Das Unwetter brach in der Abenddämmerung über sie herein, während Welly in der Kombüse Reis kochte und Jevy zusah, wie es über dem Fluss dunkel wurde. Der plötzlich heranbrausende Wind weckte Nate, denn es rüt-telte so heftig an der Hängematte, dass er auf den Füssen landete. Donner und Blitz folgten sogleich. Nate ging zu Jevy hinüber und sah, dass im Norden eine riesige finstere Wand lag. »Ein schweres Gewitter«, sagte Jevy. Es klang unbeteiligt.
Müssten wir das Ding nicht irgendwo parken? dachte Nate. Zumindest seichteres Wasser aufsuchen? Jevy schien sich keine Sorgen zu machen; sein Gleichmut wirkte beruhigend auf Nate. Als es anfing zu regnen, ging er nach unten und aß schweigend mit Welly in einer Ecke der Kajüte Reis mit Bohnen. Die Glühlampe über ihnen schwang hin und her, während der Sturm das Boot packte und schüttelte. Schwere Regentropfen prasselten gegen die Bullaugen.
Oben auf der Brücke zog Jevy eine fettverschmierte gelbe Öljacke an und kämpfte gegen den Regen, der ihm ins Gesicht peitschte. Das winzige Ruderhaus war nicht verglast. Die beiden Scheinwerfer mühten sich nach Kräften, ihm den Weg durch die Dunkelheit zu zeigen, doch waren voraus lediglich etwa fünfzehn Meter aufgewühltes Wasser zu sehen. Jevy kannte den Fluss gut, und er hatte schon schlimmere Unwetter erlebt.
Es fiel Nate schwer zu lesen, während das Boot krängte und rollte. Schon nach wenigen Minuten war ihm übel.
In seiner Reisetasche fand er ein knielanges Regencape mit einer Kapuze. Josh hatte an alles gedacht. An das Geländer geklammert, arbeitete er sich langsam Stufe für Stufe emp or, bis dorthin, wo Welly, völlig durchnässt, zusammengekauert neben dem Ruderhaus hockte.
Der Fluss beschrieb eine Krümmung nach Osten, dem Zentrum des Pantanal entgegen. Als sie ihr folgten, erfasste der Sturm das Boot von der Seite, so dass Nate und Welly hart gegen die Reling geschleudert wurden. Jevy stemmte sich mit den Füssen gegen die Tür des Ruderhauses, hielt sich mit den muskulösen Armen am Steuerrad fest und hatte alles unter Kontrolle.
In Abständen von wenigen Sekunden kamen die Windstöße, einer nach dem anderen, erbarmungslos. Die Santa Loura machte keinerlei Fahrt mehr, sondern wurde vom Sturm in Richtung auf das Ufer geschoben. Die riesigen Tropfen des strömenden Regens fühlten sich kalt und hart an. Jevy fand in einem Kasten neben dem Steuerrad eine große Stablampe und gab sie Welly.
»Such das Ufer!« schrie er, bemüht, den heulenden Wind und das Geprassel des Regens zu übertönen.
Nate hangelte sich an der Reling entlang neben Welly, weil auch er gern sehen wollte, wohin die Fahrt ging.
Aber der Lichtstrahl zeigte nichts als Regen, der so dicht war, dass es aussah, als wirbelte Nebel über dem Wasser.
Dann kamen ihnen ein Blitz zu Hilfe. Mit einem Mal sahen sie das dichtbewachsene Ufer genau vor sich. Der Sturm schob sie unaufhaltsam darauf zu. Welly schrie etwas, und Jevy schrie etwas zurück. Im selben Augenblick prallte eine weitere Bö gegen das Boot und warf es heftig auf die Steuerbordseite. Der plötzliche Ruck riss Welly die Taschenlampe aus der Hand, und sie sahen nur noch, wie sie im Wasser verschwand.
Während sie durchnässt und zitternd am Bootsrand hockten und die Reling mit beiden Händen umklammerten, begriff Nate, dass nur zweierlei geschehen konnte, und auf keins von beiden hatten sie Einfluss. Entweder würde das Boot kentern, oder sie würden ans Ufer geschoben, in den Sumpf, wo die Reptilien hausten. Er hatte kaum Angst. Dann aber fielen ihm die Papiere ein.
Sie durften unter keinen Umständen verloren gehen. Mit einem Mal richtete er sich auf, gerade als das Boot erneut soweit krängte, dass er fast über die Reling ins Wasser gefallen wäre. »Ich muss runter!« schrie er Jevy zu, der das Steuerrad umklammert hielt. Auch der Bootsführer hatte Angst.
Mit dem Rücken zum Wind schob sich Nate Stufe für Stufe nach unten. Das Deck war schmierig und glatt von Dieseltreibstoff. Ein Fass war umgestürzt und leckte. Er versuchte es wieder hinzustellen, dazu aber waren wohl zwei Männer nötig. Gebückt trat er in die Kajüte, schleuderte sein Regencape in eine Ecke und holte die Aktentasche unter der Matratze hervor. Der Sturm schüttelte das Boot erneut, gerade als sich Nate nicht festhielt. Er stürzte hart zu Boden, und seine Füße strampelten hilflos in der Luft.
Zwei Dinge durfte er auf keinen Fall verlieren: die Papiere und das Satellitentelefon. Beide befanden sich in der Aktentasche, die zwar neu und schön, aber wohl auf keinen Fall wasserdicht war. Er drückte sie an die Brust und legte sich auf seine Koje, während das Unwetter die Santa Loura beutelte.
