ACHTUNDDREISSIG

Ein despachante ist unabdingbarer Bestandteil des Lebens in Brasilien. Keine Firma, Bank, Anwaltskanzlei oder Arztpraxis, keine Privatperson, die über Geld verfügt, kann ohne die Dienste eines despachante auskommen. Er ist das Schmiermittel im Getriebe eines Landes, in dem eine überholte Bürokratie wuchert, er kennt nicht nur die Beamten der Stadtverwaltung, sondern auch jeden bei Gericht, alle Zollbeamten und jeden anderen Amtsträger. Er durchschaut das System und weiß, wie man sich seiner bedient. In Brasilien kann man ohne endlos langes Schlangestehen kein amtliches Dokument bekommen, und der despachante ist derjenige, der sich für andere in die Schlange stellt. Gegen eine kleine Gebühr wartet er acht Stunden lang, um die Autozulassung zu verlängern, und klebt dann seinem Auftraggeber die Plakette an die Windschutzscheibe, während dieser seiner Arbeit im Büro nachgeht. Er wählt für andere, erledigt Bankgeschäfte, fertigt Paket- und Briefsendungen ab - die Liste ist endlos.

Kein bürokratisches Hindernis ist für ihn unüberwindbar.

Ganze Unternehmen von despachantes preisen auf Schildern ihre Dienste an wie Ärzte und Anwälte. Man findet sie in den Gelben Seiten. Für die Aufgabe ist keine vorgeschriebene Ausbildung nötig. Man braucht nichts als eine flinke Zunge, Geduld und möglichst viel Unverfrorenheit.

Valdirs despachante in Corumba kannte einen Kollegen in Sao Paulo, der über Kontakte zu hohen Stellen verfügte und dafür sorgen würde, dass Nate gegen Zahlung von zweitausend Dollar ein neuer Pass ausgestellt wurde.

Jevy verbrachte die nächsten Vormittage am Fluss und half einem Bekannten bei der Reparatur einer chalana. Er behielt alles im Auge und hörte auf alles, was erzählt wurde. Kein Wort über die Frau. Am Freitag mittag war er überzeugt, dass sie zumindest in den vergangenen zwei Wochen nicht in Corumba eingetroffen war. Er kannte alle Fischer, Bootsführer und Matrosen, und jeder von ihnen redete gern. Sofern eine Amerikanerin, die bei den Indianern lebte, mit einem Mal in der Stadt aufgetaucht wäre, sie hätten es gewusst.

Nate suchte bis zum Wochenende. Er durchstreifte die Straßen, beobachtete jede Menschenansammlung, sah sich in Hotelhallen und Straßencafes um, betrachtete die Gesichter der Menschen auf der Straße, ohne eine Frau zu entdecken, die Rachel auch nur entfernt ähnlich gesehen hätte.

Um ein Uhr an seinem letzten Tag holte er sich in Valdirs Kanzlei seinen Pass ab. Sie verabschiedeten sich wie alte Freunde und versprachen, einander bald wiederzusehen. Beide wussten, dass es nie dazu kommen würde. Um zwei Uhr fuhr ihn Jevy zum Flughafen. Sie saßen eine halbe Stunde in der Abflughalle und sahen zu, wie das einzige Flugzeug entladen und für den Rückflug vorbereitet wurde. Jevy wollte eine Weile in die Vereinigten Staaten und war dazu auf Nates Hilfe angewiesen. »Ich brauche einen Job«, sagte er. Nate hörte ihm aufmerksam zu und war nicht sicher, ob er selbst noch einen Job hatte.

»Ich sehe zu, was ich tun kann.«

Sie sprachen über Colorado, den Westen und über Orte, an denen Nate nie gewesen war. Jevy war begeistert vom Gebirge, und nach zwei Wochen im Pantanal verstand Nate das. Als es Zeit war zu gehen, umarmten sie einander freundschaftlich und sagten sich Lebewohl. Nate ging über den heißen Asphalt zum Flugzeug; seine gesamte Garderobe befand sich in einer kleinen Sporttasche.

