VIERZIG

Grit bekam sein Mandat per Fax und E-Mail entzogen, was in seiner Kanzlei bisher noch nie vorgekommen war. Absenderin war Mary ROSS, die ihn am frühen Montag morgen nach einem Wochenende mit ihren Brüdern, bei dem es hoch hergegangen war, von ihrer Entscheidung in Kenntnis setzte.

Der Anwalt dachte nicht daran, so ohne weiteres von der Bildfläche zu verschwinden. Er faxte Mary ROSS umgehend eine Rechnung für seine bisherigen Bemühungen zu: rund hundert-fünfzig Stunden zu je sechshundert Dollar, also insgesamt fast neunzigtausend Dollar. Verglichen mit dem Betrag, auf den er bei einer außergerichtlichen Einigung oder einem anderen günstigen Ergebnis Anspruch gehabt hätte, war das mehr als dürftig. Was sollte er mit sechshundert Dollar die Stunde? Er wollte ein ordentlichen Stück vom Kuchen, einen Anteil von dem, was er für seine Mandantin herauszuholen gedachte, nämlich die fünfundzwanzig Prozent, auf die er sich mit ihr geeinigt hatte. Grit hatte mit Millionen gerechnet und starrte jetzt in seinem verschlossenen Büro fassungslos das Fax an. Es war doch nicht möglich, dass ihm da ein Vermögen durch die Finger geglitten war! Er war fest überzeugt, dass die Verwalter von Phelans Nachlass nach einigen Monaten eines mit harten Bandagen geführten Kampfes um das Erbe einer einvernehmlichen Lösung zugestimmt hätten. Selbst, wenn man jedem der sechs Nachkommen nur zwanzig Millionen zubilligte, auf die sich diese wie verhungerte Straßenköter stürzen würden, bliebe das Phelan-Vermögen nach wie vor so gut wie unangetastet. Zwanzig Millionen für seine Mandantin wären fünf Millionen für ihn, und allein in seinem Büro musste Grit zugeben, dass er bereits überlegt hatte, wie er sie verbraten wollte.

Er rief Hark Gettys Kanzlei an, um ihn zu beschimpfen, erfuhr aber, dass Mr. Gettys im Augenblick unabkömmlich sei.

Mittlerweile vertrat Mr. Gettys drei der vier Kinder aus Troy Phelans erster Ehe. Sein prozentualer Anteil war von fünfundzwanzig über zwanzig auf siebzehneinhalb Prozent zurückgegangen; aber die Hebelwirkung war enorm.

Er betrat kurz nach zehn den Besprechungsraum seiner Kanzlei, begrüßte die verbliebenen Anwälte der Phelan-Nachkommen, die dort zu einer wichtigen Sitzung zusammengekommen waren, und sagte munter: »Ich habe Ihnen mitzuteilen, dass sich Mr. Grit nicht mehr mit dem Fall beschäftigt. Mary ROSS Phelan Jackson, seine ehemalige Mandantin, hat mich mit der Vertretung ihrer Interessen betraut, und ich habe mich nach längerem Überlegen dazu bereit erklärt.«

Seine Worte trafen die um den Konferenztisch Versammelten wie eine kleine Bombe. Yancy strich sich den schütteren Bart und überlegte, mit Hilfe welcher Druckmittel es dem Kollegen gelungen sein mochte, die Frau aus Grits Fängen zu lösen. Er selbst fühlte sich recht sicher. Zwar hatte Rambles Mutter alles getan, was sie konnte, um ihren Sohn zu veranlassen, dass er seinen Anwalt wechselte, aber der Junge konnte seine Mutter nicht außtehen.

Auch Ms. Eanghorne war überrascht, zumal da Hark gerade erst Troy Junior als Mandanten gewonnen hatte.

