SIEBENUNDVIERZIG

Die Befragung der Sekretärin Nicolette dauerte acht Minuten. Sie gab Namen, Anschrift und eine kurze Darstellung ihrer bisherigen Arbeitsplätze zu Protokoll, und die Phelan-Anwälte auf der anderen Seite des Tisches machten es sich auf ihren Stühlen bequem, um sich keine Einzelheit ihrer sexuellen Eskapaden mit Mr. Phelan entgehen zu lassen. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt und verfügte, abgesehen von einem schlanken Körper, einer beachtlichen Oberweite und einem hübschen Gesicht mit strohblondem Haar, kaum über Qualifikationen.

Sie konnten es gar nicht abwarten, mit anzuhören, wie sie ein paar Stunden über Sex redete.

Ohne Umwege steuerte Nate auf die Frage zu. »Hatten Sie je geschlechtliche Beziehungen mit Mr. Phelan?«

Sie gab sich Mühe, den Eindruck zu erwecken, als sei ihr die Frage peinlich, sagte aber ja.

»Wie oft?«

»Ich habe nicht gezählt.«

»Wie lange?«

»Gewöhnlich zehn Minuten.«

»Nein, ich meine, über welchen Zeitraum hat sich die Beziehung erstreckt? In welchem Monat hat sie angefangen, und wann war sie zu Ende?«

»Ich habe nur fünf Monate dort gearbeitet.«

»Rund gerechnet zwanzig Wochen. Wie oft pro Woche hatten Sie durchschnittlich Sex mit Mr. Phelan?«

»Ich glaube, zweimal.«

»Also insgesamt vierzigmal.«

»Möglich. Das klingt nach ziemlich viel, was?«

»Finde ich nicht. Hat sich Mr. Phelan dabei ausgezogen?«

»Klar. Wir haben uns beide ausgezogen.«

»Das heißt, er war vollständig nackt?«

»Ja.«

»Hatte er irgendwelche Muttermale?«

Zeugen, die sich aufs Lügen verlegen, übersehen oft das Nächstliegende. Das gilt auch für ihre Anwälte. Sie beschäftigen sich so gründlich mit allem, was sie sich aus den Fingern saugen, dass sie dabei die eine oder andere Tatsache übersehen. Hark und seine Kollegen hätten von Phelans früheren Ehefrauen - Eillian, Janie und Tira - ohne die geringste Mühe erfahren können, dass Troy unmittelbar unter der Taille auf dem rechten Oberschenkel ein rundes Muttermal von der Größe eines Silberdollars gehabt hatte.

»Soweit ich mich erinnere, nicht«, antwortete Nicolette.

Die Antwort überraschte Nate erst, doch als er darüber nachdachte, kam sie ihmweniger überraschend vor. Er hätte ohne weiteres geglaubt, dass Troy seine Sekretärin umlegte - das hatte er jahrzehntelang getan. Ebenso konnte er sich vorstellen, dass Nicolette log.

»Keine sichtbaren Muttermale?« fragte Nate erneut.

»Nein.«

Die Phelan-Anwälte beschlich Angst. War es möglich, dass da der nächste ihrer Hauptzeugen vor ihren Augen demontiert wurde?«

»Keine weiteren Fragen«, sagte Nate und verließ den Raum, um sich eine weitere Tasse Kaffee einzugießen. Nicolette sah zu den Anwälten hinüber. Sie hatten die Blicke auf den Tisch gesenkt und überlegten angestrengt, was für ein Muttermal Troy wohl gehabt haben mochte.

Nachdem sie gegangen war, schob Nate seinen verwirrten Gegnern wortlos ein Foto über den Tisch, das bei der Obduktion gemacht worden war. Es war nicht nötig, etwas dazu zu sagen. Der alte Troy lag auf dem Seziertisch, ein Haufen verwelktes und übel zugerichtetes Fleisch, von welchem dem Betrachter das Muttermal entgegenstarrte.

Sie brachten den Rest des Mittwochs und den ganzen Donnerstag mit den vier neuen Psychiatern zu, die mit dem Auftrag verpflichtet worden waren zu sagen, dass die drei ersten keine Ahnung hatten. Ihre Außage war vorhersehbar und wiederholte immer dasselbe: Kein geistig gesunder Mensch springt über eine Terrassenbrüstung.

Sie waren auf ihrem Gebiet keine solchen Koryphäen wie Flowe, Zadel und Theishen. Zwei waren pensioniert und verdienten sich hier und da als Gutachter etwas hinzu. Einer lehrte an einem nicht besonders angesehenen College, und der letzte schlug sich mit einer kleinen Beratungspraxis in einem Vorort Washingtons recht und schlecht durchs Leben.

