NEUN

Das Gerangel wurde schlimmer. Die Phelan-Erben redeten immer weniger miteinander und verbrachten immer mehr Zeit in den Kanzleien ihrer Anwälte. Eine ganze Woche verging, in der weder der Inhalt des Testaments bekannt gegeben, noch genaue Pläne für einen Antrag auf Feststellung seiner Gültigkeit gemacht wurden. Je dichter die Erben das Vermögen vor Augen sahen, das gerade außerhalb ihrer Reichweite lag, desto größer wurde ihre Nervosität. Mehrere Anwälte wurden in die Wüste geschickt und ebenso rasch durch andere ersetzt. Mary ROSS Phelan Jackman entzog ihrem Anwalt das Mandat, weil ihr sein Stundensatz nicht hoch genug war. Ihr Mann war ein erfolgreicher orthopädischer Chirurg mit zahlreichen Kontakten in der Geschäftswelt, der täglich mit Anwälten zu tun hatte. Ihr neuer Anwalt war ein Energiebündel namens Grit, der sich für sechshundert Dollar pro Stunde mit vollem Einsatz ins Getümmel stürzte.

Während sie auf das Erbe warteten, häuften sie immense Schulden an. Kaufverträge für hochherrschaftliche Villen wurden unterschrieben. Neue Autos wurden geliefert. Berater für die unterschiedlichsten Dinge wurden beauftragt. Da war ein Badehäuschen zu entwerfen, ein privates Düsenflugzeug aufzutreiben und eine Empfehlung auszusprechen, welches Rennpferd man kaufen sollte. Wenn sich die Erben nicht in den Haaren lagen, kauften sie in großem Stil ein. Die einzige Ausnahme war Ramble, aber auch nur deshalb, weil er noch minderjährig war. Er drückte sich fortwährend in Gesellschaft seines Anwalts herum, der sicherlich die Schulden seines Mandanten vergrößerte.

Eine Prozesslawine wird häufig dadurch ausgelöst, dass die Leute dem Gericht die Tür einrennen. Da sich Josh Stafford weigerte, das Testament offenzulegen, und gleichzeitig geheimnisvolle Hinweise über Troys mangelnde Testierfähigkeit fallen ließ, gerieten die Anwälte der Phelan-Erben schließlich in Panik.

Zehn Tage nach Troys Selbstmord reichte Hark Gettys beim Gericht des Fairfax County im Staat Virginia eine Klage ein, um zu erzwingen, dass Troy L. Phelans Testament öffentlich bekannt gemacht wurde. Mit der Ve r-schlagenheit eines ehrgeizigen Anwalts, mit dem man rechnen muss, gab er einem Reporter der Washington Post einen Wink. Sie unterhielten sich eine Stunde lang, nachdem er den Antrag eingereicht hatte, und dabei ließ Gettys neben Äußerungen, die ihn ins rechte Licht rücken sollten, auch die eine oder andere vertrauliche Angabe durchsickern. Ein Fotograf machte einige Aufnahmen.

Sonderbarerweise stellte Hark seinen Antrag im Namen aller Phelan-Erben und gab ihre Namen und Anschriften an, als wären sie seine Mandanten. Nachdem er in die Kanzlei zurückgekehrt war, faxte er ihnen Kopien des Antrags durch. Wenige Minuten später war bei ihm telefonisch kein Durchkommen mehr.

Der Bericht in der Post vom nächsten Morgen wurde von einem großen Foto ergänzt, auf dem sich Hark mit nachdenklicher Miene den Bart strich. Der Artikel war noch länger, als er es sich erträumt hatte. Er las ihn bei Sonnenaufgang in einem Cafe in Chevy Chase und fuhr dann rasch in seine neue Kanzlei.

Einige Stunden später, kurz nach neun, herrschte im Geschäftszimmer des für den Bezirk Fairfax zuständigen Gerichts ein noch größeres Gedränge von Anwälten als sonst. Sie kamen in kleinen Gruppen, redeten in abgehackten Sätzen auf die Mitarbeiter der Geschäftsstelle ein und gaben sich große Mühe, einander nicht zur Kenntnis zu nehmen. Sosehr sich ihre Anträge unterschieden, so wollten doch alle ein und dasselbe - im Fall Phelan als zuständig anerkannt werden und einen Blick in das Testament werfen.

