Am dritten Tag nach Mr. Phelans Selbstmord suchte Hark Gettys sein Büro in der Kanzlei schon vor Morgengrauen auf; trotz seiner Müdigkeit konnte er es nicht erwarten, den Tag zu beginnen. Seine Augen waren rot gerändert und geschwollen - kein Wunder, hatte er doch am Vortag mit Rex Phelan ein ausgedehntes Abendessen eingenommen und im Anschluss daran mehrere Stunden lang in einer Bar mit ihm über das Testament gesprochen und Pläne für ihr weiteres Vorgehen geschmiedet. Ungeachtet seiner Kopfschmerzen machte er sich
jetzt mit Hilfe von reichlich Kaffee an die Arbeit.
Hark hatte unterschiedliche Stundensätze. Im vergangenen Jahr hatte er in einem üblen Scheidungsfall lediglich zweihundert Dollar berechnet, doch nannte er möglichen Mandanten grundsätzlich dreihundertfünfzig. Das war eher wenig für einen ehrgeizigen Anwalt in Washington, doch wenn er jemanden für dreihundertfünfzig an der Angel hatte, konnte er dessen Rechnung immer noch etwas aufblasen und auf diese Weise verdienen, was er wert war. Eine indonesische Zementfirma hatte ihm für eine unbedeutende Angelegenheit vierhundertfünfzig pro Stunde zugesagt, dann aber versucht, Schwierigkeiten zu machen, als die Rechnung kam. Auf der anderen Seite hatte er mit Erfolg einen Schadensersatzprozess wegen einer fahrlässigen Tötung geführt und dabei knapp hundertzwanzigtausend Dollar verdient. Seine Bandbreite in Honorarfragen war also beträchtlich.
Hark war Prozess-Spezialist in einer zweitklassigen Sozietät mit vierzig Anwälten, deren beständige Machtkämpfe und Streitigkeiten die Vergrößerung der Kanzlei behinderten, und er hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als sich selbständig zu machen. Die laufenden Kosten fraßen nahezu die Hälfte des von ihm erwirtschafteten Umsatzes auf - seiner Ansicht nach musste das Geld eigentlich in seine eigene Tasche fließen.
Irgendwann im Laufe der schlaflos verbrachten Nacht hatte er beschlossen, seinen Stundensatz auf fünfhundert Dollar zu erhöhen und zwar rückwirkend um eine Woche. Er hatte in den vergangenen sechs Tagen an nichts anderem gearbeitet als an dem Fall Phelan. Jetzt, da der Alte nicht mehr lebte, war die verrückte Familie ein gefundenes Fressen für jeden Anwalt.
Harks Ziel war eine Anfechtungsklage gegen das Testament - das versprach ein langer, mit Zähnen und Klauen geführter Kampf zu werden, bei dem ganze Meuten von Anwälten tonnenweise juristischen Schwachsinn zu Papier brachten. Am besten wäre ein richtiger Prozess, eine in aller Öffentlichkeit ausgetragene Schlacht um eines der größten Vermögen in den Vereinigten Staaten, bei der Hark im Mittelpunkt stand. Zwar wäre es schön, wenn er den Prozeß gewinnen könnte, aber entscheidend war das nicht. So oder so würde er dabei ein Vermögen machen und berühmt werden, und genau darum ging es im heutigen Anwaltsgeschäft.
Bei einem Stundensatz von fünfhundert Dollar, einer Arbeitswoche von sechzig Stunden und fünfzig Arbeitswochen im Jahr läge das jährliche Bruttohonorar bei anderthalb Millionen. Die laufenden Kosten für Miete, Sekretärinnen und Anwaltsgehilfen dürften sich höchstenfalls auf eine halbe Million belaufen. Damit bliebe Hark eine Bruttoeinnahme von einer Million, sofern er diese miese Kanzlei verließ und einige Straßenecken weiter selbst eine aufmachte.
So würde er es machen. Er trank einen Schluck Kaffee und nahm insgeheim Abschied von seinem unaufgeräumten Büro. Er würde sich mit dem Fall Phelan und vielleicht einem oder zwei anderen auf und davon machen, und zwar schon bald, bevor die Kanzlei Anspruch auf Honorare aus der Erbsache Phelan erhob. Seine Sekretärin und seinen Anwaltsgehilfen würde er mitnehmen.