Aber man hatte sie auch nicht dafür bezahlt, dass sie Eindruck machten; sie sollten lediglich mit ihrer Außage die Sache noch verworrener erscheinen lassen. Es war allgemein bekannt, dass Troy Phelan wunderlich und sprunghaft gewesen war. Vier Gutachter erklärten, dass er nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war und daher kein gültiges Testament hatte abfassen können, drei hingegen sagten das Gegenteil. Wenn man die Sache nur lange genug als kompliziert und verwickelt darstellte, durfte man darauf hoffen, dass diejenigen, die das Testament als gültig ansahen, der Auseinandersetzung eines Tages müde wurden und sich zu einem Vergleich bereit fanden. Falls aber nicht, würde es Aufgabe einer Gruppe fachunkundiger Geschworener sein, sich durch den Wust von Fachbegriffen durchzuarbeiten und zu entscheiden, welche der widersprüchlichen Äußerungen richtig sein mochte.

Die neuen Gutachter bekamen ein großzügiges Honorar dafür, dass sie bei ihrer Meinung blieben, und Nate gab sich keine Mühe, sie davon abzubringen. Er hatte genug Ärzte verhört, um zu wissen, dass es sinnlos gewesen wäre, auf fachlicher Ebene mit ihnen in ein Streitgespräch einzutreten. Statt dessen konzentrierte er sich auf ihre Zeugnisse, Referenzen und Berufserfahrung. Er verlangte, dass sie sich das Videoband ansahen und die drei früheren Psychiater kritisierten.

Als man sich am Donnerstag Nachmittag trennte, waren fünfzehn Befragungen durchgeführt. Eine weitere Runde war für Ende März vorgesehen, und das gerichtliche Verfahren, das die Entscheidung bringen würde, hatte Wycliff für Mitte Juli angesetzt. Dieselben Zeugen würden noch einmal Aussagen müssen, dann aber im Gerichtssaal, wo das Publikum und die Geschworenen jedes ihrer Worte auf die Goldwaage legen würden.

Nate floh aus der Stadt. Er fuhr in westlicher Richtung durch Virginia, dann nach Süden durch das Shenandoah-Tal. Er war wie benommen von den neun Tagen, an denen er rücksichtslos im Privatleben anderer herumgestochert hatte. Zu irgendeinem Zeitpunkt in seinem Leben, an den er sich nicht mehr erinnern konnte, hatte er unter dem Druck seiner Arbeit und seiner Sucht jedes Schamgefühl und jeden Anstand verloren. Er hatte gelernt, ohne den geringsten Anflug von Schuldbewusstsein zu lügen, zu täuschen, zu betrügen, Versteck zu spielen sowie unschuldige Zeugen in die Enge zu treiben und ihnen erbarmungslos zuzusetzen.

Doch in der Stille seines Autos und der Dunkelheit der Nacht schämte er sich jetzt. Er empfand Mitgefühl für Troy Phelans Kinder, und sogar Snead tat ihm leid, ein trauriger, unbedeutender Mensch, der zu überleben versuchte. Nate wünschte, er hätte die neuen Gutachter nicht so heftig angegriffen.

Er freute sich, dass sein Schamgefühl zurückgekehrt war. Er war stolz, dass er wieder so empfinden konnte. Immerhin war er ein Mensch.

Um Mitternacht machte er an einem billigen Motel nahe Knoxville halt. Im Mittleren Westen, in Kansas und lowa, gab es heftige Schneefälle. Während er im Bett lag, plante er mit dem Straßenatlas seine Route durch den Südwesten.

Die zweite Nacht verbrachte er in Shawnee im Staat Oklahoma; die dritte in Kingman, Arizona, und die vierte in Redding, Kalifornien.

Austin und Angela, seine Kinder aus zweiter Ehe, waren zwölf und elf Jahre alt und gingen in die siebte und sechste Klasse. Zuletzt hatte er sie im Juli des vergangenen Jahres gesehen, drei Wochen vor seinem letzten Rückfall, als er mit ihnen zu einem Spiel der Orioles gefahren war. Was als schöner Ausflug begonnen hatte, hatte ein hässliches Ende genommen. Im Verlauf des Spiels hatte Nate sechs Bier getrunken - die Kinder hatten mitgezählt, da ihre Mutter sie dazu angehalten hatte - und war in diesem Zustand zwei Stunden von Baltimore nach Arlington gefahren.

