Um sechs Uhr am Sonntag morgen nahm Nate seine dritte warme Dusche in vierundzwanzig Stunden und überlegte, wie er Washington möglichst rasch verlassen konnte. Eine Nacht in der Stadt hatte ihm genügt. Das Häuschen an der Bucht lockte ihn. Sechsundzwanzig Jahre war er in dieser Stadt zu Hause gewesen, jetzt, da er sich entschlossen hatte, ihr den Rücken zu kehren, konnte es ihm nicht schnell genug gehen.
Da er keine Wohnung auszuräumen hatte, ging der Umzug einfach vonstatten. Er suchte Josh und fand ihn in seinem Arbeitszimmer, wo er gerade mit einem Mandanten in Thailand telefonierte. Allem Anschein nach ging es um Erdgasvorkommen. Während Nate mithörte, war er froh, die Anwaltspraxis aufzugeben. Obwohl Josh steinreich war und zwölf Jahre älter als er, kannte er, wie es aussah, kein größeres Vergnügen, als um halb sieben am Sonntag morgen am Schreibtisch zu sitzen. Hoffentlich passiert mir das nicht, sagte Nate zu sich selbst. Doch ihm war klar, dass es nicht dazu kommen würde. Hätte er allerdings seine Arbeit in der Kanzlei wiederaufgenommen, würde es mit Sicherheit im alten Trott weitergehen. Vier Entziehungskuren bedeuteten nichts anderes, als dass die fünfte schon auf ihn wartete. Er war nicht so stark wie Josh und wäre bestimmt zehn Jahre später tot. Sich all dem zu entziehen war aufregend. Auf das unangenehme Geschäft, Ärzte wegen Kunstfehlern zu verklagen, konnte er gut verzichten, und auch der hektische Betrieb einer Kanzlei, in der es zuging wie in einem Taubenschlag, würde ihm nicht fehlen. Er hatte seine Karriere und seine Triumphe hinter sich. Der Erfolg hatte ihm nichts als Elend gebracht; er konnte nicht damit umgehen. Der Erfolg hatte ihn in die Gosse geschickt.
Jetzt, da die Schreckensvorstellung, ins Gefängnis zu müssen, von ihm genommen war, konnte er sein neues Leben genießen.
Er verließ Washington mit einen Kofferraum voll Kleidungsstücke; alles andere ließ er in einer Kiste in Joshs Garage zurück. Es hatte aufgehört zu schneien, aber die Schneepflüge hatten noch zu tun. Nach wenigen hundert Metern fiel Nate ein, dass er über fünf Monate lang kein Lenkrad in der Hand gehabt hatte. Es herrschte kaum Verkehr, und er kroch über die Wisconsin Avenue nach Chevy Chase, bis er den Beltway erreichte, der vollständig geräumt war.
Als er allein in seinem eleganten Auto saß, kam er sich allmählich wieder wie ein Amerikaner vor. Er dachte an Jevy und seinen lauten, gefährlichen Pickup. Wie lange die beiden wohl auf dem Beltway überdauern würden?
Er musste auch an Welly denken. Der Junge stammte aus einer Familie, die so arm war, dass sie nicht einmal ein Auto besaß. Nate nahm sich vor, in den nächsten Tagen Briefe zu schreiben, unter anderem einen an seine Reisegefährten aus Corumba.
Sein Blick fiel auf das Telefon. Er nahm den Hörer ab: Es schien zu funktionieren. Natürlich hatte Josh dafür gesorgt, dass die Rechnungen bezahlt wurden. Er rief Sergio zu Hause an, und sie sprachen zwanzig Minuten lang miteinander. Er musste sich Vorwürfe anhören, weil er sich nicht früher gemeldet hatte. Sergio hatte sich Sorgen gemacht. Nate schob alles darauf, dass es im Pantanal keine Telefone gab. Er berichtete ihm, dass die Dinge jetzt in eine andere Richtung gingen, es zwar verschiedene Unbekannte gebe, sein Abenteuer aber noch nicht zu Ende sei. Er werde seinen Beruf aufgeben und brauche nicht ins Gefängnis.
Sergio fragte nicht, ob er nüchtern geblieben war. Was Nate sagte, klang eindrucksvoll und ganz so, als wisse er, was er wollte. Nate gab Sergio die Telefonnummer des Hauses, in dem er wohnen würde, und sie verabredeten, demnächst einmal gemeinsam zum Mittagessen zu gehen.