Die zwanzigsitzige Turboprop-Maschine machte bis Campo Grande zwei Zwischenlandungen. Dort stiegen die Fluggäste in ein Düsenflugzeug nach Sao Paulo um. Die Dame neben ihm ließ sich vom Getränkewagen ein Bier servieren. Nate betrachtete aufmerksam die Dose, die kaum weiter als zwei Handbreit von ihm entfernt stand. Damit ist Schluss, sagte er sich. Er schloss die Augen und bat Gott um Kraft. Er bestellte Kaffee.

Die Maschine zum Dulles Airport flog um Mitternacht ab und sollte am nächsten Morgen um neun Uhr in W a-shington eintreffen. Seine Suche nach Rachel hatte ihn fast drei Wochen lang außer Landes geführt.

Er war nicht sicher, wo sich sein Auto befand. Er hatte keine Wohnung und keine Mittel, sich eine zu beschaffen. Trotzdem machte er sich keine Sorgen. Um all das würde sich Josh kümmern.

Die Maschine ging durch die Wolken auf zweitausendsieben-hundert Meter herunter. Nate war wach, trank Kaffee und fürchtete sich vor den Straßen Washingtons. Sie waren kalt und weiß. Tiefer Schnee bedeckte sie. Während sich der Flughafen näherte, war das Bild einige Minuten lang herrlich, dann erinnerte sich Nate, wie sehr er den Winter verabscheute. Er trug eine dünne Hose, keine Socken, billige, leichte Schuhe und ein gefälschtes Marken-Polohemd, für das er am Flughafen Sao Paulo sechs Dollar bezahlt hatte. Einen Mantel hatte er nicht.

Er würde die Nacht irgendwo verbringen, vermutlich in einem Hotel, zum ersten Mal ohne Aufsicht in Washing-

ton seit dem 4. August, dem Tag, an dem er in einem Motelzimmer in einem der Vororte zusammengebrochen war. Es war das Ende eines langen, jämmerlichen Wegs nach unten gewesen. Er hatte sich große Mühe gegeben, das alles zu vergessen.

Das aber war der alte Nate gewesen. Jetzt war er ein neuer Mensch. Er war achtundvierzig Jahre alt, würde in dreizehn Monaten fünfzig werden und war zu einem anderen Leben bereit. Gott hatte ihm Kraft gegeben und ihn in seiner Entschlossenheit bestärkt. Dreißig weitere Jahre lagen vor ihm. Er würde sie weder mit leeren Flaschen in den Händen noch auf der Flucht verbringen.

Schneepflüge fuhren über das Vorfeld, während die Maschine dem Abfertigungsgebäude entgegenrollte. Die Start- und Landebahnen waren nass, und nach wie vor fiel schwerer Schnee. Als Nate die Fluggastbrücke bestieg, traf ihn der Winter mit aller Kraft, und er musste an die feuchtwarmen Straßen von Corumba denken. Josh wartete am Gepäckband und hatte selbstverständlich einen Mantel für ihn mitgebracht.

»Du siehst grauenhaft aus«, waren seine ersten Worte.

»Vielen Dank.« Nate nahm den Mantel und zog ihn an.

»Du bist klapperdürr.«

»Wenn du sieben Kilo verlieren willst, musst du dir nur den richtigen Moskito außuchen.«

Sie schoben sich mit der Menge der einander stoßenden und rempelnden Menschen zum Ausgang. Je näher sie den Türen kamen, desto entsetzlicher wurde das Gedränge. Willkommen zu Hause, dachte Nate.

»Du reist ja mit leichtem Gepäck«, sagte Josh und zeigte auf seine Sporttasche.

»All meine irdische Habe.«

Ohne Socken und Handschuhe fror Nate, während er am Straßenrand darauf wartete, dass Josh mit dem Auto kam. In der Nacht hatte ein so schlimmer Schneesturm getobt, dass sich der Schnee an den Gebäuden über einen halben Meter hoch aufgetürmt hatte.

»Gestern waren es in Corumba vierunddreißig Grad im Schatten«, sagte Nate, während sie den Flughafen hinter sich ließen.

»Sag mir bloß nicht, dass dir das fehlt.«

»Doch. Mit einem Mal schon.«

»Hör mal, Gayle ist in London. Ich dachte, du könntest ein paar Tage bei mir zu Hause unterkriechen.«

Joshs Haus hatte Platz für fünfzehn Personen. »Na klar, gern. Wo ist mein Wagen?«

»In meiner Garage.«

Natürlich stand der geleaste Jaguar da, und zweifellos war er einwandfrei gewartet, gewaschen und gewachst, und Josh hatte sicher auch die monatlichen Leasing-Raten bezahlt. »Danke, Josh.«

»Ich habe deine Möbel bei einer Spedition eingelagert. Deine Kleidung und persönliche Habe sind im Wagen.« »Danke.« Nate war nicht im mindesten überrascht.

