FÜNFUNDZWANZIG

Flowe, Zadel und Theishen, die drei Psychiater, die erst vor wenigen Wochen Troy Phelan untersucht und sowohl auf dem Videoband als auch später in langen eidesstattlichen Erklärungen die einhellige Meinung vertreten hatten, dass er bei klarem Verstand gewesen sei, wurden entlassen. Nicht nur das, die Phelan-Anwälte stellten sie als Spinner hin, wenn nicht gar als Irre.

Neue Psychiater wurden gefunden. Den ersten verpflichtete Hark für einen Stundensatz von dreihundert Dollar. Er hatte ihn in einer Zeitschrift für Prozessanwälte entdeckt, deren Kleinanzeigen Spezialisten für alle Dienstleistungen von Abschleppunternehmen bis hin zu Zytologen anboten. Es handelte sich um einen gewissen Dr. Sabo, der seine Praxis aufgegeben hatte und jetzt bereit war, sein Zeugnis zu verkaufen. Schon ein kurzer Blick auf Mr. Phelans Verhalten veranlasste ihn zu der vorläufigen Ansicht, dieser Mann sei eindeutig nicht testierfähig gewesen. Wer sich von einem Hochhaus stürze, sei offenkundig nicht bei klarem Verstand, und wer einer ihm selbst unbekannten Erbin ein Vermögen von elf Milliarden Dollar hinterlasse, müsse auf jeden Fall geistesgestört sein. Sabo war mit Begeisterung bereit, am Fall Phelan mitzuarbeiten. Das Urteil seiner drei Fachkollegen zurückzuweisen, betrachtete er als Herausforderung. Auch lockte ihn die Aussicht, dass der Fall in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erregen würde - er war noch nie in einem berühmten Prozess aufgetreten. Außerdem würde er sich von seinem Honorar eine Ostasienreise leisten können.

Alle Phelan-Anwälte gaben sich die größte Mühe zu erreichen, dass das Gutachten von Flowe, Zadel und Theishen widerlegt wurde. Die einzige Möglichkeit, deren Glaubwürdigkeit zu erschüttern, bestand darin, andere Fachleute zu finden, die eine abweichende Meinung vertraten.

Da die Erben keinesfalls imstande sein würden, die hohen monatlichen Honorarrechnungen zu bezahlen, die auflaufen würden, erklärten sich ihre Anwälte entgegenkommenderweise bereit, die Dinge zu vereinfachen, indem sie sich prozentual am Ergebnis beteiligten, und so wurden statt der exorbitanten Stundensätze Erfolgshonorare vereinbart. Das Beteiligungsverhältnis war atemberaubend, wenn auch keine Kanzlei je nach außen dringen lassen würde, wie viel Prozent sie berechnete. Hark wollte ursprünglich vierzig, doch als ihm Rex Habgier vorwarf, einigten sie sich schließlich auf fünfundzwanzig. So viel quetschte auch Grit aus Mary ROSS Phelan Jackman heraus.

Eindeutiger Sieger blieb der Straßenkämpfer Wally Bright, der von Libbigail und Spike die Hälfte dessen verlangte, was sie bekommen würden.

Im allgemeinen Durcheinander, das herrschte, bevor die Phelan-Erben ihre Anfechtungsklage einreichten, fragte sich keiner von ihnen, ob sie richtig handelten. Sie vertrauten ihren Anwälten. Schließlich ging es um schwindelerregend hohe Summen. Da konnte es sich niemand leisten zurückzustehen.

Da Hark von allen Phelan-Anwälten am meisten in Erscheinung getreten war, erweckte er die Aufmerksamkeit von Troys langjährigem Faktotum Snead. In der Zeit nach dem Selbstmord hatte niemand einen Gedanken an Snead verschwendet; er war beim allgemeinen Wettrennen zum Gericht einfach vergessen worden, und sein Beschäftigungsverhältnis war durch das Ableben seines Arbeitgebers beendet. Er hatte während der Verlesung des Testaments im Gerichtssaal gesessen, hinter einer Sonnenbrille versteckt, damit ihn niemand erkannte. Trä-nenüberströmt war er gegangen.

Er hasste die Phelan-Kinder, weil Troy sie gehasst hatte. Im Laufe der Jahre hatte Snead allerlei unangenehme Aufträge erledigen müssen, um unnötigen Ärger mit seinen Angehörigen von Troy fernzuhalten. Er hatte für Abtreibungen gesorgt und Polizeibeamte bestochen, wenn die Jungen mit Drogen erwischt wurden. Er hatte die Ehefrauen belegen, damit die Beziehung zur jeweiligen Geliebten nicht offenbar wurde - und als sie dann selbst Ehefrauen wurden, hatte der arme Snead auch sie belügen müssen, um zu verhindern, dass etwas über die neuen Freundinnen bekannt wurde.