Ihre Mandantin, Geena Phelan Strong, verabscheute ihre älteren Halbgeschwister und würde sich bestimmt nicht vom selben Anwalt vertreten lassen. Trotzdem war eine Krisensitzung mit Geena und Cody erforderlich. Sie würde die beiden gleich nach Ende der Besprechung zum Mittagessen ins Promenade in der Nähe des Capitols einladen. Mit etwas Glück konnten sie einen flüchtigen Blick auf einen der mächtigen Männer erhaschen, die den Lauf der Räder der politischen Maschinerie aus der zweiten Reihe heraus bestimmen.

Wally Brights Nacken verfärbte sich bei Harks Mitteilung rot. Offensichtlich betrieb der Kollege Mandantenraub. Als einziges der Kinder aus Troys erster Ehe befand sich Libbigail noch außerhalb seines Einflussbereichs, und Wally Bright war entschlossen, Hark umzubringen, falls er versuchen sollte, sie ihm abspenstig zu machen. »Hände weg von meiner Mandantin, verstanden?« sagte er laut und verbittert, und alle Anwesenden erstarrten. »Immer mit der Ruhe.«

»Das könnte Ihnen so passen! Wie soll man ruhig bleiben, wenn Sie Ihren Kollegen die Mandanten abjagen?« »Ich habe Mrs. Jackman niemandem abgejagt. Sie hat mich angerufen, nicht ich sie.«

»Wir wissen, welches Spiel Sie spielen, Hark. Wir sind nicht dumm.« Während Wally das sagte, sah er seine Kollegen an. Bestimmt hielt sich keiner von ihnen für dumm, aber sie waren sich nicht so sicher, was Wally betraf. Doch eines war klar: Niemand konnte dem anderen trauen. Wo so viel Geld auf dem Spiel stand, musste man mit allem rechnen, auch damit, dass einem ein Kollege das Messer an den Hals setzte.

Dann wurde Snead hereingeführt, und die Aufmerksamkeit aller richtete sich auf einen anderen Gegenstand.

Hark stellte ihn den Versammelten vor. Der arme Snead, der am Ende des Tisches vor zwei Videokameras Platz nahm, sah aus, als stünde er einem Erschießungskommando gegenüber. »Kein Grund zur Sorge«, versuchte Hark ihn zu beruhigen. »Das ist nur eine Probe.« Die Anwälte zogen Schreibblocks mit vorbereiteten Fragen hervor

und schoben sich näher an Snead heran.

Hark trat hinter den Mann, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: »Sehen Sie, Mr. Snead, wenn Sie Ihre Außage machen, haben die Anwälte der Gegenseite das Recht, Sie als erste zu befragen. Tun Sie also während der nächsten Stunde mal so, als wären wir der Feind. Einverstanden?«

Zwar war deutlich zu sehen, dass Snead damit nicht einverstanden war, aber er hatte das Geld genommen und musste mitspielen.

Hark nahm seine Notizen zur Hand und machte sich daran, Fragen zu stellen. Es ging um einfache Dinge wie sein Geburtsdatum, seine Familienverhältnisse, seine Schulausbildung und dergleichen, und Snead kam gut damit zurecht. Dann ging es um

die ersten Jahre in Mr. Phelans Dienst, worauf tausend Fragen folgten, die mit der Sache nicht das geringste zu tun zu haben schienen.

Nach einer kurzen Pause übernahm Ms. Langhorne die Befragung und wollte von Snead allerlei Einzelheiten zu den verschiedenen Familien Phelan wissen, angefangen von den Ehefrauen und den Kindern bis hin zu den Scheidungen und den diversen Geliebten. Sneads Ansicht nach war all das völlig überflüssige Schmutzwäsche, doch den Anwälten schien es Spaß zu machen.

»Wussten Sie von der Existenz Rachel Lanes?« fragte Eanghorne.

Snead überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Daran habe ich nicht gedacht.« Das hieß im Klartext, dass man ihm bei der Antwort helfen musste. »Was meinen Sie?« fragte er Mr. Gettys.

