DREIZEHN

Der Besitzer der Kuh tauchte etwa eine Stunde später auf, als das Unwetter allmählich nachließ und es eine Weile nicht regnete. Er war barfuss, trug ausgebleichte Shorts aus Jeansstoff und ein fadenscheiniges T-Shirt mit der Aufschrift Chicago Bulls. Er hieß Marco und war nicht vom weihnachtlichen Geist erfüllt.

Er schickte den Jungen weg und begann dann mit Jevy und Milton heftig über den Wert des getöteten Tiers zu streiten. Milton machte sich mehr Sorgen um sein Flugzeug und Jevy um sein geschwollenes Handgelenk. Nate stand am Fenster und fragte sich, wieso er eigentlich, voll blauer Flecken und mit dem Blut einer Kuh bedeckt, am Heiligabend mitten in der brasilianischen Wildnis herumstand und sich anhörte, wie drei Männer in einer fremden Sprache wild aufeinander einredeten. Auf diese Frage gab es keine eindeutige Antwort. Dabei konnte er noch von Glück sagen, dass er am Leben war.

Nach den anderen Kühen zu urteilen, die in der Nähe weideten, konnte das Tier nicht viel wert gewesen sein.

»Ich zahl für das verdammte Ding«, sagte Nate zu Jevy.

Jevy fragte den Mann, wie viel er haben wolle, und dieser sagte: »Hundert Reais.« Also hundert Dollar. Diesen Betrag war es Nate allein schon wert, dass Marco mit Lamentieren aufhörte.

»Ich zahl es. Nimmt er auch American Express?« fragte er, aber der Witz fand keine Resonanz.

Die Abmachung wurde besiegelt, und der Mann verwandelte sich in ihren Gastgeber. Er führte sie in sein Haus, wo eine kleine barfüssige Frau, die sie lächelnd und wortreich willkommen hieß, gerade das Mittagessen zubereitete. Aus naheliegenden Gründen waren im Pantanal Gäste etwas Unbekanntes, und als die Leute begriffen, dass Nate aus den Vereinigten Staaten kam, riefen sie die Kinder herbei. Der Junge mit dem Stock hatte zwei Brüder, und seine Mutter forderte alle drei auf, sich Nate gut anzusehen, weil er Amerikaner war.

Sie nahm die Hemden der Männer und weichte sie in einem Waschbecken voll Regenwasser in Seifenlauge ein. Ohne sich wegen ihres bloßen Oberkörpers zu genieren, aßen sie an einem runden Tisch schwarze Bohnen mit Reis. Nate war stolz auf seine deutlich sichtbaren Armmuskeln und seinen flachen Bauch. Jevys Körper sah aus wie der eines Gewichthebers. Der arme Milton näherte sich erkennbar dem mittleren Lebensalter, was ihm aber nichts auszumachen schien.

Während des Essens sagten die drei nur sehr wenig. Der Schrecken der Bruchlandung saß ihnen noch in den Knochen. Die Kinder hockten auf dem Fußboden neben dem Tisch, aßen Fladenbrot und Reis und ließen Nate nicht aus den Augen.

Einen halben Kilometer weiter gab es ein Flüsschen, und Marco hatte ein Boot mit Außenbordmotor. Bis zum Paraguay waren es fünf Stunden. Vielleicht hatte er genug Benzin, vielleicht auch nicht. Aber alle drei Männer konnte er in seinem Boot auf keinen Fall unterbringen. Als sich der Himmel aufhellte, gingen Nate und die Kinder zu dem beschädigten Flugzeug hinüber und holten seine Aktentasche heraus. Auf dem Weg dorthin brachte er ihnen bei, auf englisch bis zehn zu zählen, und sie brachten es ihm auf portugiesisch bei. Es waren reizende Jungen, anfangs zwar außerordentlich schüchtern, doch tauten sie von Minute zu Minute mehr auf. Nate erinnerte sich daran, dass es Heiligabend war. Ob der Weihnachtsmann auch ins Pantanal kam? Zu erwarten schien ihn niemand.