Zum John für seine unermüdlichen Bemühungen hatten ihn Troys Kinder und Ehefrauen als schwul beschimpft, und nun hatte ihm Mr. Phelan trotz seiner treuen Dienste nichts hinterlassen. Nicht einen Cent. Zwar war er für seine Arbeit jeweils gut bezahlt worden und hatte etwas Geld angelegt, aber nicht genug, um davon leben zu können. Er hatte sich im Dienst für seinen Herrn verzehrt und aufgeopfert. Ein normales Privatleben war ihm versagt geblieben, weil Mr. Phelan von ihm erwartet hatte, dass er zu jeder Stunde des Tages verfügbar war. So hatte er weder eine Familie gründen können, noch besaß er wirkliche Freunde.

Mr. Phelan war alles für Snead gewesen, sein Freund, sein Vertrauter, der einzige Mensch, auf den er sich hatte verlassen können.

Im Laufe der Jahre hatte der Alte so manches Mal versprochen, sich um seine Zukunft zu kümmern. Snead wusste mit Sicherheit, dass er in einem früheren Testament namentlich aufgeführt war. Mit eigenen Augen hatte er das Dokument gesehen, in dem es hieß, er werde bei Mr. Phelans Tod eine Million erben. Damals hatte sich Troys Vermögen auf drei Milliarden netto belaufen, und Snead wusste noch, wie ihm der Gedanke gekommen war, dass eine Million im Vergleich dazu eigentlich sehr wenig war. Als der Reichtum des Alten immer mehr zunahm, hatte Snead angenommen, auch sein Anteil werde mit jedem Testament anwachsen.

Gelegentlich hatte er sich nach dem Stand der Dinge erkundigt, seiner festen Überzeugung nach unauffällig, zurückhaltend und im richtigen Augenblick. Aber jedesmal hatte Mr. Phelan ihn beschimpft und gedroht, ihn vollständig zu übergehen. »Sie sind genauso schlimm wie meine Kinder«, hatte er gesagt, was den armen Snead tief getroffen hatte.

Auf die eine oder andere Weise hatte sich die ihm einst zugedachte Million also in nichts aufgelöst, und das verbitterte ihn. Ihm würde keine andere Wahl bleiben, als sich auf die Seite seiner Feinde zu schlagen.

Er fand die neue Kanzlei mit dem Schild Hark Gettys & Partner nahe dem Dupont Circle. Die Dame am Empfang teilte ihm mit, Mr. Gettys habe viel zu tun. »Ich auch«, gab Snead grob zurück. Wegen seiner ständigen Nähe zu Troy hatte er den größten Teil seines Lebens mit Anwälten zu tun gehabt. Sie hatten immer viel zu tun. »Geben Sie ihm das hier«, sagte er und händigte ihr einen Umschlag aus. »Es ist dringend. Ich warte zehn Minuten da drüben. Wenn bis dahin nichts passiert ist, gehe ich zur nächsten Kanzlei.«

Snead setzte sich und sah sich um. Den Boden bedeckte billige neue Auslegeware. Nach kurzem Zögern verschwand die Empfangsdame durch eine Tür. Der Umschlag enthielt einen Bogen Papier mit der handschriftlichen Mitteilung: »Ich habe dreißig Jahre lang für Troy Phelan gearbeitet. Ich weiß alles. Malcolm Snead.«

Mit diesem Blatt in der Hand kam Hark, von der Empfangsdame gefolgt, praktisch im Laufschritt aus einem der umliegenden Büroräume. Er lächelte töricht, als ob er Snead mit Freundlichkeit beeindrucken könnte. Hark bat Snead, ihm in sein Büro zu folgen. Dieser lehnte den angebotenen Kaffee ebenso ab wie Tee, Wasser oder Cola. Hark warf die Tür ins Schloss.

Es roch nach frischer Farbe. Schreibtisch und Regale waren neu, die Holzarten paßten nicht zueinander. Kartons mit Akten und diesem und jenem stapelten sich an den Wänden. Snead musterte alles ausführlich. »Gerade eingezogen?« fragte er.

»Vor ein paar Wochen.«

Snead waren die Räumlichkeiten zuwider, und auch, was den Anwalt betraf, hatte er seine Bedenken. Er trug einen Anzug aus billigem Wollstoff, der viel weniger gekostet hatte als der Sneads.

»So so, dreißig Jahre«, sagte Hark, den Bogen Papier nach wie vor in der Hand.

»So ist es.«

»Waren Sie bei ihm, als er gesprungen ist?«

»Nein. Er ist allein gesprungen.«

Ein gekünsteltes Lachen, dann war das Lächeln wieder da. »Ich meine, waren Sie im Besprechungszimmer?«

»Ich hätte ihn fast noch erwischt.«

»Das muss schrecklich gewesen sein.«

»Stimmt, und das ist es immer noch.«

»Waren Sie Zeuge, als er das Testament unterschrieben hat, ich meine, das letzte?«

»Ja.«

»Haben Sie ihn das verdammte Ding auch schreiben sehen?«

Snead war zu jeder Lüge bereit. Die Wahrheit bedeutete ihm nichts, da ihn der Alte belogen hatte. Was hatte er schon zu verlieren?