Nachlassangelegenheiten wurden im Bezirk Fairfax nach dem Zufallsprinzip unter einem Dutzend Richter verteilt, und so landete der Fall Phelan auf dem Schreibtisch F. Parr Wycliffs. Dieser sechsunddreißigjährige Richter besaß nur wenig Erfahrung auf dem Gebiet, war aber äußerst ehrgeizig und hoch erfreut, einen so wichtigen Fall übertragen zu bekommen.

In seinem Amtszimmer im Gericht beschäftigte er sich den ganzen Vormittag über mit der Akte. Seine Sekretärin legte ihm die Anträge vor, die er sogleich las.

Nachdem sich seine erste Aufregung gelegt hatte, rief er Josh Stafford an, um sich mit ihm bekannt zu machen. Wie es in solchen Fällen unter Juristen üblich ist, unterhielten sie sich höflich, aber steif und zurückhaltend, weil noch wichtige Dinge auf sie zukommen würden. Von einem Richter namens Wycliff hatte Josh noch nie gehört. »Liegt ein Testament vor?« fragte Wycliff schließlich.

»Ja, Euer Ehren. Ein Testament liegt vor.« Josh wählte seine Worte mit Bedacht. Es galt im Staat Virginia als Vergehen, ein Testament zurückzuhalten. Falls der Richter wissen wollte, was darin stand, würde Josh ihm das nicht verschweigen.

»Wo befindet es sich?«

»Hier in meiner Kanzlei.«

»Wer ist der Testamentsvollstrecker?«

»Ich.«

»Wann gedenken Sie es vorzulegen?«

» Mein Mandant hat mich gebeten, bis zum fünfzehnten Januar damit zu warten.«

»Hmmm. Gibt es einen bestimmten Grund dafür?«

Der Grund lag auf der Hand. Troy wollte, dass seine habgierigen Kinder noch ein letztes Mal richtig mit Geld um sich warfen, bevor er ihnen den Teppich unter den Füssen wegzog. Es war gemein, grausam und sah Troy nur allzu ähnlich.

»Das entzieht sich meiner Kenntnis«, sagte Josh. »Es handelt sich um ein eigenhändiges Testament. Mr. Phelan hat es wenige Sekunden unterschrieben, bevor er in die Tiefe gesprungen ist.«

»Ein eigenhändig verfasstes Testament, sagen Sie?« »Ja.«

»Waren Sie nicht bei ihm?«

»Doch. Aber das ist eine lange Geschichte.«

»Vielleicht sollte ich sie erfahren.«

»Vielleicht sollten Sie das.«

Josh hatte viel zu tun. Bei Wycliff war das nicht der Fall, aber er gab sich den Anschein, als sei jede Minute seines Tages verplant. Sie einigten sich darauf, sich zum Mittagessen auf ein paar Sandwiches in Wycliffs Amt s-zimmer zu treffen.

Sergio konnte sich mit Nates Vorhaben, nach Südamerika zu verreisen, nicht anfreunden. Nach nahezu vier Monaten in einer Einrichtung wie Walnut Hill mit einem genau geregelten Tagesablauf, wo Tür und Tor verriegelt waren, ein bewaffneter Wachmann die Straße anderthalb Kilometer weiter unten im Tal beobachtete, ohne dass man ihn sah, und wo Fernsehen, Filme, Spiele, Zeitschriften und Anrufe einer strengen Zensur unterlagen, geriet die Rückkehr in eine vertraute Umgebung häufig zu einer traumatischen Erfahrung. Die Vorstellung aber, dass jemand diese Rückkehr auf dem Umweg über Brasilien vollziehen wollte, war mehr als beunruhigend.

Nate ließ das kalt. Ihn hatte kein Gerichtsbeschluss in Walnut Hill eingewiesen, sondern Josh hatte ihn hingeschickt, und wenn Josh ihn aufforderte, im Urwald Versteck zu spielen, war ihm das recht. Sergio mochte daran herummäkeln und sich beschweren, soviel er wollte.

Die Woche vor der Entlassung war die Hölle. Zu den Mahlzeiten gab es statt fettfreier jetzt fettarme Gerichte mit so unvermeidlichen Zutaten wie Salz, Pfeffer, Käse und ein wenig Butter, damit sich sein Stoffwechsel auf die draußen zu erwartenden Widrigkeiten einstellen konnte. Nates Magen rebellierte, und er verlor noch mal über ein Kilo.