Hark fiel sofort etwas ein. »Meiner Ansicht nach wissen Sie alles über Mr. Phelan, insbesondere was seine Weibergeschichten und seine Nachkommen angeht. Nichts ist Ihnen entgangen. Der Alte hat Ihnen alles anvertraut, auch, dass er eine uneheliche Tochter hatte. Sie war zehn oder elf, als Sie bei Mr. Phelan angefangen haben. Er hat sich im Laufe der Jahre darum bemüht, in Kontakt mit ihr zu treten, aber sie wollte nichts von ihm wissen.

Ich könnte mir vorstellen, dass ihn das tief getroffen hat. Da er ein Mensch war, der immer bekam, was er haben wollte, hat sich sein Schmerz in Wut verwandelt, als ihn Rachel links liegen ließ. Ich könnte mir vorstellen, dass er sie regelrecht gehasst hat. Aus diesem Grunde liefert die Tatsache, dass er sie als Universalerbin eingesetzt hat, einen unübersehbaren Hinweis darauf, dass er völlig verrückt war.«

Wieder einmal hatte Snead Grund zu bewundern, wie flink Hark eine Geschichte aus dem Nichts herbeizaubern konnte. Sogar seine Kollegen waren beeindruckt. »Was glauben Sie?« fragte Hark in die Runde.

Die anderen Anwälte nickten zustimmend. »Er sollte alles in Erfahrung bringen, was sich über Rachel ermitteln lässt«, sagte Bright.

Dann wiederholte Snead für die Kameras, was ihm Hark gerade souffliert hatte, wobei er eine beachtliche Fähigkeit an den Tag legte, ein vorgegebenes Thema auszuschmücken. Als er fertig war, konnten die Anwälte ihre Zufriedenheit nicht verbergen. Der Kerl würde sagen, was man von ihm erwartete - und es gab niemanden, der ihm widersprechen könnte.

Immer, wenn Snead eine Frage gestellt wurde, bei der er Hilfe brauchte, sagte er: »Daran habe ich nicht gedacht«, und die Anwälte sprangen ihm bei. Hark, der die schwachen Stellen vorauszuahnen schien, hatte gewöhnlich sogleich etwas Passendes zur Hand. Doch immer wieder gab es auch für die anderen Anwälte Gelegenheiten, Lücken mit erfundenen Details zu füllen, und jeder war bestrebt zu zeigen, wie gut er lügen konnte.

So wurde Schicht um Schicht aufgetragen, poliert und sorgfältig überarbeitet, um ohne jeden Zweifel zu beweisen, dass Mr. Phelan an dem Vormittag, da er sein letztes Testament verfasst hatte, nicht bei Verstand gewesen war. Die Anwälte trainierten Snead, und er erwies sich als gelehriger Schüler. Unter Umständen war er zu gelehrig, fürchteten sie und machten sich Sorgen, dass er zuviel sagen könnte. Seine Glaubwürdigkeit war unbestreitbar. In seiner Außage durfte es keine Unstimmigkeiten geben.

Drei Stunden lang arbeiteten sie an seiner Außage und bemühten sich dann zwei weitere Stunden hindurch, sie mit einem erbarmungslosen Kreuzverhör in Stücke zu fetzen. Snead bekam kein Mittagessen. Er wurde verhöhnt und als Lügner hingestellt. Einmal hätte ihn Ms. Langhorne fast zum Weinen gebracht. Als er erschöpft war und kurz vor dem Zusammenbruch stand, schickte man ihn mit einem Stapel Videokassetten und der Aufforderung nach Hause, sie immer wieder gründlich durchzugehen.

Man teilte ihm mit, dass man im gegenwärtigen Stadium noch nichts mit ihm anfangen könne, da seine Aussagen noch nicht hieb- und stichfest seien. Müde und verwirrt fuhr der arme Snead in seinem neuen Range Rover nach Hause, entschlossen, seine Lügen so lange zu proben, bis ihm die Anwälte Beifall zollten.