»Wie fühlst du dich?«

» Großartig.«

»Hör mal, Nate, ich hab über das Denguefieber nachgelesen. Es dauert einen Monat, bis man sich vollständig davon erholt hat. Erzähl mir also keinen Scheiß.«

Einen Monat. Das war die Eröffnung in dem Schlagabtausch über seine Zukunft in der Kanzlei. Nimm noch einen Monat Urlaub, alter Junge. Vielleicht bist du ja zu krank, um zu arbeiten. Nate konnte das Drehbuch schreiben.

Aber es würde keinen Kampf geben.

»Ich bin ein bißchen schwach, nichts weiter. Ich schlafe ziemlich viel und muss viel Flüssigkeit zu mir nehmen.« »Und was für Flüssigkeit ist das?«

»Du kommst gleich zur Sache, was?« .v »Das tu ich immer.«

»Ich bin trocken, Josh. Du kannst ganz beruhigt sein. Es gibt keinen Rückfall.«

Das hatte Josh schon oft gehört. Da der Ton des Gesprächs etwas schärfer geworden war, als beide beabsichtigt hatten, schwiegen sie eine Weile. Stellenweise kamen sie nur im Schritttempo voran.

Große Eisschollen trieben langsam den stellenweise zugefrorenen Potomac in Richtung auf Georgetown hinab. Während sie auf der Chain Bridge im Verkehr festsaßen, erklärte Nate kühl: »Ich gehe nicht wieder in die Kanzlei, Josh. Die Zeiten sind vorbei.«

Es war nicht zu erkennen, wie Josh darauf reagierte. Er hätte enttäuscht sein können, weil ein alter Freund und guter Prozessanwalt aufgab. Er hätte sich freuen können, weil jemand, der ihm schon lange Kopfschmerzen bereitete, die Kanzlei ohne großes Aufsehen verließ. Er hätte sich gleichgültig zeigen können, da Nates Fortgang vermutlich ohnehin nicht zu vermeiden war. Letzten Endes würde ihn das Verfahren wegen Steuerhinterziehung ohnehin die Zulassung als Anwalt kosten.

Er aber fragte einfach: »Warum?«

»Da gibt's 'ne Menge Gründe, Josh. Sagen wir einfach, dass ich müde bin.«

»Bei den meisten Prozessanwälten ist nach zwanzig Jahren die Luft raus.«

»Davon hab ich auch gehört.«

Damit war genug über den Ruhestand geredet worden. Nate hatte seinen Entschluss gefasst, und Josh hatte nicht die Absicht, daran etwas zu ändern. Also sprachen sie über Football, wie das Männer zu tun pflegen, die angesichts wichtigerer Aufgaben das Gespräch in Gang halten wollen. In zwei Wochen fand der Super Bowl statt, und die Redskins hatten sich nicht dafür qualifiziert.

Selbst unter ihrer dicken Schneeschicht wirkten die Straßen auf Nate schäbig.

Die Staffords besaßen außer einem großen Haus in Wesley Heights im Nordwesten der Stadt ein Sommerhäuschen an der Chesapeake Bay und eine Blockhütte in Maine. Alle vier Kinder waren aus dem Haus, und während Mrs. Stafford gern reiste, arbeitete ihr Mann lieber.

Nate holte sich einige warme Kleidungsstücke aus dem Kofferraum seines Wagens, dann nahm er im Gästetrakt des Hauses eine heiße Dusche. Der Wasserdruck war in Brasilien niedriger und das Wasser der Dusche in seinem Hotel nie wirklich warm und nie wirklich kalt gewesen. Die Seifenstückchen waren kleiner gewesen. Er verglich alles um sich herum mit dem, was er in Brasilien gesehen hatte. Belustigt dachte er an die Dusche auf der Santa Loura, die lauwarmes Wasser von sich gegeben hatte, wenn man an einer Kette über der Toilette zog.

Er war belastbarer, als er angenommen hatte, das hatte er bei diesem Abenteuer gemerkt.