»Das ist erst ein kleiner Vorgeschmack auf das, was dich da unten erwartet«, sagte Sergio von oben herab.

Sie stritten sich während der Therapie, was in Walnut Hill an der Tagesordnung war. Die Leute mussten sich vor ihrer Entlassung eine dicke Haut zulegen, mussten lernen, sich zu wehren. Sergio begann sich von seinem Schützling zurückzuziehen. Ein Abschied war gewöhnlich schwierig, und Sergio verkürzte die Sitzungen und wurde reservierter. Jetzt, wo das Ende abzusehen war, begann Nate die Stunden zuzählen.

Richter Wycliff wollte wissen, was in dem Testament stand, und Josh entzog sich seiner Bitte höflich. An einem kleinen Tisch im kleinen Amtszimmer des Richters aßen sie belegte Brote aus einer Feinkosthandlung. Dem Gesetz nach war Josh nicht verpflichtet, den Inhalt des Testaments bekannt zugeben, zumindest nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Wycliff überschritt mit seiner Aufforderung seine Kompetenzen, doch seine Neugier war verständlich.

»Ich kann die Motive der Antragsteller nachempfinden«, sagte er. »Sie haben ein Recht zu erfahren, was in dem Testament steht. Warum zögern Sie das hinaus?«

»Ich erfülle lediglich den Wunsch meines Mandanten«, antwortete Josh.

»Früher oder später müssen Sie das Testament aber offen legen.«

»Natürlich.«

Wycliff schob seinen Terminkalender an den Plastikteller heran und sah über den Rand seiner Lesebrille hinein. »Heute ist der zwanzigste Dezember. Wir können unmöglich alle vor Weihnachten zusammentrommeln. Was halten Sie vom siebenundzwanzigsten?«

»Woran denken Sie?«

»An ein Verlesen des Testaments.«

Als sich Josh vorstellte, was das bedeuten würde, wäre er fast an einem Dillstengel erstickt. Die Phelans und ihr Gefolge, samt ihren neuen Freunden und sonstigem Anhang sowie all ihre temperamentvollen Anwälte, würden in Wycliffs Gerichtssaal zusammenkommen. Außerdem musste man noch die Presse informieren. Während er ein weiteres Stück Gewürzgurke zerbiss und in sein kleines schwarzes Büchlein schaute, musste er sich große Mühe geben, ein breites Grinsen zu unterdrücken. Er konnte schon das Keuchen und Stöhnen, die unterdrückten Flüche hören, das Entsetzen und die bittere Enttäuschung spüren. Vielleicht würde es auch das eine oder andere Schluchzen geben, während die Phelans versuchten, mit dem fertig zu werden, was ihnen der geliebte Vater angetan hatte.

Es wäre ein einzigartiger und wunderbarer Augenblick in der Geschichte der amerikanischen Rechtswesens,

voller Tücken, und mit einem Mal konnte Josh es kaum mehr abwarten. »Der siebenundzwanzigste passt mir gut«, sagte er.

»Schön. Ich werde die Parteien davon in Kenntnis setzen, sobald ich alle einander zugeordnet habe. Das sind ja geradezu Heerscharen von Anwälten.«

»Die Sache ist für Sie einfacher, wenn Sie daran denken, dass es sechs Kinder und drei frühere Ehefrauen gibt, also neun Hauptgruppen von Anwälten.«

»Hoffentlich ist mein Gerichtssaal groß genug.«

Ausschließlich Stehplätze, hätte Josh fast gesagt. Die Leute dicht gedrängt, kein Laut zu hören, während der Umschlag geöffnet, das Testament entfaltet wird und die unglaublichen Worte vorgelesen werden. »Ich schlage vor, dass Sie das Testament verlesen«, sagte Josh.

Dazu war Wycliff entschlossen. Er sah dieselbe Szene vor sich wie Josh. Ein Testament zu verlesen, in dem über elf Milliarden Dollar verfügt wird, wäre einer der größten Augenblicke seiner Laufbahn.

»Ich vermute, das Testament macht es nicht allen Beteiligten recht«, sagte der Richter.

»Es ist ausgesprochen boshaft.«

Seine Ehren brachten tatsächlich ein Lächeln zustande.

Загрузка...