»Ich habe eine ganze Menge gesehen«, sagte er, »und ich weiß noch viel mehr. Bei diesem Besuch hier geht es ausschließlich um Geld. Mr. Phelan hat mir versprochen, mich in seinem Testament zu berücksichtigen. Diese Zusage hat er nicht eingehalten.«

»Sie sitzen also im selben Boot wie mein Mandant«, sagte Hark.

»Das will ich nicht hoffen. Ich empfinde für ihn und seine elenden Geschwister nichts als Verachtung. Das möchte ich von Anfang an klarstellen.«

»Ich glaube, das haben Sie getan.«

»Kein Mensch war Troy Phelan näher als ich. Ich habe Dinge gesehen und gehört, über die sonst niemand Aussagen machen kann.«

»Sie wollen also als Zeuge auftreten?«

»Ich bin ein Zeuge, ein Sachverständiger. Außerdem bin ich sehr teuer.«

Einen Augenblick lang sahen sie einander in die Augen. Die Botschaft war angekommen.

»Dem Gesetz nach ist es zwar unzulässig, dass Laien ihre Meinung darüber äußern, in welchem Geisteszustand sich ein Erblasser bei der Abfassung seines Letzten Willens befunden hat, aber sicherlich können Sie etwas zu bestimmten Handlungsweisen und Vorgängen sagen, die auf eine Geistesgestörtheit hinweisen.«

»Das ist mir alles bekannt«, sagte Snead unhöflich.

»War er verrückt?« »Er war's, oder er war's nicht. Mir ist es egal. Ich kann beides belegen.«

Darüber musste Hark eine Weile nachdenken. Er kratzte sich die Wange und betrachtete aufmerksam die Wand. Snead beschloss, ihm zu helfen. »Ich sehe das so: Der Junge, den Sie vertreten, ist ebenso reingelegt worden wie seine Geschwister. Jeder von ihnen hat zum einundzwanzigsten Geburtstag fünf Millionen gekriegt, und wir wissen, was sie mit dem Geld gemacht haben. Weil sie alle bis über die Halskrause verschuldet sind, bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als das Testament anzufechten. Aber keine Jury wird Mitleid mit ihnen haben. Sie sind ein Haufen habgieriger Verlierer. Obwohl sich der Fall nicht ohne weiteres gewinnen läßt, werden Sie und die anderen Rechtsverdreher gegen das Testament vorgehen, und die Massenblätter werden haarklein darüber berichten. Immerhin geht es um elf Milliarden. Weil Sie aber so recht nichts in der Hand haben, hoffen Sie auf eine Einigung, bevor es zum Prozess kommt.«

»Sie begreifen rasch.«

»Nein. Ich habe Mr. Phelan dreißig Jahre lang aufmerksam zugesehen. Auf jeden Fall hängt es von mir ab, wie viel bei einer solchen Einigung rausspringt. Wenn ich mich genau an Einzelheiten erinnern kann, kann es sein, dass mein früherer Arbeitgeber bei der Abfassung seines Testaments nicht testierfähig war.«

»Das heißt, Ihr Erinnerungsvermögen kommt und geht.«

»Es ist so, wie ich es haben möchte. Da kann mir niemand reinreden.«

»Was wollen Sie?«

»Geld.«

»Wie viel?«

»Fünf Millionen.«

»Das ist ne ganze Menge.«

»Es ist so gut wie nichts. Ich nehme es von Ihnen oder von der Gegenseite. Mir ist das egal.«

» Und wie soll ich Ihnen die fünf Millionen zukommen lassen ?«

»Keine Ahnung. Ich bin kein Anwalt. Bestimmt können Sie und Ihre Kumpel das irgendwie einfädeln.«

Eine lange Pause entstand, während Hark in Gedanken mit dem Einfädeln begann. Er hatte viele Fragen, vermutete aber, dass er nicht viele Antworten bekommen würde. Jedenfalls nicht jetzt.

»Gibt es weitere Zeugen?« fragte er.

»Noch eine Frau, Nicolette. Sie war Mr. Phelans letzte Sekretärin.«

»Wie viel weiß sie?«

»Kommt drauf an. Man kann sie kaufen.«

»Sie haben also schon mit ihr gesprochen?«

»Das tu ich jeden Tag. Uns gibt es nur im Zweierpack.«

»Wie viel will sie?«

»Die fünf Millionen sind für uns beide.«

»Das ist ja das reinste Schnäppchen. Sonst noch jemand?«

»Niemand von Bedeutung.«

Hark schloss die Augen und massierte seine Schläfen. »Gegen Ihre fünf Millionen habe ich nichts einzuwenden«, sagte er und zwickte sich in die Nase. »Mir ist nur noch nicht klar, wie wir Ihnen das Geld rüberschieben sollen.«

»Da fällt Ihnen bestimmt noch was ein.«

»Ich muss darüber nachdenken. Lassen Sie mir etwas Zeit. Einverstanden?«

»Ich hab's nicht eilig. Ich gebe Ihnen eine Woche. Wenn Sie nein sagen, geh ich zur Gegenseite.«

»Es gibt keine Gegenseite.«

»Da war ich mir nicht so sicher.«

»Wissen Sie was über Rachel Lane?«

»Ich weiß alles«, sagte Snead und verließ das Büro.

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