Dann rief er seinen ältesten Sohn an, der in Evanston an der Northwestern University studierte, und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Wo hielt sich ein dreiundzwanzig-jähriger Student an einem Sonntagmorgen um sieben auf? In der Frühmesse bestimmt nicht. Nate wollte es aber gar nicht so genau wissen. Was auch immer sein Sohn gerade tat, er würde sein Leben mit Sicherheit nicht so verpfuschen wie sein Vater. Seine Tochter war einundzwanzig Jahre alt und studierte, wie sie gerade Lust hatte, an der Pitt University. Bei ihrem letzten Gespräch, einen Tag bevor Nate mit einer Flasche Rum und einem Sack voll Tabletten in das bewusste Motelzimmer gezogen war, war es um ihre Studiengebühren gegangen.
Er konnte ihre Telefonnummer nicht finden.
Die Mutter seiner älteren Kinder hatte seit der Trennung von Nate zweimal wieder geheiratet. Da er sie nicht außtehen konnte, rief er sie nur an, wenn es gar nicht anders ging. Er nahm sich vor, einige Tage zu warten und sie dann um Kaitlins Telefonnummer zu bitten.
Er war entschlossen, die beschwerliche Reise nach Oregon im Westen zu unternehmen, um zumindest seine beiden Jüngsten zu besuchen. Auch deren Mutter hatte wieder geheiratet, erstaunlicherweise wieder einen Anwalt, der aber, wie es aussah, ein einwandfreies Leben führte. Nate wollte die Kinder um Verzeihung bitten und versuchen, eine neue Beziehung anzuknüpfen. Er wusste selbst nicht, wie er das bewerkstelligen sollte, nahm sich aber fest vor, den Versuch zu unternehmen.
In Annapolis hielt er an einer Imbissstube an, um zu frühstücken. Er hörte zu, wie einige Stammgäste in einer Sitznische lautstark die Wetteraussichten kommentierten, und überflog gedankenlos die Washington Post. Weder in den Schlagzeilen noch in den letzten Meldungen der Zeitung fand er etwas, das ihn auch nur im geringsten interessiert hätte. Es ging immer um dasselbe: Unruhen im Nahen Osten, Unruhen in Nordirland; Skandale im Kongress; die Aktienkurse stiegen und fielen; ein Ölteppich bedrohte das Leben im Meer; ein neues Heilmittel gegen Aids; Guerillakrieger brachten Bauern in Lateinamerika um; Chaos in Russland.
Seine Hose war ihm zu weit geworden, also aß er drei Eier mit Speck und Toast. In der Sitznische herrschte vage Übereinstimmung, dass noch mehr Schnee in der Luft lag.
Er fuhr über die Chesapeake Bay Bridge. Da die Straßen am östlichen Ufer der Bucht nicht gut geräumt waren, geriet der Jaguar zweimal ins Rutschen. Er nahm Gas weg. Der Wagen war ein Jahr alt, und er wusste nicht mehr, wann der Leasingvertrag auslief. Seine Sekretärin hatte allen Papierkram für ihn erledigt; er hatte die Farbe ausgesucht. Er beschloss, den Wagen so schnell wie möglich abzustoßen und sich ein gebrauchtes Auto mit Allrad-Antrieb zuzulegen. Früher einmal war ihm der flotte Anwaltswagen wichtig gewesen, jetzt brauchte er ihn nicht mehr.
Bei Easton bog er auf die State Route 33 ein. Der Schnee lag noch fünf Zentimeter hoch. Nate folgte den Spuren anderer Fahrzeuge und kam bald durch verschlafene kleine Ortschaften mit Häfen voller Segelboote. Das Ufer der Bucht war mit hohem Schnee bedeckt; das Wasser war tiefblau.
In St. Michaels wurde die State Route 33 für einige hundert Meter zur Hauptstraße. Zu beiden Seiten lagen Geschäfte und standen guterhaltene alte Häuser; jedes von ihnen ein Postkartenmotiv.
