SIEBZEHN

Nach einigen fehlgeschlagenen Anläufen zu schlafen übermannten Nate schließlich die Folgen der Zeitverschiebung zusammen mit seiner Müdigkeit und den Nachwirkungen des Wodkas. Auch der Reis trug seinen Teil dazu bei, dass er in tiefen Schlaf fiel. Welly sah in Stundenabständen nach ihm. »Er schnarcht«, berichtete er Jevy, der im Ruderhaus am Steuer stand.

Nates traumloser Schlaf dauerte vier Stunden. Während dieser Zeit schob sich die Santa Loura gegen Strömung und Wind Stück für Stück in ungefährer Nordrichtung voran. Als Nate wieder erwachte, hatte er trotz des ständigen Dröhnens der Maschine nicht den Eindruck, dass sich das Boot bewegte. Er erhob sich ein wenig von der Hängematte und spähte über den Bootsrand, um zu sehen, ob am dichtbewachsenen Ufer irgendwelche Hinweise auf ein Vorankommen zu sehen waren. Die Gegend, durch die sie kamen, schien völlig unbewohnt zu sein. Er sah das Kielwasser hinter dem Boot und merkte, als er einen Baum fest im Auge behielt, dass sie tatsächlich vorankamen, wenn auch äußerst langsam. Die Navigation war auf dem durch die Regenfälle gestiegenen Fluss leichter als sonst, dafür aber ging es flussaufwärts nicht besonders schnell.

Zwar waren Übelkeit und Kopfschmerzen verschwunden, doch fühlte er sich noch immer ziemlich wacklig. Er versuchte aus der Hängematte zu klettern, in erster Linie, weil er seine Blase erleichtern musste. Es gelang ihm, ohne Zwischenfälle die Füße auf das Deck zu setzen. Während er kurz innehielt, tauchte Welly wie aus dem Nichts auf und gab ihm eine Tasse Kaffee.

Nate umschloss das warme Porzellan mit beiden Händen und schnupperte. Noch nie hatte etwas besser gerochen. » Obrigado«, dankte er Welly.

»Sim«, gab dieser mit noch breiterem Lächeln als sonst zurück.

Nate schlürfte den köstlichen süßen Kaffee und bemühte sich, nicht auf Wellys neugierigen Blick zu reagieren. Der Junge trug die auf dem Fluss übliche Kleidung: eine abgetragene kurze Sporthose, ein altes T-Shirt und billige Gummisandalen, die seine zernarbten harten Fußsohlen schützten. Wie Jevy, Valdir und die meisten Brasilianer, die Nate bisher kennengelernt hatte, war auch Welly schwarzhaarig und dunkeläugig, hatte mehr oder weniger europäische Gesichtszüge und eine braune Haut. Manche Brasilianer waren heller, manche dunkler, auf jeden Fall aber war es ein unverkennbarer Farbton.

Ich lebe und bin nüchtern, dachte Nate, während er weiterschlürfte. Wieder einmal bin ich hart am Rande der Hölle entlanggeschrammt und hab es überlebt. Ich bin abgestürzt, war unten, habe das verschwommene Spiegelbild meines Gesichts gesehen und wäre am liebsten gestorben. Jetzt aber sitze ich hier und atme. Zweimal in drei Tagen hab ich meine letzten Worte gesagt. Vielleicht ist meine Zeit noch nicht gekommen.

»Mais?« fragte Welly mit einem Kopfnicken zur leeren Tasse.

»Sim«, antwortete Nate und gab sie ihm. Mit zwei Schritten war der Junge fort.

Noch steif von der Bruchlandung und zittrig vom Wodka, versuchte Nate, auf die Beine zu kommen. Er blieb einen Augenblick stehen, ohne sich festzuhalten. Das war immerhin schon etwas. Der Weg zurück bestand nur aus einer Reihe kleiner Schritte, und jeder von ihnen war ein kleiner Sieg. Wer sie ohne Niederlage aneinander reihen kann und kein einziges Mal strauchelt, hat es geschafft. Endgültig geheilt allerdings ist man nie. Es ist immer nur ein vorläufiger Sieg, er gilt für eine Weile, solange es dauert. Er hatte das Puzzle früher schon einmal gespielt; man musste jedes Stück feiern, das man an die richtige Stelle brachte.

