickte.

Er musste mit jemandem reden. Er war sicher, dass sie sich in Corumba aufhielt, und er nahm sich vor, sie unter allen Umständen zu finden.

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