Nach dem Rasieren putzte er sich die Zähne, alles ganz wie immer. In mancher Hinsicht war es schön, wieder zu Hause zu sein.

Zum Kaffee trafen sie sich in Joshs Arbeitszimmer im Keller, das größer war als sein Büro in der Kanzlei und ebenso unaufgeräumt. Es war Zeit für einen ausführlichen Bericht. Nate begann mit dem mißlungenen Versuch, Rachel vom Flugzeug aus zu suchen, berichtete über die Bruchlandung, die tote Kuh, die drei kleinen Jungen, das öde Weihnachten im Pantanal. In allen Einzelheiten erzählte er von seinem Ritt durch das Sumpfgebiet und die Begegnung mit dem neugierigen Kaiman. Dann die Errettung durch den Hubschrauber. Sein exzessives Trinken am Weihnachtsabend erwähnte er nicht; das würde zu nichts führen, und er schämte sich entsetzlich. Er beschrieb Jevy, Welly, die Santa Loura und die Fahrt nach Norden. Er erinnerte sich daran, welche Angst er empfunden hatte, als er und Jevy sich mit dem kleinen Beiboot verirrt hatten. Zugleich aber war er viel zu beschäftigt gewesen, als dass er sich dieser Angst hätte überlassen können. Jetzt, in der Sicherheit der Zivilisation, kam ihr Umherirren ihm furchteinflößend vor.

Das Abenteuer, das da vor ihm ausgebreitet wurde, erschreckte Josh. Er wollte Nate um Entschuldigung bitten, weil er ihn an einen so gefährlichen Ort geschickt hatte, aber offensichtlich hatte er die Exkursion spannend gefunden. Die Kaimane wurden im Verlauf der Erzählung immer größer. Zu der einsamen Anakonda, die sich am Flussufer gesonnt hatte, gesellte sich eine weitere, die in der Nähe des Bootes umhergeschwommen war.

Nate beschrieb die Indianer, ihre Nacktheit, die fade Kost, das eintönige Leben, den Häuptling und dessen anfängliche Weigerung, sie ziehen zu lassen.

Und Rachel. Als Nate an dieser Stelle in seinem Bericht angekommen war, nahm Josh seinen Notizblock zur Hand und schrieb sich verschiedenes auf. Nate beschrieb Rachel in allen Einzelheiten, angefangen von ihrer sanften Stimme und ihrer langsamen Sprechweise bis hin zu ihren Sandalen und Wanderstiefeln. Ihre Hütte, ihre Medikamententasche, den hinkenden Lako und die Art, wie die Indianer sie ansahen, wenn sie vorüberkam. Er erzählte die Geschichte des kleinen Mädchens, das an einem Schlangenbiss gestorben war, und berichtete Josh alle Einzelheiten, die er von Rachel erfahren hatte.

Mit der Genauigkeit des altgedienten Prozessanwalts kam Nate auf jedes Rachel betreffende Detail zu sprechen, das ihm im Verlauf seines Besuchs aufgefallen war. Er zitierte wörtlich, was sie über Geld und die zu unterschreibenden Papiere gesagt hatte. Er erinnerte sich an das, was sie über Troys eigenhändiges Testament gesagt hatte, nämlich dass es ihr behelfsmäßig vorkomme.

Er schloss den Bericht mit dem wenigen, was er über seine und Jevys Rückkehr aus dem Pantanal wusste. Dabei spielte er die Bedrohlichkeit des Denguefiebers herunter. Er hatte es überlebt, und das allein schon überraschte ihn.

Ein Dienstmädchen brachte Suppe und heißen Tee. »Die Sache sieht also so aus«, sagte Josh, nachdem er einige Löffel Suppe gegessen hatte. »Wenn sie Troys Erbschaft ausschlägt, bleibt das Geld in seinem Nachlass. Falls sich allerdings erweisen sollte, dass das Testament aus irgendeinem Grund ungültig ist, wird der Nachlass so behandelt, als wäre Troy ohne Testament gestorben.«

»Wie kann es ungültig sein? Man hat ihn doch, wenige Minuten bevor er gesprungen ist, psychiatrisch begutachten lassen?«