Richter Wycliff genoss es, mit Josh im Richterzimmer zu Mittag zu essen. Wie beim vorigen Mal hatte Josh Sandwiches aus einer von einem Griechen betriebenen Imbissstube in der Nähe des Dupont Circle mitgebracht. Er packte sie aus und stellte auch Eistee und Gewürzgürkchen auf den kleinen Ecktisch. Während sie aßen, redeten sie zuerst über ihre berufliche Überlastung, kamen dann aber rasch auf den Phelan-Nachlaß zu sprechen. Irgend etwas musste geschehen sein, sonst wäre Josh nicht gekommen.

»Wir haben Rachel Lane gefunden«, sagte er schließlich.

»Großartig. Wo?« Die Erleichterung auf Wycliffs Zügen war unübersehbar.

» Sie will, dass wir das nicht bekannt geben. Jedenfalls nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt.«

»Ist sie hier im Lande?« Der Richter vergaß, in sein mit Corned beef belegtes Brötchen zu beißen.

»Nein. Sie befindet sich an einem sehr abgelegenen Ort der Erde und möchte auch sehr gern dort bleiben.«

»Wie haben Sie sie gefunden?«

»Ihr Anwalt hat sie aufgespürt.«

»Wer ist das?«

»Ein früherer Partner meiner Kanzlei, der aber schon im August ausgeschieden ist. Er heißt Nate O'Riley.«

Wycliff kniff die Augen zusammen und dachte darüber nach. »Was für ein sonderbarer Zufall. Sie läßt sich von einem ehemaligen Partner der Kanzlei vertreten, mit der ihr Vater verbunden war.«

»Von einem Zufall kann keine Rede sein. Als Nachlaßverwalter musste ich unbedingt mit ihr in Kontakt treten. Also habe ich O'Riley gebeten, sie zu suchen. Er hat sie gefunden, und sie hat ihn mit ihrer Vertretung beauftragt. Eigentlich ist das ganz einfach.«

»Wann wird sie vor Gericht auftreten?«

»Ich bezweifle, dass sie persönlich erscheinen wird.«

»Und was ist mit der Annahme - oder Verzichtserklärung?«

»Wird nachgereicht. Die Frau ist sehr sprunghaft. Offen gestanden kenne ich zur Zeit ihre Pläne überhaupt noch nicht.«

»Wir haben es mit einer Anfechtungsklage zu tun, Josh. Die Sache lässt sich nicht länger hinauszögern. Sie muss dem Gericht zur Verfügung stehen.«

»Sie wird von einem Anwalt vertreten, der ihre Interessen wahrnimmt. Wir können also den Kampf eröffnen. Ich schlage vor, wir teilen der Gegenseite mit, dass wir die Erbin gefunden haben. Dann wird man ja sehen, was sie dagegen aufbieten können. «

»Kann ich mit ihr sprechen?«

»Unmöglich.«

»Na hören Sie, Josh!«

»Ich schwöre es. Sehen Sie, sie ist als Missionarin in einer sehr entlegenen Gegend tätig, in einer anderen Hemisphäre. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Ich möchte mit Mr. O'Riley sprechen.«

»Wann?«

Wycliff trat an seinen Schreibtisch und griff nach einem der Terminkalender, die seinen Lebensrhythmus bestimmten: Anhörungen, Prozesse, Anträge. Außerdem führte seine Sekretärin einen Kalender für die allgemeinen Termine. »Wie war's mit diesem Mittwoch?«

»Schön. Zum Mittagessen. Nur wir drei, ganz unter uns.«

»Klar.«

Nate O'Riley hatte vorgehabt, den ganzen Vormittag hindurch zu lesen und zu schreiben. Dies Vorhaben aber durchkreuzte ein Anruf des Pfarrers. »Sind Sie gerade sehr beschäftigt?« fragte er mit seiner kräftigen Stimme. »Eigentlich nicht«, sagte Nate. Er saß mit einer Steppdecke auf den Knien in einem bequemen Ledersessel am Kamin, trank Kaffee und las Mark Twain.