Den Namen St. Michaels kannte Nate schon, solange er sich erinnern konnte. In diesem Städtchen mit einer Bevölkerungszahl von eintausenddreihundert Seelen und einem geschäftigen Segelboothafen gab es ein Meeresmuseum und Dutzende niedlicher Pensionen, die an langen Wochenenden von Leuten aus der Stadt besucht wurden. Außerdem fand dort alljährlich ein Austernfest statt. Er kam am Postamt und einer kleinen Kirche vorüber, deren Eingangsstufen der Pfarrer von Schnee freischaufelte.
Joshs im viktorianischen Stil errichtetes Häuschen mit einem spitzen Doppelgiebel lag im Norden, zwei Querstraßen von der Hauptstraße entfernt, an der Green Street. Man hatte von der Veranda des schieferblau gestrichenen und weiß mit gelb abgesetzten Hauses, die sich über die ganze Vorderseite und einen Teil der Schmalseiten erstreckte, einen Blick auf den Hafen. Da die Auffahrt von einem guten halben Meter Schnee bedeckt war, stellte Nate den Wagen am Bürgersteig ab und kämpfte sich durch Schneewehen zur Haustür durch. Er trat ein und machte Licht. In einem Besenschrank nahe der Hintertür fand er eine Schneeschaufel aus Kunststoff.
Er verbrachte eine herrliche Stunde damit, die Veranda, die Auffahrt und den Bürgersteig von Schnee zu befreien, bis er sich schließlich zu seinem Wagen vorgearbeitet hatte.
Es überraschte ihn nicht, dass das aufgeräumte Haus, in dem alles an seinem Platz zu sein schien, voller Gegenstände aus der Zeit seiner Entstehung war. Josh hatte gesagt, dass jeden Mittwoch eine Frau zum Putzen und Staubwischen komme. Normalerweise wohnte Joshs Frau zwei Wochen im Frühling und eine Woche im Herbst darin. Josh hatte in den letzten achtzehn Monaten drei Nächte dort verbracht. Es gab vier Schlafzimmer und vier Bäder. Ein Häuschen eben.
Aber nirgendwo fand sich Kaffee - ein echter Notfall. Nate schloß das Haus ab und machte sich auf den Weg in den Ort. Die Bürgersteige waren geräumt und naß vom geschmolzenen Schnee. Wenn man dem Thermometer im Fenster des Friseurladens glauben durfte, waren es zwei Grad über Null. Alle Läden waren geschlossen. Im Vorübergehen sah Nate in ihre Schaufenster. Vor ihm ertönten die Kirchenglocken.
Dem Merkblatt zufolge, das ihm der ältliche Kirchendiener in die Hand drückte, hieß der Gemeindepfarrer Phil Lancaster. Dieser kleine, drahtige Mann mit einer dicken Hornbrille und rotgrau meliertem, gelocktem Haar konnte ebenso gut fünfunddreißig wie fünfzig Jahre alt sein. Die Gemeinde, die sich zum Elf-Uhr-Gottesdienst versammelt hatte, war nicht eben zahlreich, was vermutlich auf das Wetter zurückzuführen war. Nate zählte einundzwanzig Menschen, Pfarrer und Organist eingerechnet. Viele Köpfe waren schon ergraut.
Es war eine hübsche kleine Kirche mit einer gewölbten Decke und Buntglasfenstern. Bänke und Fußboden bestanden aus dunklem Holz. Als der Kirchendiener in der letzten Bank Platz nahm, erhob sich der Pfarrer in seinem schwarzen Talar und hieß die Besucher in der Dreifaltigkeits-Kirche willkommen, in der jeder zu Hause sei.
Er sprach laut und mit näselnder Stimme; ein Mikrophon brauchte er nicht. In seinem Gebet dankte er Gott für den Schnee und den Winter, für die Jahreszeiten, die uns daran erinnern sollten, dass Er stets die Fäden in der Hand hat.
Die Gemeinde stolperte durch die Lieder und Gebete. Während der Predigt fiel der Blick des Pfarrers auf Nate,
den einsamen Besucher in der vorletzten Reihe. Sie lächelten beide, und einen kurzen Moment lang fürchtete Nate, er wolle ihn der kleinen Gemeinde vorstellen.
Das Thema der Predigt war Begeisterungsfähigkeit. Es kam ihm angesichts des Durchschnittsalters der Gemeinde merkwürdig vor. Nate gab sich große Mühe zuzuhören, doch ließ seine Aufmerksamkeit bald nach. Seine Gedanken kehrten zur kleinen Kirche in Corumba zurück, deren Türen und Fenster offengestanden hatten, so dass die heiße Luft hindurchstrich, zum sterbenden Christus, der am Kreuze litt, zu dem jungen Mann mit der Gitarre.