»Inzwischen gibt es noch mehr Psychiater, die gut bezahlt werden und eine andere Meinung vertreten. Die Sache wird unangenehm. All seine früheren Testamente sind in den Reißwolf gewandert. Sollte sich eines Tages he-raußtellen, dass er ohne gültiges Testament gestorben ist, werden ihn seine Kinder zu gleichen Teilen beerben, und zwar alle sieben. Da aber Rachel nichts haben will, wird ihr Anteil unter den anderen sechs aufgeteilt.«

»Und dann bekommen diese Dummköpfe pro Nase eine Milliarde Dollar.«

»So ungefähr.«

»Wie stehen die Aussichten, das Testament anzufechten?«

»Nicht besonders gut. Ich möchte lieber unsere Seite vertreten als die Gegenseite, aber das kann sich ändern.« Nate ging im Zimmer auf und ab, knabberte an einem Salzkeks und überdachte alles. »Warum sollen wir für die Rechtsgültigkeit des Testaments kämpfen, wenn Rachel das Geld nicht will?«

»Aus drei Gründen«, sagte Josh rasch. Wie immer, hatte er bereits alles aus jedem möglichen Blickwinkel analysiert. Er würde ihm die Zusammenhänge Stück für Stück enthüllen.

»Erstens, und das ist das wichtigste, hat mein Mandant ein gültiges Testament errichtet. Darin hat er genau auf

die Weise über sein Vermögen verfügt, die seinen Vorstellungen entsprach. Mir als seinem Anwalt bleibt keine Möglichkeit, als für die Durchsetzung dieses Testaments zu kämpfen. Zweitens ist mir bekannt, wie Mr. Phelan zu seinen Kindern gestanden hat. Ihm war die Vorstellung unerträglich, das Geld könnte auf irgendeine Weise in ihre Hände gelangen. Ich teile seine Ansichten über seine Kinder absolut und mag mir überhaupt nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn jeder von denen eine Milliarde bekäme. Drittens besteht immer noch die Möglichkeit, dass Rachel es sich anders überlegt.«

»Damit würde ich nicht rechnen.«

»Sieh mal, Nate, sie ist auch nur ein Mensch. Du hast ihr die Papiere dagelassen. Nach ein paar Tagen fängt sie an, darüber nachzudenken. Vielleicht hatte sie noch nie die Möglichkeit erwogen, reich zu werden, aber irgendwann muss ihr doch der Gedanke kommen, wie viel Gutes sie mit dem Geld tun könnte. Hast du sie auf die Möglichkeit einer gemeinnützigen Stiftung und dergleichen hingewiesen?«

»Darüber weiß ich doch selber kaum was, Josh. Vergiss nicht, dass ich Prozessanwalt war.«

»Jedenfalls werden wir darum kämpfen, Mr. Phelans Testament zu schützen. Bedauerlicherweise ist der wichtigste Platz am Tisch leer. Rachel braucht jemanden, der sie vertritt.«

»Braucht sie nicht. Sie will von all dem nichts wissen.«

»Der Prozess kann nur geführt werden, wenn sie einen Anwalt hat.«

Nate war dem Meister der Strategie nicht gewachsen. Das schwarze Loch öffnete sich unversehens, und schon war er dabei, hineinzufallen. Er schloss die Augen und sagte: »Du machst Witze.«

»Nein. Wir können die Sache auf keinen Fall länger hinauszögern. Troys Tod liegt einen ganzen Monat zurück. Richter Wycliff will unbedingt wissen, wo sich Rachel Lane aufhält. Die Anwälte der Kinder haben sechs Anträge auf Anfechtung des Testaments eingereicht und machen erheblichen Druck, dass es vorangeht. Die ganze Sache wird von A bis Z in der Presse breitgetreten. Wenn wir auch nur den kleinsten Hinweis darauf liefern, dass Rachel die Absicht hat, das Erbe auszuschlagen, verlieren wir die Kontrolle. Die Phelan-Kinder und ihre Anwälte drehen durch, und der Richter hat auf einmal kein Interesse mehr daran, Troys letztem Testament zur Geltung zu verhelfen.«

»Willst du damit sagen, dass ich ihr Anwalt bin?«

»Wir haben keine andere Möglichkeit, Nate. Wenn du aus der Kanzlei außteigen willst, soll mir das recht sein, aber diesen letzten Fall musst du noch durchziehen. Setz dich einfach an den Tisch und wahre Rachels Interessen. Die Kanzlei arbeitet dir zu.«