Sein Puls beschleunigte sich, während er an den neuen Start und all die Möglichkeiten dachte, gegen Josh Stafford vom Leder zu ziehen. Grund dazu gab es reichlich. Stafford war nicht bereit gewesen, ihm den Inhalt von Phelans letztem Testament mitzuteilen. Als Begründung hatte er angeführt, angesichts des Selbstmords sei dessen Gültigkeit fraglich. Die Veränderung in Staffords Stimme unmittelbar nach dem Selbstmord hatte Hark aufmerksam gemacht. Seither hatte Stafford nicht auf Anrufe reagiert und war inzwischen sogar aus der Stadt verschwunden.
Hark sehnte sich förmlich nach einem Kampf.
Um neun Uhr traf er sich mit Libbigail Phelan Jeter und Mary ROSS Phelan Jackman, den beiden Töchtern aus Troys erster Ehe. Rex hatte das auf Harks Betreiben arrangiert. Zwar wurden beide Frauen bereits durch einen Anwalt vertreten, doch wollte Hark sie auf seine Seite ziehen. Je mehr Mandanten er in diesem Fall hatte, desto größer wurde sein Einfluss am Verhandlungstisch und im Gerichtssaal - ganz davon abgesehen, dass er allen dreien für ein und dieselbe Arbeit jeweils fünfhundert Dollar pro Stunde berechnen konnte.
Die Besprechung verlief nicht nach Wunsch. Keine der beiden Frauen traute Hark, weil sie ihrem Bruder Rex nicht trauten. Warum sollten sie gemeinsame Sache machen, wenn sonst niemand dabei mitzog? TJ beschäftigte drei Anwälte, und auch ihre Mutter hatte einen eigenen Anwalt. Wo so viel Geld auf dem Spiel stand, war es doch sicher besser, wenn sie ihre bisherigen Anwälte behielten.
Eindringlich versuchte Hark ihnen die Vorteile eines gemeinsamen Vorgehens klarzumachen, kam aber nicht weit. Obwohl er enttäuscht war, betrieb er seinen Plan, die Sozietät sofort zu verlassen, mit Nachdruck. Er konnte das Geld schon riechen.
Libbigail Phelan Jeter, ein aufsässiges kleines Mädchen, hatte ihre Mutter Lillian nicht außtehen können und um die Aufmerksamkeit des Vater gebuhlt, der selten zu Hause war. Sie war neun Jahre alt, als sich ihre Eltern scheiden ließen.
Lillian, die überzeugt war, dass Troy nichts von Kindererziehung verstand, steckte die Tochter mit vierzehn Jahren ins Internat. Während der ganzen High School bemühte sich Troy entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, mit Libbigail in Kontakt zu bleiben. Oft sagte er ihr, sie sei ihm die liebste von allen. Auf jeden Fall war sie die klügste.
Doch er kam nicht zu ihrer Abschlussfeier und vergaß auch, ihr ein Geschenk zu schicken. In den Sommerferien, bevor sie aufs College ging, malte sie sich aus, womit sie ihm weh tun konnte. Sie flüchtete sich nach Berkeley. Angeblich wollte sie dort mittelalterliche irische Lyrik studieren, in Wahrheit aber stand ihr der Sinn nicht nach Studieren. Troy war der Gedanke zuwider, dass sie ein College in Kalifornien besuchte, noch dazu ein so radika-
les. Der Vietnam-Krieg stand kurz vor dem Ende. Die Studenten hatten gewonnen. Es war Zeit zu feiern.
Sie stieg schnell in die Welt der Drogen und des sorglosen Geschlechtsverkehrs ein. Zusammen mit anderen Studentinnen und Studenten jeglicher Hautfarbe und sexueller Vorlieben bewohnte sie ein dreistöckiges Haus. Ihre Anzahl und ihre Konstellationen wechselten von Woche zu Woche. Sie bezeichneten sich als Kommune, doch gab es weder eine Struktur noch Regeln. Geld spielte keine Rolle, weil die meisten Kinder reicher Eltern waren. Man kannte Libbigail einfach als junges Mädchen aus einer wohlhabenden Fami lie in Connecticut. Zu jener Zeit besaß Troy nur rund hundert Millionen.