Auf einem glatten Baumstumpf im Garten vor dem Haus holte Nate vorsichtig das Satellitentelefon heraus und machte es betriebsfertig. Die Sende- und Empfangsantenne nahm eine Fläche von nicht einmal einem Zehntel Quadratmeter ein, und das Gerät selbst war nicht größer als ein Laptop. Beide wurden durch ein Kabel miteinander verbunden. Nate schaltete das Telefon ein, gab seine persönliche Geheimzahl ein und drehte dann langsam die Antenne, bis sie das Signal des Astar-East-Satelliten auffing, der irgendwo in der Nähe des Äquators hundertfünfzig Kilometer über dem Atlantik stand. Ein deutliches Piepen zeigte ein starkes Signal an, und Marco und seine Familie drängten sich noch dichter um Nate. Er fragte sich, ob sie je ein Telefon gesehen hatten.

Jevy nannte ihm die Telefonnummer von Miltons Wohnung in Corumba. Nate gab eine Ziffer nach der anderen ein und wartete dann mit angehaltenem Atem. Falls der Ruf nicht durchging, würden sie über Weihnachten bei Marco und seiner Familie festsitzen. Das Haus war klein; Nate nahm an, dass er dann im Stall würde schlafen müssen. Super.

Die Alternative bestand darin, Jevy und Marco mit dem Boot loszuschicken. Es war jetzt fast ein Uhr mittags.

Sie würden also den Paraguay, immer vorausgesetzt, es war genug Benzin da, kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Dort mussten sie dann Hilfe finden, was Stunden dauern konnte. Sofern das Benzin nicht ausreichte, würden sie irgendwo mitten im Pantanal liegen bleiben. Jevy hatte gegen diese Variante zwar nicht gerade aufbegehrt, aber es unterstützte sie auch niemand nachhaltig.

Man musste auch andere Faktoren berücksichtigen. Marco war es nicht recht, so spät am Tag noch aufzubrechen. Normalerweise verließ er das Haus bei Sonnenaufgang, wenn er zum Paraguay fuhr, um Handel zu treiben. Zwar konnte man möglicherweise bei einem Nachbarn Marcos, der eine Stunde entfernt lebte, Benzin auftreiben, aber sicher war das nicht.

»Oi«, ertönte eine Frauenstimme im Lautsprecher, und alle lächelten. Nate gab Milton das Telefon, der seine Frau begrüßte und ihr dann das betrübliche Missgeschick schilderte. Jevy dolmetschte flüsternd. Die Kinder bestaunten sein Englisch.

Eine gewisse Erregung kam in die Unterhaltung, dann brach das Gespräch plötzlich ab. »Sie sucht eine Telefonnummer von einem Piloten, den Milton kennt«, erklärte Jevy. Dann war die Nummer gefunden. Milton versprach seiner Frau, zum Abendessen zu Hause zu sein, und legte auf.

Der Pilot war nicht zu Hause. Seine Frau sagte, er habe beruflich in Campo Grande zu tun, werde aber noch vor Einbruch der Dunkelheit zurückkehren. Milton erklärte, wo er sich befand, und sie suchte weitere Telefonnummern heraus, unter denen ihr Mann vielleicht zu erreichen war.

»Sagen Sie ihm, dass er schnell reden soll«, bat Nate Jevy, während er eine weitere Nummer eingab. »Die Batterie hält nicht ewig.«

Unter der nächsten Nummer meldete sich niemand. Bei der übernächsten erklärte der Pilot, dass seine Maschine gerade repariert wurde. Dann riss die Verbindung ab.

Erneut waren Wolken aufgezogen.

Nate sah ungläubig zum sich verdunkelnden Himmel hinauf. Milton war den Tränen nahe.

Die Kinder spielten draußen im kühlen Regen, der rasch vorüberzog. Währenddessen saßen die Erwachsenen auf der Veranda und sahen ihnen schweigend zu.

Jevy hatte noch einen Plan. Am Stadtrand von Corumba gab es eine Kaserne. Zwar hatte er nicht dort gedient, kannte aber einige der dort stationierten Offiziere vom Gewichtheben. Als der Himmel wieder klar war, kehrten sie zum Baumstumpf zurück und drängten sich um das Telefon. Jevy rief einen Bekannten an, der ihm Telefonnummern heraussuchte.

Das Heer besaß Hubschrauber, und immerhin ging es hier um die Bruchlandung eines Flugzeugs. Als sich der Offizier meldete, an den der Anruf weitergegeben worden war, erklärte Jevy rasch, worum es sich handelte, und bat um Hilfe.