»Aber da gibt es doch einen Interessenkonflikt. Schließlich bin ich Teilhaber in dieser Kanzlei.«

»Das ist halb so schlimm, denn unsere Interessen sind identisch. Für uns - die Nachlaßverwaltung und Rachel -lautet die Aufgabe, das Testament zu schützen. Wir sitzen im selben Boot. Außerdem können wir ohne weiteres behaupten, dass du der Kanzlei seit August nicht mehr angehörst.«

»Da ist viel Wahres dran.«

Beide bestätigten diese traurige Wahrheit. Josh nippte an seinem Tee, ohne Nate aus den Augen zu lassen. »Irgendwann gehen wir zu Wycliff und sagen ihm, dass du Rachel zwar gefunden hast, sie aber zur Zeit noch nicht selbst in Erscheinung treten möchte und nicht sicher ist, was sie tun will. Vorsichtshalber aber hat sie dich mit der Wahrnehmung ihrer Interessen beauftragt.«

»Damit würden wir ihn belügen.«

»Das ist eine harmlose Lüge, und der Richter wird später dafür dankbar sein. Er will unbedingt anfangen, kann das aber erst tun, wenn er von Rachel gehört hat. Sobald du als ihr Anwalt auftrittst, fängt der Krieg an. Das Lügen überlass mir.«

»Das heißt, ich arbeite als Ein-Mann-Kanzlei an meinem letzten Fall.«

»So ist es.«

»Ich verlasse die Stadt, Josh. Ich kann hier nicht bleiben.« Nachdem Nate das gesagt hatte, lachte er. »Wo sollte ich denn auch wohnen?«

»Wohin willst du?«

»Ich weiß noch nicht. So weit habe ich noch nicht gedacht.«

»Ich habe eine Idee.«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Zieh doch in mein Sommerhäuschen in St. Michaels an der Chesapeake Bay. Es steht im Winter sowieso leer.

Es sind zwei Stunden bis dorthin, du kannst also herkommen, wenn du hier gebraucht wirst, und bei mir übernachten. Noch einmal, Nate, alles, was an Vorarbeiten nötig ist, erledigt die Kanzlei.«

Nate betrachtete eine Weile die Bücherregale. Erst vor vierundzwanzig Stunden hatte er auf einer Parkbank in Corumba ein Sandwich gegessen, den Vorüberkommenden zugesehen und darauf gewartet, dass Rachel auftauchte. Er hatte sich geschworen, nie wieder freiwillig einen Gerichtssaal zu betreten.

Aber widerwillig räumte er ein, dass der Plan etwas für sich hatte. Einen besseren Mandanten als Rachel konnte er sich auf keinen Fall wünschen. Der Fall würde nie vor Gericht kommen. Und bei den Beträgen, um die es ging, hatte er die Möglichkeit, zumindest einige Monate lang seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Josh beendete seine Suppe und sprach den nächsten Punkt auf der Tagesordnung an. »Ich schlage vor, dass du zehntausend Dollar im Monat bekommst.«

»Das ist großzügig, Josh.«

»Ich denke, dass wir das aus dem Nachlass des Alten rausquetschen können. Da du keine laufenden Kosten hast, kannst du damit wieder auf die Beine kommen.«

»Bis... «

»Genau, bis wir die Sache mit dem IRS klären.«

»Hast du schon was vom zuständigen Richter gehört?«

»Ich rufe ihn von Zeit zu Zeit an. Vorige Woche haben wir miteinander zu Mittag gegessen.«

»Ist das ein guter Kumpel von dir?«

»Wir kennen uns schon lange. Du musst auf keinen Fall ins Gefängnis, Nate. Man wird sich mit einer hohen Geldstrafe und einem fünfjährigen Entzug deiner Zulassung als Anwalt begnügen.«

»Meine Zulassung können sie haben.« »Noch nicht. Wir brauchen sie für einen weiteren Fall.« »Wie lange sind sie bereit zu warten?« »Ein Jahr. Es eilt ihnen nicht besonders damit.« »Danke, Josh.« Nate war wieder müde.

Die Strapazen im Urwald, der Nachtflug, das anstrengende Gespräch mit Josh. Er sehnte sich nach einem weichen, warmen Bett in einem dunklen Zimmer.

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