»Bestimmt nicht?«

»Bestimmt nicht.«

»Nun, ich bin gerade im Keller unter der Kirche mit einem kleinen Umbau beschäftigt und könnte Hilfe gebrauchen. Da ist mir der Gedanke gekommen, dass Sie sich vielleicht langweilen könnten, denn hier in St. Michaels gibt es ja nicht viel zu tun, jedenfalls nicht im Winter. Es soll heute übrigens wieder schneien.«

Der Lammeintopf kam Nate in den Sinn, von dem ziemlich viel übriggeblieben war. »Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen.«

Der Keller lag unmittelbar unter dem Altarraum. Als Nate vorsichtig die wacklige Holztreppe hinabging, hörte er Hämmern. Schon seit längerer Zeit plante der Pfarrer, von dem großen, niedrigen Raum entlang der Außenmauern mehrere kleine Räume abzuteilen. Ein Bandmaß in der Hand und Sägemehl auf den Ärmeln, stand Phil in Arbeitshose, Arbeitsschuhen und Flanellhemd da. Man hätte ihn ohne weiteres für einen Zimmermann halten können.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte er lächelnd.

»Gern geschehen. Ich hab mich sowieso gelangweilt«, sagte Nate.

»Ich bin dabei, Trennwände aus Pressspan einzusetzen«, erklärte der Pfarrer und wies mit einem Arm auf die Rahmenkonstruktion. »Das geht zu zweit einfacher. Früher hat mir Mr. Fuqua bei solchen Dingen geholfen, aber der ist mittlerweile achtzig Jahre alt, und sein Rücken macht nicht mehr richtig mit.«

»Was soll das werden?«

»Sechs kleine Räume für Bibelarbeit. Der große Raum in der Mitte soll als Gemeindesaal dienen. Mit dem Projekt haben wir vor zwei Jahren angefangen, aber da unser Etat für solche Vorhaben nicht besonders üppig ist, mache ich alles allein. Außerdem bleibe ich so in Form.«

Pfarrer Phil war seit Jahren nicht mehr in Form gewesen. »Sagen Sie mir, was ich tun soll«, sagte Nate, »und vergessen Sie nicht, dass ich Anwalt bin.«

»Nicht gewohnt an ehrliche Arbeit, was?«

»Nein.«

Jeder nahm ein Ende der Spanplatte von einem Meter zwanzig auf einen Meter achtzig, die sie gemeinsam dorthin trugen, wo einer der Gruppenräume für Bibelarbeit entstehen sollte. Als sie die schwere Platte einsetzten, merkte Nate, dass das wirklich eine Arbeit für zwei Leute war. Phil verzog das Gesicht, biß sich auf die Zunge und sagte, als die Platte an Ort und Stelle saß: »Halten Sie bitte mal fest.« Rasch schlug er einige Nägel ein, um die Platte mit den Kanthölzern der Rahmenkonstruktion zu verbinden. Als er fertig war, bewunderte er das Werk seiner Hände, nahm dann das Bandmaß zur Hand und maß die Fläche für die nächste Platte aus.

»Wo haben Sie diese Arbeit gelernt?« fragte Nate, während er interessiert zusah.

»Das habe ich im Blut. Auch Joseph war Schreiner.«

»Wer ist das?«

»Der Vater von Jesus.«

»Ach so, der Joseph.«

»Lesen Sie in der Bibel, Nate?«

»Nicht oft.«

»Das sollten Sie aber tun.«

»Das täte ich auch gern.«

»Ich kann Ihnen dabei helfen, wenn Sie möchten.«

»Vielen Dank.«

Mit einem Zimmermannsbleistift schrieb Phil die Maße auf die Platte, die sie gerade eingesetzt hatten, maß dann sorgfältig nach und sicherheitshalber gleich noch einmal. Schon bald merkte Nate, warum das Projekt nicht so recht vorankam. Phil ließ sich reichlich Zeit und unterbrach die Arbeit immer wieder mit Kaffeepausen.