Im nächsten Augenblick streifte das Boot rumpelnd eine Sandbank, und Nate fiel gegen die Hängematte. Als der Ruck in die Gegenrichtung kam, wurde er zu Boden geschleudert, wo er mit dem Kopf auf eine Planke schlug.

Er rappelte sich auf und hielt sich mit einer Hand an der Reling, während er mit der anderen seinen Kopf betastete. Kein Blut, nur eine kleine Beule. Aber der Stoß hatte ihn aufgeweckt, und als er wieder klar sehen konnte, schob er sich an der Reling entlang langsam zur kleinen, engen Brücke vor, wo Jevy auf einem Hocker saß und eine Hand lässig über das Steuerrad gelegt hatte.

Sein brasilianisches Lächeln blitzte auf, dann fragte er: »Wie fühlen Sie sich?«

»Viel besser«, sagte Nate, fast beschämt. Allerdings war Scham eine Empfindung, die er schon vor Jahren abgelegt hatte. Ein Süchtiger kennt kein Schamgefühl. Er hat sich so oft mit Schande bedeckt, dass er dagegen immun wird.

Kaffeetassen in beiden Händen kam Welly die Stufen empor geeilt. Eine Tasse gab er Nate, die andere Jevy.

Dann setzte er sich auf eine schmale hölzerne Bank neben den Bootsführer.

Langsam ging die Sonne hinter den fernen Bergen Boliviens unter. Im Norden, unmittelbar vor ihnen, bildeten sich Wolken. Die Luft war leicht und viel kühler als zuvor. Jevy holte sein T-Shirt und zog es an. Nate fürchtete, es werde wieder ein Unwetter geben. Da der Fluss nicht breit war, konnten sie doch bestimmt das verdammte Boot am Ufer an einem Baum festmachen.

Sie näherten sich einem kleinen, quadratischen Haus. Es war die erste menschliche Behausung, die Nate seit Corumba sah. Man konnte Anzeichen von Leben erkennen: ein Pferd, eine Kuh, Wäsche auf der Leine, ein Kanu nahe dem Ufer. Ein Mann mit einem Strohhut, ein richtiger pantaneiro, trat auf die Veranda und winkte ihnen träge zu.

Als das Haus hinter ihnen lag, wies Welly auf eine Stelle, wo das Unterholz bis an den Fluss reichte. »Jacares«, sagte er. Jevy sah hin, schien aber gelangweilt. Er hatte schon eine Million Kaimane gesehen, Nate hingegen erst einen, vom Pferd aus. Als er jetzt zu den glatten Reptilien hinsah, die sie aus dem Schlamm zu beobachten schienen, fiel ihm auf, um wie viel kleiner sie vom Deck eines Bootes aus wirkten. Aus sicherer Entfernung waren sie ihm lieber.

Irgend etwas sagte ihm allerdings, dass er sie bestimmt noch einmal aus unangenehmer Nähe erleben würde, bevor die Fahrt vorbei war. Das Beiboot, das die Santa Loura im Schlepp hatte, würden sie wohl auf der Suche nach Rachel Lane benutzen müssen. Er und Jevy würden damit durch schmale Flussläufe fahren, die Köpfe einziehen, wenn das Unterholz bis ans Wasser reichte, durch dunkle Gewässer voller Wasserpflanzen waten. Sicherlich warteten dort auch Jacares und andere tückische Reptilien auf ihre Mahlzeit.

Aber merkwürdigerweise berührte ihn das im Augenblick nicht. Bisher hatte er sich in Brasilien eigentlich recht gut gehalten. Es war ein Abenteuer, und sein Führer schien keine Furcht zu kennen.