Für Nate war es eine Qual, Jevy zu beobachten. Er verstand kein Wort, begriff aber aufgrund von Jevys Körpersprache, was ablief. Lächeln und Stirnrunzeln, dringliches Bitten, enttäuschte Pausen, dann die Wiederholung all dessen, was bereits gesagt worden war.

Als Jevy fertig war, sagte er zu Nate: »Er will mit seinem Kommandanten sprechen. Ich soll ihn in einer Stunde wieder anrufen.«

Die Stunde dehnte sich wie eine Woche. Die Sonne zeigte sich wieder am Himmel und trocknete das nasse Gras. Die Luftfeuchtigkeit war erdrückend. Nate, der nach wie vor kein Hemd trug, merkte, dass er einen Sonnenbrand bekam.

Sie zogen sich in den Schatten eines Baums zurück. Die Frau des Hauses sah nach den Hemden, die beim letzten Schauer draußen hängen geblieben waren. Sie waren immer noch nass.

Jevy und Milton, deren Haut deutlich dunkler war als Nates, machte die Sonne nichts aus, und auch Marco kümmerte sich nicht weiter darum. Als die drei zum Flugzeug hinübergingen, um sich den Schaden genauer zu besehen, blieb Nate in der Sicherheit des Schattens zurück. Die Hitze des Nachmittags war erdrückend. Er spürte Schmerzen in Brust und Schultern und fand, dass ein kleines Nickerchen nichts schaden könnte. Aber die Jungen hatten anderes im Sinn. Nach einer Weile wusste er auch, wie sie hießen. Luis, der Sekunden vor ihrer Landung die Kuh von der Bahn getrieben hatte, war der älteste, Oli der mittlere und Tomas der jüngste. Mit Hilfe des Sprachführers aus seiner Aktentasche überwand Nate allmählich die Sprachbarriere. Hallo! Wie geht es dir? Wie heißt du? Wie alt bist du? Guten Tag. Die Jungen wiederholten die portugiesischen Sätze, so dass Nate die richtige Außprache lernen konnte, dann mussten sie es auf englisch sagen.

Jevy kehrte mit Karten zurück, und sie riefen wieder auf dem Stützpunkt an. Das Heer schien einer Hilfsexpedition nicht abgeneigt zu sein. Milton wies auf eine Karte und sagte: »Fazenda Esperanqa.« Jevy wiederholte die Worte mit großer Begeisterung, die aber schon Sekunden später abflaute. Dann legte er auf. »Er kann den Kommandanten nicht finden«, sagte er auf englisch, bemüht, seine Stimme hoffnungsvoll klingen zu lassen. »Sie

wissen ja, es ist Weihnachten.«

Weihnachten im Pantanal. Fünfunddreißig Grad im Schatten und über fünfundneunzig Prozent Luftfeuchtigkeit. Sengende Hitze und kein Sonnenschutzmittel. Heimtückische Insekten aller Art und keinerlei Mittel dagegen. Fröhliche Kinder, die nicht damit rechnen durften, irgendein Spielzeug zu bekommen. Keine Musik, weil es keinen Strom gab. Kein Weihnachtsbaum. Kein Festessen, kein Wein, kein Champagner.

Das hier ist ein Abenteuer, wiederholte sich Nate immer wieder. Wo bleibt dein Sinn für Humor?

Er packte das Telefon wieder in seinen Kasten und verschloss ihn. Milton und Jevy gingen noch einmal zum Flugzeug hinüber. Die Frau kehrte ins Haus zurück. Marco hatte etwas hinter dem Haus zu tun. Nate suchte erneut den Schatten auf und überlegte, wie hübsch es wäre, bei einem Glas Schampus nur eine einzige Strophe von »White Christmas« zu hören.

Luis tauchte mit drei Pferden auf, die struppiger waren als alles, was Nate je gesehen hatte. Eins trug einen Sattel, ein Marterwerkzeug aus Leder und Holz. Das leuchtend orangefarbene Kissen darunter schien aus einem alten zotteligen Teppich herausgeschnitten zu sein. Wie sich zeigte, war der Sattel für Nate bestimmt. Ohne die geringste Mühe sprangen Luis und Oli auf ihre ungesattelten Pferde, waren im Nu oben und saßen völlig sicher. Nate betrachtete sein Pferd. »Onde?« fragte er. Wohin?