Damals stand der Umzug der Kinder mit ihrer Mutter Christi und deren zweitem Mann Theo nach Oregon bevor. Der Besuch des Baseball-Spiels wäre für eine geraume Zeit die letzte Begegnung mit seinen Kindern gewesen, doch statt das Zusammensein mit ihnen zu genießen, hatte er sich betrunken. Er hatte sich vor den Augen der Kinder, die solche Szenen nur allzu gut kannten, mit seiner früheren Frau auf der Auffahrt ihres Hauses gestritten, und Theo hatte ihm mit einem Besenstiel gedroht. Später war Nate, einen leeren Sechserpack auf dem Beifahrersitz neben sich, in seinem Auto aufgewacht, das auf einem Behindertenparkplatz vor einem McDonald's stand, ohne dass er hätte sagen können, wie es dorthin gekommen war.

Als er Christi vierzehn Jahre zuvor als eine der Geschworenen bei einem Prozess kennengelernt hatte, in dem er

als Anwalt auftrat, war sie Leiterin einer Privatschule in Potomac gewesen. Am zweiten Prozesstag trug sie einen kurzen schwarzen Rock, und die Verhandlung kam praktisch zum Stillstand. Eine Woche später hatten sie ihre erste Verabredung. Drei Jahre lang hielt sich Nate von Alkohol und Drogen fern, was genügte, um wieder zu heiraten und zwei Kinder in die Welt zu setzen. Als der Damm erste Risse zeigte, bekam Christi Angst und wollte davonlaufen, und als er wirklich brach, floh sie mit den Kindern. Sie kehrte ein ganzes Jahr nicht zurück. Die Ehe dauerte zehn chaotische Jahre.

Jetzt arbeitete sie an einer Schule in Salem, wo Theo als Anwalt in einer kleinen Kanzlei tätig war. Nate war überzeugt, dass er Christi und die Kinder aus Washington vertrieben hatte. Er konnte ihnen keinen Vorwurf machen, dass sie an die Westküste geflohen waren.

Als er in Medford angekommen war, etwa vier Autostunden von ihrem Wohnort entfernt, rief er aus dem Wagen in der Schule an. Er musste fünf Minuten warten - sicher brauchte sie die Zeit, um ihre Tür abzuschließen und sich zu sammeln. »Hallo«, sagte sie schließlich.

»Christi, ich bin's, Nate.« Er kam sich albern vor, dass er einer Frau, mit der er zehn Jahre zusammengelebt hatte, am Telefon sagte, wer er war.

»Wo bist du?« fragte sie, als stehe ein Angriff bevor.

»In der Nähe von Medford.«

»In Oregon?«

»Ja. Ich möchte gern die Kinder besuchen.«

»Wann?«

»Heute abend oder morgen. Ich hab's nicht eilig. Ich bin seit ein paar Tagen ohne festen Reiseplan unterwegs und sehe mir die Gegend an.«

»Bestimmt können wir was arrangieren, Nate. Aber die Kinder haben reichlich zu tun, du weißt schon, Schule, Ballett, Fußball.«

»Wie geht es ihnen?«

»Sehr gut. Schön, dass du fragst.«

»Und dir?«

»Gut. Uns gefällt es in Oregon.«

»Mir geht es auch gut. Schön, dass du fragst. Ich bin clean und nüchtern, Christi, wirklich. Ich habe den Alkohol und die Drogen für immer zum Teufel gejagt. Vermutlich höre ich als Anwalt auf, aber es geht mir wirklich gut.«

Das hatte sie schon früher gehört. »Das ist schön, Nate.« Es klang zurückhaltend. Offenbar überlegte sie immer zwei Sätze im voraus, was sie sagen würde.

Sie verabredeten sich für den folgenden Abend zum Essen. Das gab ihr genug Zeit, die Kinder vorzubereiten, im Haus aufzuräumen, und auch Theo konnte sich überlegen, wie er sich zu der Sache stellen wollte. Es war genug Zeit, sich Ausflüchte zu überlegen und Ausreden einzustudieren.

»Ich will euch nicht zur Last fallen«, versprach Nate und legte auf.

Theo beschloss, bis zum späten Abend zu arbeiten und sich das Zusammentreffen zu ersparen. Nate drückte Angela kräftig an sich. Austin schüttelte ihm einfach die Hand. Nate hatte sich vorgenommen, auf keinen Fall sein Erstaunen darüber zu äußern, wie sehr die Kinder gewachsen waren. Christi trödelte eine geschlagene Stunde in ihrem Zimmer herum, während Nate seine Bekanntschaft mit den Kindern erneuerte.