Nate hielt sich am Geländer fest und ging vorsichtig Schritt für Schritt den Niedergang hinunter und dann durch den schmalen Gang an der Kajüte und der Kombüse vorbei, wo Welly einen Topf auf dem Propangasherd stehen hatte. Der Diesel dröhnte im Maschinenraum. Sein Ziel war das kleine Bad, das außer einer Toilettenschüssel in einer Ecke ein schmutziges Waschbecken sowie einen Duschkopf enthielt, der nur wenige Zentimeter über ihm hin und her pendelte. Während sich Nate erleichterte, betrachtete er aufmerksam die Kette, die dazu diente, die Dusche in Gang zu setzen. Er trat einen Schritt zurück und zog daran. Bräunliches Wasser kam in recht kräftigem Strahl heraus. Wie es aussah, stammte es aus dem unerschöpflichen Wasservorrat des Flusses und war wahrscheinlich ungefiltert. Über der Tür war ein Drahtkorb angebracht, der zur Aufnahme eines Handtuchs und der Kleidung diente. Man musste sich also ausziehen, irgendwie die Toilette zwischen die Beine nehmen, sich mit der einen Hand einseifen und mit der anderen die Kette ziehen, die dafür sorgte, dass Wasser aus der Dusche kam.

Was soll's, dachte Nate. So oft würde er schon nicht duschen.

Im Topf auf dem Herd sah er Reis und schwarze Bohnen und fragte sich im stillen, ob wohl alle Mahlzeiten gleich außehen würden. Doch war ihm das nicht wirklich wichtig. Essen spielte bei ihm keine besondere Rolle. Während man die Patienten auf Walnut Hill austrocknete, absolvierten sie gleichzeitig eine sanfte Fastenkur. Schon seit Monaten hatte er kaum noch Appetit.

Mit dem Rücken zu Jevy und Welly setzte er sich auf die Gitterroste der Stufen, die zur Brücke führten, und sah zu, wie es auf dem Fluss dunkel wurde. In der Abenddämmerung machten sich die Tiere zur Nachtruhe bereit. Vögel flogen in geringer Höhe über dem Wasser von Baum zu Baum und hielten Ausschau nach einem letzten Fisch, bevor es ganz dunkel wurde. Ihre Rufe und ihr Gesang übertönten das unaufhörliche Dröhnen des Diesels, als das Boot vorüberzog. Das Wasser spritzte an den Ufern auf, wenn sich ein Kaiman in den Fluss gleiten ließ. Vielleicht gab es dort auch Schlangen, große Anakondas, die ihre Lagerstätte aufsuchten, aber Nate dachte lieber nicht an sie. Auf der Santa Loura fühlte er sich sicher. Die angenehme Brise, die ihn umfächelte, war wärmer als zuvor. Das Unwetter war ausgeblieben.

Woanders mochte die Zeit dahinrasen, hier im Pantanal hatte sie nicht die geringste Bedeutung. Allmählich gewöhnte er sich an den trägen Rhythmus. Er dachte an Rachel Lane. Auf welche Weise würde das Geld ihr Leben

verändern? Ganz gleich, wie fromm oder seiner Aufgabe verpflichtet jemand war, es konnte niemanden unberührt lassen. Würde sie mit ihm in die Staaten fliegen und sich um den Nachlaß ihres Vaters kümmern? Später konnte sie immer noch zu ihren Indianern zurückkehren. Wie würde sie die Mitteilung aufnehmen? Wie würde sie überhaupt auf den Anblick eines amerikanischen Anwalts reagieren, der sie mitten in der Wildnis aufgespürt hatte?

Welly klimperte eine Melodie auf einer alten Gitarre, und Jevy brummte irgendeinen Liedtext dazu. Es klang fast einlullend, das Lied einfacher Männer, in deren Leben Tage und nicht Minuten zählten, Männer, die nur wenige Gedanken an das Morgen verschwendeten und keine an das, was im kommenden Jahr geschehen mochte oder auch nicht. Er beneidete sie, zumindest solange sie sangen.

Für jemanden, der noch am Vortag versucht hatte, sich selbst zu Tode zu trinken, war das eine beachtliche Wende. Er genoss den Augenblick, war glücklich, am Leben zu sein, und freute sich auf den weiteren Verlauf seines Abenteuers. Seine Vergangenheit lag buchstäblich in einer Lichtjahre entfernten anderen Welt, auf den kalten, nassen Straßen von Washington.

Dort konnte nichts Gutes geschehen. Er hatte deutlich bewiesen, dass er unfähig war, dort zu leben, ohne rückfällig zu werden, wo er denselben Menschen wie vorher begegnete, dieselbe Arbeit wie vorher tat, sich bemühte, die alten Gewohnheiten zu vergessen - bis zum nächsten Absturz. Er würde immer wieder abstürzen.