Luis zeigte auf einen Pfad. Aus den beim Mittagessen und danach geführten Gesprächen wusste Nate, dass der Pfad zum Fluss führte, an dem Marcos Boot lag.

Warum nicht? Es war ein Abenteuer. Was sonst hätte er tun können, während sich die Stunden dahinschleppten? Er holte sein Hemd von der Wäscheleine und schaffte es dann, sein armes Pferd zu besteigen, ohne herunterzufallen oder sich zu verletzen.

Ende Oktober waren er und einige andere Insassen von Walnut Hill an einem schönen Sonntag durch das Blue-Ridge-Gebirge geritten und hatten die Farbenpracht des Herbstes in sich aufgenommen. Zwar hatte er damals seine Oberschenkel und sein Hinterteil noch eine ganze Woche lang schmerzhaft gespürt, aber seine Angst vor den Tieren überwunden. Jedenfalls mehr oder weniger.

Er kämpfte mit den Steigbügeln, bis seine Füße fest darin steckten, dann fasste er das Tier am Zaum, damit es stillhielt. Die Jungen sahen äußerst belustigt zu und trabten dann davon. Auch Nates Pferd setzte sich schließlich in langsamen Trab, wobei ihn jeder Schritt zwischen den Beinen schmerzte und ihn von einer Seite zur anderen warf. Da er es vorzog, dass es im Schritt ging, riss er am Zaum, und das Tier verlangsamte das Tempo. Die Jungen kamen im großen Bogen zurückgeritten und ließen ihre Pferde neben ihm ebenfalls in Schritt fallen.

Der Pfad führte über eine kleine Kuhweide und machte eine Biegung, so dass das Haus bald nicht mehr zu sehen war. Vor ihnen lag Wasser - ein Sumpfgebiet, wie Nate zahllose aus der Luft gesehen hatte. Die Jungen schreckte das nicht. Der Weg führte mitten hindurch, und die Pferde, die ihn schon oft gegangen waren, zögerten nicht eine Sekunde. Zuerst stand das Wasser lediglich eine Handbreit tief, dann waren es ungefähr dreißig Zentimeter, und schließlich reichte es bis zu den Steigbügeln. Natürlich waren die Jungen barfuss, hatten eine wettergegerbte Haut und machten sich nicht das geringste aus dem Wasser oder aus dem, was sich darin befinden mochte. Nate trug seine Lieblings-Sportschuhe, die schon bald durchnässt waren.

Das ganze Pantanal war voll von Piranhas, den tückischen kleinen Fischen mit rasiermesserscharfen Zähnen.

Er wäre am liebsten umgekehrt, wusste aber nicht, wie er den Jungen das mitteilen sollte. »Luis«, sagte er mit einer Stimme, der die Angst anzuhören war. Die Jungen sahen ihn ohne die geringste Spur von Besorgnis an.

Als das Wasser den Pferden bis zur Brust reichte, gingen sie von selbst ein wenig langsamer. Kurz darauf sah Nate seine Füße wieder. Die Tiere stiegen auf der anderen Seite des Sumpfes aus dem Wasser, wo der Weg seinen Fortgang nahm.

Zu ihrer Linken wurden die Reste eines Zaunes sichtbar, und dann ein verfallenes Gebäude. Der Pfad erweiterte sich und wurde ein breiter Karrenweg. Vor vielen Jahren war die Fazenda wohl größer gewesen, mit vielen Stück Vieh und zahlreichen Knechten.

Nate wusste aus seiner Sammlung von Lesestoff, dass das Pantanal vor über zweihundert Jahren besiedelt worden war und sich seither wenig geändert hatte. Es war erstaunlich, wie einsam die Menschen dort lebten. Man sah nicht den geringsten Hinweis auf Nachbarn oder andere Kinder, und immer wieder musste Nate an Schulen und Ausbildung denken. Was taten die Kinder aus dem Pantanal eigentlich, wenn sie älter wurden - machten sie sich dann nach Corumba auf, um Arbeit und Ehepartner zu finden, oder führten sie den kleinen landwirtschaftlichen Betrieb der Eltern weiter und zogen die nächste Generation pantaneiros auf? Konnten Marco und seine Frau überhaupt lesen und schreiben, und falls ja, brachten sie es auch ihren Kindern bei?