Nach einer Stunde gingen sie nach oben in die Sakristei, wo auf einer Warmhalteplatte eine Kanne mit starkem Kaffee stand. Phil goß zwei Tassen ein und suchte mit den Augen die Bücherreihen auf den Regalen ab. »Hier ist ein wundervolles Stundenbuch. Es gehört zu meinen Lieblingsschriften«, sagte er, nahm das Buch heraus, wischte es ab, als wäre es voll Staub, und gab es dann Nate. Es war ein fest gebundenes Buch, das noch seinen Schutzumschlag hatte. Offenbar ging Phil mit seinen Büchern äußerst pfleglich um.

Er nahm ein weiteres Buch heraus und gab es Nate. »Und das ist eine Anleitung zum Bibellesen für Leute, die viel zu tun haben. Sie ist sehr gut.«

»Wie kommen Sie auf den Gedanken, dass ich viel zu tun haben könnte?«

»Sie sind doch Anwalt in Washington, oder nicht?«

»Theoretisch schon, aber damit ist demnächst Schluss.«

Phil legte die Fingerspitzen aneinander und sah Nate an, wie das nur Geistliche können. In seinen Augen stand die unausgesprochene Aufforderung: Reden Sie ruhig weiter. Ich bin dazu da, Ihnen zu helfen.

Also lud Nate einige seiner früheren und gegenwärtigen Probleme ab, wobei er die bevorstehende Auseinandersetzung mit dem IRS und den baldigen Entzug seiner Zulassung als Anwalt in den Vordergrund rückte. Zwar bestehe keine Gefahr, dass er zu Gefängnis verurteilt würde, er müsse aber mit einer Geldstrafe rechnen, die so hoch sein würde, dass er sie sich nicht leisten konnte.

Trotzdem, erklärte er, sehe er der Zukunft voll Zuversicht entgegen. Eigentlich sei er sogar erleichtert, den Beruf aufzugeben.

»Was werden Sie tun?« fragte Phil.

»Ich habe keine Ahnung.«

»Vertrauen Sie auf Gott?«

»Ich glaube schon.«

»Dann seien Sie getrost. Er wird Ihnen den rechten Weg zeigen.«

Sie redeten so lange miteinander, dass der Vormittag nahtlos in die Essenszeit überging. Als es soweit war, gingen sie nach nebenan und taten sich erneut am Lammeintopf gütlich. Laura stieß erst später dazu. Sie arbeitete in der Vorschule und hatte nur eine halbe Stunde Mittagspause.

Gegen zwei Uhr kehrten sie in den Keller zurück und nahmen zögernd ihre Arbeit wieder auf. Während Nate dem Pfarrer zusah, kam er zu der Überzeugung, dass das Projekt zu dessen Lebzeiten nicht fertig würde. Joseph mochte ein guter Zimmermann gewesen sein, aber Phil gehörte auf die Kanzel. Jede einzelne Öffnung musste gemessen, nachgemessen, lange und gründlich bedacht, aus verschiedenen Winkeln prüfend betrachtet und dann erneut gemessen werden. Die Spanplatte, die dazu bestimmt war, sie zu füllen, wurde auf die gleiche Weise behandelt. Nachdem Phil dann so viele Bleistiftmarkierungen angebracht hatte, dass kein Architekt aus ihnen schlau geworden wäre, nahm er mit größter Zurückhaltung die Elektrosäge und schnitt die Platte zu. Dann trugen sie sie gemeinsam an die vorgesehene Stelle, sicherten sie mit einigen Hammerschlägen und nagelten sie dann endgültig fest. Jedesmal passte die Platte auf den Millimeter genau, und jedesmal wirkte Phil richtig erleichtert. Zwei Gruppenräume schienen soweit fertig zu sein, dass die Wände nur noch gestrichen zu werden brauchten.

Am Spätnachmittag kam Nate zu dem Ergebnis, dass er am nächsten Tag Maler sein würde.

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