Welly begann ein Solo, das Nate aus den Gedanken an seine Vergangenheit riss. Es war eine langsame, traurige Ballade. Als sie zu Ende war, lag der Fluss vollkommen im Dunkeln. Jevy schaltete zwei links und rechts vom Bug angebrachte Scheinwerfer ein. Das Navigieren auf dem Fluss war einfach. Der Pegel stieg und fiel mit den Jahreszeiten und war nie besonders hoch. Die flachbödigen Boote waren so gebaut, dass ihnen die Berührung mit den Sandbänken nichts ausmachte, die bisweilen im Weg waren. Unmittelbar nach Einbruch der Dunkelheit lief Jevy auf eine solche Sandbank, und die Santa Loura saß fest. Er fuhr rückwärts, dann wieder vorwärts, und nachdem er fünf Minuten auf diese Weise manövriert hatte, kam das Boot wieder frei. Es war unsinkbar.

In einer Ecke der Kajüte, nicht weit von den vier Kojen entfernt, aß Nate allein an einem Tis ch, der am Fußboden festgeschraubt war. Welly stellte Bohnen und Reis mit Hühnerfleisch sowie eine Apfelsine vor ihn hin. Dazu trank Nate kaltes Wasser aus einer Flasche. Eine nackte Glühlampe pendelte über dem Teller hin und her. In der Kajüte war es heiß und stickig. Welly hatte ihm vorgeschlagen, in der Hängematte zu schlafen.

Jevy kam mit einer Flusskarte des Pantanal. Er wollte die bisher auf dem Paraguay zurückgelegte Strecke einzeichnen, so kurz sie war. Sie kamen wirklich kaum voran. Zwischen ihrer gegenwärtigen Position und Corumba lag nur ein winziges Stückchen Karte.

» Das liegt am Hochwasser «, erklärte Jevy. » Zurück geht es viel schneller.«

Über den Rückweg hatte sich Nate noch nicht viele Gedanken gemacht. »Kein Problem«, sagte er. Jevy wies in verschiedene Richtungen und stellte einige Berechnungen an. »Das erste Indianerdorf liegt in diesem Gebiet«, sagte er und wies auf eine Stelle, die angesichts der bisher zurückgelegten Strecke noch Wochen entfernt schien. »Guato?«

»Sim. Ja. Ich denke, dass wir es da zuerst versuchen sollten. Wenn sie da nicht ist, weiß vielleicht jemand, wo sie sich aufhält.«

»Wie lange dauert es, da hinzukommen?«

»Zwei Tage, vielleicht drei.«

Nate zuckte die Achseln. Die Zeit stand still. Seine Armbanduhr hatte er in der Hosentasche. Seine Sammlung von Stunden-, Tages-, Wochen- und Monatsplanern war längst vergessen. Sein Prozesskalender, die große, unverletzliche Richtschnur seines Lebens, lag in der Schublade irgendeiner Sekretärin. Er war dem Tod um Haaresbreite entronnen; jetzt war jeder neue Tag ein Geschenk.

»Ich habe viel zu lesen«, sagte er.

Jevy faltete die Karte sorgfältig wieder zusammen. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung?« fragte er.

»Mir geht es gut. Ich fühle mich wohl.«

Jevy hätte gern noch viel mehr gefragt, aber Nate war nicht in der Stimmung, eine Lebensbeichte abzulegen.

»Mir geht es gut«, wiederholte er. »Die kurze Reise wird mir gut tun.«

Er las eine Stunde lang am Tisch im Licht der schwankenden Lampe, bis er merkte, dass er in Schweiß gebadet war. Von seiner Koje nahm er Insektenschutzmittel, eine Taschenlampe und einen Stapel von Joshs Aktennotizen und machte sich vorsichtig auf den Weg nach vorn. Als er die Stufen zum Ruderhaus emporstieg, sah er, dass Welly am Ruder stand und Jevy ein Nickerchen machte.

Er besprühte Arme und Beine und kletterte dann in die Hängematte. Es dauerte eine Weile, bis er seine Gliedmaßen so geordnet hatte, dass der Kopf höher lag als das Hinterteil. Als er mit seiner Lage zufrieden war und die Hängematte sacht im Rhythmus des Flusses schaukelte, schaltete Nate die Taschenlampe an und begann wieder zu lesen.

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