Um den Pfarrer nicht zu kränken, hielt er den Blick auf einen dunklen Lichtkreis an der Wand hinter der Kanzel gerichtet. Angesichts der dicken Brillengläser des Predigers nahm er an, dass seine mangelnde Anteilnahme nicht auffallen werde.
Während er so in der Wärme der kleinen Kirche saß, endlich in Sicherheit vor den Ungewissheiten seines großen Abenteuers, vor Fieber und Unwettern, den Gefahren der Stadt Washington, vor seiner Sucht, in Sicherheit davor, seelisch zu verkümmern, hatte Nate zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, den Eindruck, im Frieden mit sich selbst zu leben. Er fürchtete nichts. Gott zog ihn irgendwohin. Er wusste nicht, in welche Richtung, aber er empfand auch keine Angst. Hab Geduld, mahnte er sich.
Dann flüsterte er ein Gebet. Er dankte Gott, weil dieser sein Leben bewahrt hatte, und betete für Rachel, weil er wusste, dass auch sie für ihn betete.
Die innere Gelassenheit veranlasste ihn zu lächeln. Als das Gebet vorüber war, öffnete er die Augen und sah, dass ihm der Pfarrer zulächelte.
Nach dem Segen gingen alle am Pfarrer vorüber zum Ausgang, dankten ihm für die gelungene Predigt und äußerten sich zu dieser oder jener Neuigkeit aus der Gemeinde. Langsam schob sich die Schlange voran; es war ein allsonntäglich geübtes Ritual.
»Wie geht es Ihrer Tante?« fragte der Pfarrer jemanden aus seiner Herde und hörte dann aufmerksam zu, als die Gebrechen der Tante beschrieben wurde. »Wie geht es der Hüfte?« fragte er einen anderen. »Wie war es in Deutschland?« Er schüttelte jedem die Hand und beugte sich vor, um sich kein Wort entgehen zu lassen. Er wusste, was diese Menschen beschäftigte.
Nate wartete geduldig am Ende der Schlange. Kein Grund zur Eile. Er hatte nichts weiter zu tun. »Willkommen«, sagte der Geistliche, als er Nate schließlich an Hand und Unterarm ergriff. »Willkommen in der Dreifaltigkeitsgemeinde.« Er drückte Nate die Hand so fest, dass er sich fragte, ob er der erste Besucher seit Jahren war. »Ich heiße Nate O'Riley«, sagte er und fügte hinzu, »aus Washington«, als sei das irgendwie bezeichnend für ihn.
»Ich freue mich, dass Sie heute morgen bei uns waren«, sagte der Pfarrer, wobei seine großen Augen hinter den Brillengläsern tanzten. Aus der Nähe betrachtet, ließ sich an den Falten seines Gesichts erkennen, dass er mindestens fünfzig war. Er hatte mehr graue Locken als rote.
»Ich bin für ein paar Tage im Häuschen der Staffords«, sagte Nate.
»Ja, ja, ein herrliches Haus. Wann sind Sie gekommen?«
»Heute morgen.«
»Sind Sie allein?«
»Ja.«
»Nun, in dem Fall müssen Sie mit uns zu Mittag essen.«
Nate musste über diese unverblümte Gastfreundschaft lachen. »Nun, äh, danke, aber -«
Der Pfarrer erwiderte lächelnd: »Nein, wirklich! Wenn es schneit, macht meine Frau immer Lammeintopf. Er steht schon auf dem Herd. Wir haben im Winter kaum Gäste. Bitte, das Pfarrhaus ist gleich hinter der Kirche.« Nate war in den Händen eines Mannes, der seinen sonntäglichen Mittagstisch schon mit Hunderten geteilt hatte. »Wirklich, ich habe nur hereingeschaut, und ich -«
»Es würde uns große Freude machen«, sagte Phil, der Nate bereits am Ärmel zupfte und zurück zur Kanzel führte. »Was tun Sie in Washington?«
»Ich bin Anwalt«, sagte Nate. Eine ausführliche Antwort würde kompliziert werden.