Er war entschlossen, sie nicht mit Entschuldigungen für Dinge zu überhäufen, an denen er nichts mehr ändern konnte. Sie saßen im Wohnzimmer auf dem Fußboden und unterhielten sich über Schule, Ballett und Fußball. Salem war ein hübsches Städtchen, viel kleiner als Washington, die Kinder hatten sich gut ein- "| gelebt, hatten viele Freunde, eine gute Schule und angenehme Lehrer.

Zum Abendessen, das eine volle Stunde dauerte, gab es Spaghetti und Salat. Nate berichtete, was er im brasilianischen Urwald auf der Suche nach seiner Mandantin erlebt hatte. Offensichtlich hatte Christi nicht die richtigen Zeitungen gelesen, denn sie wusste nichts von der Phelan-Sache.

Um Punkt sieben sagte Nate, er müsse gehen. Die Kinder hatten Hausaufgaben zu erledigen und mussten am nächsten Morgen früh zur Schule. »Ich habe morgen ein Fußballspiel, Papa«, sagte Austin. Nate wäre fast das Herz stehen geblieben. Er konnte sich nicht erinnern, wann jemand zuletzt Papa zu ihm gesagt hatte.

»Es ist in der Schule«, sagte Angela. »Könntest du da nicht kommen?«

Einen Augenblick lang sahen alle einander unbehaglich an. Nate wusste nicht, was er sagen sollte.

Christi rettete die Situation, indem sie sagte: »Ich gehe hin. Wir könnten uns dann dort unterhalten.«

»Natürlich komme ich«, sagte Nate. Die Kinder umarmten ihn zum Abschied. Während er fortfuhr, argwöhnte Nate, dass Christi ihn nur deshalb an zwei aufeinanderfolgenden Tagen sehen wollte, um seine Augen zu studieren. Sie kannte die Anzeichen.

Er blieb drei Tage in Salem. Er sah sich das Fußballspiel an und platzte vor Stolz auf seinen Sohn. Als er wieder zum Abendessen eingeladen wurde, erklärte er, nur kommen zu wollen, wenn auch Theo teilnähme. Zu Mittag aß er mit Angela und ihren Freundinnen in der Schulkantine.

Nach drei Tagen war es Zeit zum Aufbruch. Die Kinder brauchten ihren normalen Tagesablauf, ohne die Komplikationen, die Nates Besuch mit sich brachte. Christi hatte es satt, so tun zu müssen, als wäre nie etwas zwischen ihnen geschehen, und Nate fühlte sich zu sehr zu seinen Kindern hingezogen. Er versprach anzurufen, E-

Mails zu schicken und sie bald wieder zu besuchen.

Er verließ Salem mit gebrochenem Herzen. Wie tief konnte ein Mann sinken, dass er eine so großartige Familie aufgab? Er konnte sich an fast nichts aus Angelas und Austins früher Kindheit erinnern - keine Schultheaterauf-führungen, Halloween-Verkleidungen, Weihnachtsbescherungen, gemeinsame Fahrten zum Einkaufszentrum.

Jetzt waren sie so gut wie erwachsen, und ein anderer Mann zog sie auf.

Er wandte sich ostwärts und ließ sich mit dem Verkehr treiben.

Während Nate ziellos durch Montana fuhr und an Rachel dachte, reichte Hark Gettys einen Antrag auf Abweisung ihrer Stellungnahme zur Testamentsanfechtung ein. Seine Gründe waren klar und unabweisbar, und er untermauerte seinen Antrag mit einem zwanzigseitigen Schriftsatz, an dem er einen ganzen Monat gefeilt hatte. Man schrieb den 7. März. Nahezu drei Monate nach Troy Phelans Tod, nicht ganz zwei Monate, nachdem Nate O'Riley hinzugezogen worden war, fast drei Wochen nach Beginn des Vorverfahrens und vier Monate vor der Verhandlung war das Gericht immer noch nicht für Rachel Lane zuständig. Außer den auf nichts Greifbares gestützten Behauptungen ihres Anwalts gab es kein Eebenszeichen von ihr. Keines der dem Gericht vorliegenden Dokumente trug ihre Unterschrift.

Hark bezeichnete sie in seinem Antrag als »Phantom« und erklärte, er und die Antragsteller kämpften gegen einen Schatten. Die Frau solle schließlich elf Milliarden Dollar erben. Sie könne zumindest die erforderliche Gerichtsstandvereinbarung unterschreiben. Wenn sie sich die Mühe gemacht habe, einen Anwalt zu beauftragen, könne sie sich gewiss auch der Zuständigkeit des Gerichts unterwerfen.