Er nahm sich vor, Jevy diese Fragen zu stellen. Vor ihnen lag jetzt erneut Wasser, ein größerer Sumpf mit Gruppen verfaulter Bäume zu beiden Seiten. Natürlich verlief der Pfad mitten hindurch. Jetzt, in der Regenzeit, stand das Wasser überall hoch, doch war der Sumpf in den trockenen Monaten lediglich eine Schlammfläche, auf der selbst ein Neuling dem Pfad folgen konnte, ohne fürchten zu müssen, er würde aufgefressen. Dann sollte ich wiederkommen, sagte sich Nate. Nicht sehr wahrscheinlich.

Die Pferde arbeiteten sich voran wie Maschinen, ohne auf den Sumpf und das Wasser zu achten, das dicht unter Nates Knien aufspritzte. Je tiefer das Wasser wurde, desto langsamer gingen die Tiere. Als es Nate über die Knie stieg und er gerade Luis voll Verzweiflung etwas zurufen wollte, wies Oli mit großer Gelassenheit nach rechts auf eine Stelle, wo sich zwei verrottete Baumstümpfe drei Meter hoch erhoben. Zwischen ihnen lag ein großes schwarzes Reptil im Wasser.

»Jacare«, sagte Oli gleichsam über die Schulter, als ob ihn Nate danach gefragt hätte. Ein Kaiman.

Die Augen des Tieres ragten über den Kopf hinaus, und Nate war sicher, dass sie vor allem ihm folgten. Sein Herz raste, und er hätte am liebsten laut um Hilfe geschrien. Dann drehte sich Luis um und grinste breit, weil ihm klar war, dass sein Gast Angst hatte. Also versuchte dieser zu lächeln, als wäre er ganz begeistert, endlich eins dieser Tiere so nahe zu sehen.

Die Pferde hoben den Kopf, als das Wasser noch tiefer wurde. Nate trat dem seinen unter Wasser in die Weichen, aber nichts geschah. Langsam ließ sich das Reptil ins Wasser gleiten, bis man außer seinen Augen nichts mehr sehen konnte. Dann nahm es Richtung auf die Gruppe und verschwand im Wasser. Nate riß die Füsse aus den Steigbügeln und zog die Knie bis zur Brust hoch, so dass er im Sattel hin und her schwankte. Die Jungen sagten etwas und kicherten. Es war ihm gleichgültig.

Als sie die Mitte des Sumpfes hinter sich hatten, reichte das Wasser den Pferden nur noch bis zu den Beinen, dann bis zu den Hufen. Als sie das andere Ufer sicher erreicht hatten, entspannte sich Nate. Dann lachte er über sich selbst. Diese Geschichte würde sich zu Hause gut machen. Eine ganze Reihe seiner Bekannten begeisterte sich für jede Art von Abenteuerurlaub: Sie unternahmen Floßfahrten im Wildwasser, Safaris zur Beobachtung von Gorillas, zogen mit dem Rucksack durch die Wildnis. Alle versuchten, einander mit den Berichten von Erlebnissen am anderen Ende der Welt zu übertrumpfen, bei denen sie um ein Haar ums Leben gekommen wären. Wenn man ihnen noch den ökologischen Aspekt nahe brachte, würden sie sich für zehntausend Dollar mit Begeisterung auf ein Pferd setzen und im Pantanal durch Sümpfe waten und dabei Schlangen und Kaimane fotografieren.

Als immer noch kein Fluss in Sicht kam, fand Nate, dass es an der Zeit sei umzukehren. Er wies auf seine Uhr, und Luis führte die Gruppe nach Hause zurück.

Der Kommandant wurde ans Telefon geholt. Jevy unterhielt sich fünf Minuten lang mit ihm über Dinge, die das Militär betrafen - Orte, an denen sie stationiert gewesen waren, Leute, die sie kannten -, während es immer bedenklicher um den Ladezustand der Batterie für das Satellitentelefon stand. Nate wies auf die rasch gegen Null sinkende Anzeige; daraufhin erklärte Jevy dem Kommandanten, dass das ihre letzte Gelegenheit sei.