Das Motorgeräusch hörte auf. Er hoffte, dass Jevy die Maschine abgestellt hatte. Er konnte die Schritte der beiden unmittelbar über sich hören. Gleich knallen wir aufs Ufer, fuhr es ihm durch den Kopf, und da ist es besser, wenn die Schraube sich nicht dreht. Ein Motorschaden war es sicher nicht.
Das Licht ging aus. Nichts war mehr zu sehen.
Während Nate in der Finsternis dalag, sein Körper den Bewegungen des Bootes folgte und er darauf wartete, dass die Santa Loura ans Ufer geworfen wurde, kam ihm ein entsetzlicher Gedanke. Sofern sich diese Frau weigerte zu unterschreiben, dass sie vom Testament Kenntnis erlangt hatte, oder das Erbe nicht antreten wollte, war es unter Umständen nötig, die Reise noch einmal zu unternehmen. Monate, wenn nicht Jahre später würde jemand, vermutlich er selbst, erneut den Paraguay empor fahren müssen, um die reichste Missionarin der Welt davon in Kenntnis zu setzen, dass alle Formalitäten erledigt waren und das Geld endgültig ihr gehörte.
Er hatte gelesen, dass Missionaren von Zeit zu Zeit ein längerer Heimaturlaub zugebilligt wurde, der ihnen Gelegenheit geben sollte, zu Hause neue Kraft für ihre Aufgabe zu schöpfen. Warum konnte Rachel nicht jetzt einen solchen Urlaub antreten, in die Vereinigten Staaten zurückfliegen - vielleicht sogar mit ihm zusammen - und so lange dort bleiben, bis die Angelegenheiten ihres Vaters geklärt waren? Er würde es ihr vorschlagen, falls es ihm je vergönnt war, ihr zu begegnen. Es schien ihm das mindeste, was sie für elf Milliarden tun konnte.
Ein lautes Krachen ertönte, und Nate wurde zu Boden geschleudert. Sie saßen im Ufergehölz fest.
Die kiellose, flachbödige Santa Loura war wie alle Boote im Pantanal dafür gebaut, über Sandbänke zu gleiten und die Stöße zu ertragen, die das Treibgut im Fluss ihr zufügen mochte. Als das Unwetter vorüber war, ließ Jevy die Maschine wieder anlaufen und bewegte das Boot eine halbe Stunde lang vor- und rückwärts, womit er es allmählich aus dem Sand und Schlamm am Ufer hinausmanövrierte. Als es wieder frei war, beseitigten Welly und Nate Buschwerk und Äste, die sich auf dem Deck angesammelt hatten, und durchsuchten das Innere des Bootes gründlich. Zum Glück fanden sie keine neuen Passagiere, weder Schlangen noch jacares. In einer kurzen Kaffeepause erzählte Jevy von einer Anakonda, die vor Jahren ihren Weg an Bord gefunden und einen schlafenden Matrosen angegriffen hatte.
Nate sagte, Schlangengeschichten höre er nicht besonders gern. Danach suchte er besonders langsam und gründlich weiter.
Nachdem sich die Wolken verzogen hatten, hing ein schöner Halbmond über dem Fluss. Welly machte Kaffee. Nach dem Toben des Gewitters schien das Pantanal gewillt, in völliger Ruhe dazuliegen. Der Fluss war glatt wie ein Spiegel. Der Mond zeigte ihnen den Weg, verschwand, wenn der Paraguay eine Biegung machte, war aber gleich wieder da, sobald es nordwärts ging.
Nate hatte sich gründlich an das Leben in Brasilien gewöhnt und daher seine Armbanduhr abgelegt. Die genaue Zeit spielte keine Rolle. Es war schon spät, vermutlich Mitternacht. Regen und Sturm hatten mehrere Stunden hindurch gewütet.
Nate schlief einige Stunden in der Hängematte und erwachte beim Morgengrauen. Jevy schnarchte auf seiner Koje in der winzigen Kajüte hinter dem Ruderhaus. Welly steuerte das Boot im Halbschlaf. Nate schickte ihn Kaffee machen und übernahm das Ruder selbst.
Erneut waren Wolken aufgezogen, doch schien es nicht regnen zu wollen. Infolge des Gewitters vom Vorabend führte der Fluss zahlreiche Äste und Laub mit sich. Da er breit war und keinerlei Schiffsverkehr herrschte, erteilte Kapitän Nate dem Leichtmatrosen Welly den Befehl, sich eine Weile in die Hängematte zu legen, während er das Steuer übernahm.
Es war tausendmal besser als im Gerichtssaal. Mit nacktem Oberkörper und bloßen Füssen schlürfte er Kaffee, während er eine Expedition ins Innere des größten Schwemmlandgebietes der Erde leitete. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere war er immer unterwegs zu irgendeiner Verhandlung gewesen, hatte mit zehn Bällen gleichzeitig jongliert und in jeder Tasche ein Telefon gehabt. Nichts von dem fehlte ihm jetzt. Kein Anwalt, der bei klarem Verstand ist, sehnt sich nach einem Gerichtssaal, aber zugeben würde er es unter keinen Umständen.
Das Boot steuerte sich praktisch selbst. Mit Jevys Glas hielt er Ausschau nach jacares, Schlangen und capivaras am Ufer. Außerdem versuchte er die Schlangenhalsvögel mit weißem Rumpf und braunem Kopf zu zählen, die ihm geradezu ein Symbol des Pantanal zu sein schienen. Zwölf von ihnen standen reglos auf einer Sandbank und sahen das Boot vorüberziehen.
Der Kapitän und seine schläfrige Besatzung fuhren nordwärts, während sich der Himmel rosa färbte und der Tag begann. Tiefer und tiefer ging es ins Pantanal. Wohin ihre Reise sie führen würde, war alles andere als sicher.