»Und was führt Sie zu uns nach St. Michaels?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Wunderbar! Laura und ich lieben Geschichten. Wir wollen ganz gemütlich zu Mittag essen und uns gegenseitig Geschichten erzählen. Das wird sicher sehr interessant.« Seine Begeisterung war unwiderstehlich. Der arme Kerl war offensichtlich ausgehungert nach Gesprächsstoff. Warum eigentlich nicht? dachte Nate. In Joshs Häuschen gab es nichts zu essen, und alle Geschäfte schienen geschlossen zu sein.
Sie gingen an der Kanzel vorüber und durch eine Tür in den hinteren Teil der Kirche. Die Frau des Pfarrers löschte die Lichter. »Das ist Mr. O'Riley aus Washington«, sagte Phil mit lauter Stimme zu ihr. »Er hat sich bereit erklärt, mit uns zu Mittag zu essen.«
Lächelnd schüttelte sie ihm die Hand. Sie hatte kurzes, graues Haar und sah mindestens zehn Jahre älter aus als ihr Mann. Sofern ein Überraschungsgast an ihrem Tisch sie aus dem Konzept brachte, ließ sie sich das nicht anmerken. Nate hatte den Eindruck, dass so etwas ständig geschah. »Nennen Sie mich bitte Nate«, sagte er.
»In Ordnung«, erklärte der Pfarrer und zog sich den Talar aus.
Das Pfarrhaus, das auf eine Nebenstraße ging, stieß gleich an das Kirchengelände. Vorsichtig gingen sie durch den Schnee. »Wie war meine Predigt?« fragte der Pfarrer seine Frau, während sie zur Veranda emporstiegen. »Glänzend, mein Schatz«, sagte sie ohne die Spur von Begeisterung. Nate hörte lächelnd zu. Bestimmt hatte sein Gastgeber diese Frage seit Jahren jeden Sonntag an derselben Stelle und zum selben Zeitpunkt gestellt und immer wieder dieselbe Antwort bekommen.
Auch der letzte Zweifel, ob seine Teilnahme an der Mahlzeit schicklich sei, verpuffte, als er das Haus betrat. Der verlockende Geruch nach Lammeintopf hing in der Luft. Der Pfarrer schürte die orangefarben glühenden Kohlen im Kamin, während seine Frau die Mahlzeit auf den Tisch brachte.
Im schmalen Esszimmer zwischen Küche und Wohnzimmer war ein Tisch für vier Personen gedeckt. Nate war froh, die Einladung angenommen zu haben; allerdings hätte er auch gar keine Möglichkeit gehabt, sie abzulehnen.
»Wir sind wirklich froh, dass Sie hier sind«, sagte der Pfarrer, während sie sich setzten. »Ich hatte so ein Gefühl, dass wir heute einen Gast haben würden.«
»Wessen Platz ist das?« fragte Nate und wies mit dem Kopf zu dem leeren Gedeck hinüber.
»Wir decken sonntags immer für vier«, sagte die Frau ohne weitere Erklärung. Sie hielten einander bei den Händen, während der Pfarrer erneut Gott für den Schnee, die Jahreszeiten und das Essen dankte. Er schloss mit den Worten: »Und lass uns immer an die Bedürfnisse und Nöte der anderen denken.« Das weckte in Nate eine Erinnerung. Er hatte diese Worte schon einmal gehört, vor vielen, vielen Jahren.
Während die Schüssel von einem zum anderen ging, unterhielten sich Phil und Laura, wie vermutlich immer, über die Ereignisse des Vormittags. Den Elf-Uhr-Gottesdienst besuchten durchschnittlich vierzig Personen. Tatsächlich hatte der Schnee einige gehindert zu kommen, außerdem ging auf der Halbinsel die Grippe um. Nate beglückwünschte die beiden zur schlichten Schönheit ihrer Kirche. Sie waren seit sechs Jahren in St. Michaels. Schon bald sagte Laura: »Wenn man bedenkt, dass Januar ist, sind Sie erstaunlich braun. Das stammt doch bestimmt nicht aus Washington?«
»Nein. Ich komme gerade aus Brasilien zurück.« Die beiden hörten auf zu essen und beugten sich aufmerksam vor. Das Abenteuer begann erneut. Nate nahm einen großen Löffel Eintopf, der wirklich köstlich war, und fing an zu erzählen.