Voll Experimentierfreude arbeitete sie sich durch die verschiedenen Drogen, bis sie dem Heroin verfiel. Ihr Dealer war Tino, ein Schlagzeuger in einer Jazzband, den es irgendwie in ihre Kommune verschlagen hatte. Er stammte aus Memphis, war Ende Dreißig, hatte die High School nicht zu Ende gemacht, und niemand wusste genau, auf welche Weise oder wann er zu ihnen gestoßen war. Allerdings wollte das auch niemand wissen. Libbigail brachte es fertig, zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag einigermaßen clean nach Osten zu reisen, denn bei dieser Gelegenheit bekam jedes der Phelan-Kinder vom Alten das sehnlich erwartete Geschenk. Troy hielt nichts davon, für seine Kinder Geld treuhänderisch anzulegen. Wenn sie mit einundzwanzig noch nicht gefestigt waren, warum sollte er ihnen dann immer noch Zügel anlegen? Ein mündelsicher angelegtes Vermögen verlangte zu seiner Ve rwaltung nach Treuhändern und Anwälten und führte zu ständigen Auseinandersetzungen mit den Begünstigten, denen es nicht behagte, dass Buchhalterseelen darüber befanden, wie viel Geld sie bekommen sollten. Gib es ihnen, war Troys Devise, und dann wird man sehen, ob sie schwimmen oder untergehen. Die meisten Phelan-Kinder gingen rasch unter.
Troy war zu Libbigails Geburtstag nicht da, sondern auf einer Geschäftsreise irgendwo in Asien. Inzwischen war er längst wieder verheiratet. Seine zweite Frau, Janie, hatte ihm Rocky und Geena geboren, und seine erste Familie interessierte ihn nicht mehr.
Libbigail vermisste ihn nicht. Die Anwälte erledigten alles, was für die Übergabe des Geldgeschenks nötig war, und sie verbrachte mit Tino eine Woche bekifft in einem piekfeinen Hotel in Manhattan.
Ihr Geld reichte fast fünf Jahre. In diesem Zeitraum gab es zwei Ehemänner, zahlreiche Lebensgefährten, zwei Festnahmen, drei längere Aufenthalte in geschlossenen Entziehungsanstalten und einen Autounfall, der sie fast das linke Bein gekostet hätte.
Ihr gegenwärtiger Mann, Spike, den sie bei einer ihrer Entziehungskuren kennengelernt hatte, war früher mit dem Motorrad durch die Lande gefahren. Er wog fast hundertfünfzig Kilo und hatte einen wirren grauen Bart, der ihm bis auf die Brust fiel. Er hatte sich inzwischen zu einem anständigen Kerl gemausert und baute in einer Werkstatt hinter ihrem bescheidenen Heim in Baltimores Vorort Lutherville Schränke zusammen.
Nach der Besprechung mit Hark suchte Libbigail umgehend die kleine Kanzlei ihres Anwalts Wally Bright auf und berichtete ihm brühwarm alles, was Hark gesagt hatte. Wallys Spezialität waren schnelle Scheidungen, für die er an den Bushaltestellen im Gebiet von Bethesda warb. Er hatte einen von Libbigails Scheidungsfällen abgewickelt und geduldig ein Jahr lang auf sein Honorar gewartet. Immerhin war sie eine Phelan. Durch sie würde er endlich an die fetten Honorare herankommen, die bisher außerhalb seiner Reichweite gelegen hatten.
In ihrer Gegenwart rief er Hark Gettys an und brach einen wilden Streit vom Zaun, der eine Viertelstunde tobte. Mit den Armen fuchtelnd stampfte er um seinen Schreibtisch herum und schimpfte aufgebracht ins Telefon. Schließlich schrie er: »Für meine Mandantin gehe ich über Leichen!« Libbigail war tief beeindruckt.
Als er fertig war, begleitete er sie freundlich zur Tür und küsste sie sanft auf die Wange. Er tätschelte und streichelte sie und umwarb sie mit all der Aufmerksamkeit, die sie sich ihr Leben lang ersehnt hatte. Sie sah nicht schlecht aus. Zwar war sie eher mollig und von den Spuren eines schweren Lebens gezeichnet, aber Wally hatte weit Schlimmere gesehen und auch mit weit Schlimmeren geschlafen. Im richtigen Augenblick würde er möglicherweise aktiv werden.