Je mehr Zeit verstrich, desto günstiger schien es um die Sache der Phelan-Kinder zu stehen. Trotzdem fiel es ihnen schwer, Geduld zu bewahren, während sie von ihrem unermesslichen Reichtum träumten. Sie durften jede Woche, die ohne Lebenszeichen von Rachel verging, als weiteren Beweis dafür verbuchen, dass sie kein Interesse an dem Verfahren hatte. Bei ihren Freitagvormittag-Sitzungen gingen die Phelan-Anwälte noch einmal die Zeugenbefragung durch, sprachen über ihre Mandanten und brachten letzte Korrekturen an ihrer Prozessstrategie an. Die meiste Zeit aber spekulierten sie über die Gründe, die Rachel haben mochte, sich dem Gericht gegenüber nicht auszuweisen. Die lachhafte Vorstellung, dass sie das Geld möglicherweise nicht wollte, ließ ihnen keine Ruhe. Der bloße Gedanke war widersinnig, tauchte aber trotzdem jeden Freitagmorgen erneut auf.

Aus den Wochen wurden Monate. Die Lottokönigin erschien nicht, um ihren Gewinn abzuholen.

Es gab einen weiteren wichtigen Grund, Druck auf die Verwalter von Troys Vermögen auszuüben, und der hieß Snead. Hark, Yancy, Bright und Langhorne hatten die Aufzeichnung der Befragung ihres Hauptzeugen so oft angesehen, bis sie sie auswendig konnten. Sie waren unsicher, ob er imstande sein würde, Geschworene auf seine Seite zu ziehen. Nate O'Riley hatte ihn zum Narren gemacht, und dabei hatte es sich lediglich um eine Befragung gehandelt. Man konnte sich vorstellen, welche Waffen er bei einem Prozess aufbieten würde, über dessen Ausgang Geschworene zu entscheiden hatten, vorwiegend Menschen aus der Mittelschicht, denen es schwerfiel, Monat für Monat ihre Rechnungen zu bezahlen. Dass Snead eine halbe Million eingesteckt hatte, um seine Geschichte zu erzählen, würde bei ihnen nicht gut ankommen.

Die Schwierigkeit mit Snead lag auf der Hand. Er log, und Lügen haben vor Gericht meist kurze Beine. Nachdem er bei der Befragung so versagt hatte, waren den Anwälten die größten Bedenken gekommen, ihn vor den Geschworenen auftreten zu lassen. Sofern auch nur eine oder zwei weitere Lügen aufgedeckt wurden, konnten sie alle Hoffnungen begraben.

Durch die Sache mit dem Muttermal war Nicolette als Zeugin völlig nutzlos geworden.

Ihre eigenen Mandanten waren auch nicht besonders sympathisch. Mit Ausnahme Rambles, der den unangenehmsten Eindruck machte, war jeder von ihnen von seinem Vater mit einem Startkapital von fünf Millionen Dollar ins Leben geschickt worden - so viel würde keiner der Geschworenen in seinem ganzen Leben verdienen. Troys Kinder konnten darauf hinweisen, dass ihr Vater sich an ihrer Erziehung nicht beteiligt hatte, doch kam vermutlich die Hälfte der Geschworenen aus zerrütteten Familien.

Am meisten Sorgen aber machten ihnen die Psychiater. Sie wären nie und nimmer imstande, Nate O'Rileys erbarmungslosem Kreuzverhör standzuhalten, eines Mannes, der über zwanzig Jahre lang Ärzten nach allen Regeln der Kunst im Gerichtssaal die Hölle heiß gemacht hatte.

Um einen Prozess zu vermeiden, mussten sie unbedingt einen außergerichtlichen Vergleich anstreben. Dazu aber war es unerlässlich, auf der Gegenseite einen Schwachpunkt zu entdecken. Rachel Lanes offenkundiger Mangel an Interesse war mehr als hinreichend und mit Sicherheit ihre beste Chance.

Josh war voll Bewunderung für Harks Abweisungsantrag. Er begeisterte sich für juristische Taktik und Winkelzüge, und wenn jemandem ein solches Manöver fehlerfrei gelang, applaudierte er im stillen, selbst wenn es sich um einen Gegner handelte. Alles an Harks Vorgehen war perfekt - der Zeitpunkt, die Begründung, der brillant aufgebaute Schriftsatz.

Zwar stand die Sache der von Troy Phelan getäuschten Erben auf schwachen Füssen, doch waren ihre Schwierigkeiten nichts im Vergleich mit denen Nates, der keine Mandantin hatte. Wohl war es ihm im Verein mit Josh gelungen, das zwei Monate lang zu vertuschen, doch inzwischen ließ sich niemand mehr von dieser List täuschen.

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