» Bitte, essen Sie doch «, forderte ihn Laura von Zeit zu Zeit auf. Nate nahm einen Bissen, kaute langsam und fuhr dann fort. Er sprach von Rachel lediglich als »Tochter eines Mandanten«. Die Unwetter wurden wilder, die Schlangen länger, das Boot kleiner, die Indianer weniger freundlich. Phils Augen tanzten vor Erstaunen, während Nate Kapitel um Kapitel erzählte.
Zum zweiten Mal seit seiner Rückkehr berichtete er seine Geschichte. Von kleinen Übertreibungen hier und da abgesehen, blieb er bei der Wahrheit. Selbst ihn erstaunte die Geschichte. Sie war in der Tat bemerkenswert, und seine Gastgeber kamen in den Genuss einer langen, ausgeschmückten Ve rsion, die sie mit Fragen unterbrachen, wo sie nur konnten.
Als Laura die Teller abgeräumt und zum Nachtisch kleine braune Kuchen aufgetragen hatte, waren Nate und Jevy gerade an der Ipica-Ansiedlung angekommen.
»War sie überrascht, Sie zu sehen?« fragte Phil, als Nate beschrieb, wie die Indianer ihm und Jevy die Frau aus dem Dorf entgegenführten.
»Eigentlich nicht«, sagte Nate. »Sie schien zu wissen, dass wir kommen würden.«
Nate gab sich größte Mühe, die Indianer und ihre Steinzeitkultur zu beschreiben, doch Worte waren der Wirklichkeit nicht gewachsen. Er aß zwei braune Kuchen, von denen er während kurzer Pausen in seinem Bericht jeweils große Stücke abbiss.
Anschließend gab es Kaffee. Am sonntäglichen Mittagstisch ging es bei Phil und Laura eher um Unterhaltung als um Nahrungsaufnahme. Nate fragte sich, wer als letzter das Glück gehabt haben mochte, zu Geschichten und Essen eingeladen zu werden.
Die Schrecken des Denguefiebers herunterzuspielen war schwierig, aber Nate bemühte sich mannhaft. Einige Tage im Krankenhaus, etwas Medizin, und er war wieder auf den Beinen. Als er fertig war, kamen die Fragen.
Phil wollte alles über die Missionarin wissen - welcher Kirche sie angehörte, Einzelheiten über ihren Glauben sowie über ihre Arbeit bei den Indianern. Lauras Schwester hatte fünfzehn Jahre in einem kirchlichen Krankenhaus in China gearbeitet; das bot Stoff für weitere Geschichten.
Es war fast drei Uhr, als Nate das Haus verließ. Seine Gastgeber hätten nur allzu gern weiter mit ihm am Esstisch oder im Wohnzimmer gesessen und wohl am liebsten bis zum Einbruch der Dunkelheit weiter geredet, aber Nate brauchte unbedingt etwas Bewegung. Er dankte ihnen für ihre Gastfreundschaft, und als er ihnen zum Abschied von der Veranda zuwinkte, hatte er den Eindruck, diese Menschen schon seit Jahren zu kennen.
Er brauchte eine Stunde, um den Ort zu durchwandern. Hundert Jahre alte Häuser säumten die schmalen Straßen. Alles war, wie es sich gehörte, kein Hund lief frei herum, es gab keine ungepflegten Grundstücke oder verlassenen Gebäude. Selbst den Schnee hatte man ordentlich und voll Sorgfalt beiseite geschaufelt, damit Straßen und Bürgersteige frei waren und kein Nachbar sich gekränkt fühlen musste. Nate blieb am Anleger stehen und bewunderte die Segelboote. Er hatte noch nie einen Fuß auf eines gesetzt.
Er beschloss, St. Michaels nur zu verlassen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Er würde in Joshs Häuschen wohnen und dort bleiben, bis ihn der Eigentümer höflich auf die Straße setzte. Er würde sein Geld sparen, und wenn der Fall Phelan vorüber war, würde er irgendeine Möglichkeit finden, sich weiter durchs Leben zu schla-gen.
In der Nähe des Hafens stieß er auf einen kleinen Lebensmittelladen, der gerade schließen wollte. Er kaufte Kaffee, Dosensuppen, Salzgebäck und Hafergrütze für das Frühstück. Nahe der Theke stand eine ganze Anzahl von Bierdosen. Er lächelte sie an, froh, dass diese Zeiten hinter ihm lagen.