Zum Glück war alles kein Problem. Ein Hubschrauber, erklärte der Kommandant, stehe bereit, eine Besatzung werde zusammengetrommelt. Wie schlimm die Verletzungen seien?

Innere, sagte Jevy mit einem Blick auf Milton.

Den Angaben der Heerespiloten nach lag die Fazenda vierzig Hubschrauberminuten von Corumba entfernt. Rechnen Sie eine Stunde, sagte der Kommandant. Zum ersten Mal an diesem Tag trat ein Lächeln auf Miltons Züge.

Nach einer Stunde sank ihre zuversichtliche Stimmung. Die Sonne ging im Westen rasch unter; die Abenddämmerung brach herein. Eine Rettung mitten in der Nacht kam nicht in Frage.

Sie gingen zu dem beschädigten Flugzeug, an dem Milton und Jevy den ganzen Nachmittag hindurch gearbeitet hatten. Die abgeknickte Tragfläche war abmontiert, ebenso der Propeller. Er lag nahe dem Flugzeug im Gras und war noch immer mit Blut bedeckt. Die rechte Strebe des Fahrgestells war verbogen, brauchte aber nicht ersetzt zu werden.

Marco und seine Frau hatten mittlerweile die tote Kuh zerlegt. Das Gerippe war im Gebüsch in der Nähe der Landebahn kaum zu sehen.

Soweit Nate Jevy verstanden hatte, wollte Milton mit dem Boot zur Fazenda zurückkehren, sobald er Ersatz für die Tragfläche und den Propeller gefunden hatte. Nate erschien das undurchführbar. Wie konnte er eine riesige Flugzeug-Tragfläche auf einem Boot transportieren, das klein genug war, sich durch die schmalen Wasserläufe des Pantanal zu winden, und es dann durch die Sümpfe schleppen, die Nate vom Pferd aus gesehen hatte?

Doch darüber mochte sich Milton den Kopf zerbrechen. Nate hatte andere Sorgen.

Die Frau brachte heißen Kaffee und mürbes Gebäck. Sie setzten sich neben dem Stall ins Gras und unterhielten sich. Nates drei kleine Schatten wichen ihm nicht von der Seite; sie fürchteten wohl, er könne sie verlassen. Eine weitere Stunde verging.

Tomas, der jüngste, hörte das Brummen als erster. Er sagte etwas, stand auf, erhob die Hand, und die anderen erstarrten. Das Geräusch wurde lauter, dann hörte man das unverkennbare Knattern eines Hubschrauberrotors. Sie liefen auf die Landebahn und suchten den Himmel ab.

Als der Hubschrauber landete, sprangen vier Soldaten aus der offenen Tür und rannten der Gruppe entgegen. Nate kniete sich zwischen die Jungen, gab jedem zehn Reais und sagte: »Feliz Natal!« Fröhliche Weihnachten. Dann umarmte er sie flüchtig, nahm die Aktentasche und lief zum Hubschrauber.

Jevy und Nate winkten der kleinen Familie zu, während die Maschine abhob. Milton war damit beschäftigt, den Piloten und den Soldaten immer wieder zu danken. Aus hundertfünfzig Metern Höhe sah man das Pantanal, das sich bis zum Horizont erstreckte. Im Osten war es schon dunkel.

Auch in Corumba war es dunkel, als sie eine halbe Stunde später die Stadt überflogen. Ein herrlicher Anblick -die Gebäude, die Weihnachtsbeleuchtung, der Straßenverkehr inmitten der Häuser. Sie landeten auf dem Kasernenhof, der westlich der Stadt auf einem Felsvorsprung oberhalb des Paraguay lag. Der Kommandant begrüsste sie und nahm ihren überströmenden Dank entgegen, den er sich redlich verdient hatte. Es überraschte ihn zu sehen, dass es keine ernsthaften Verletzungen gab, doch war er trotzdem mit dem Erfolg der Mission zufrieden und stellte ihnen für die Heimfahrt einen offenen Jeep zur Verfügung, den ein junger Gefreiter fuhr.

Bei der Einfahrt in die Stadt machte der Jeep einen unerwarteten Schwenk und bremste vor einem kleinen Geschäft. Jevy ging hinein und kehrte mit drei Flaschen Brahma-Bier zurück. Eine gab er Milton, die andere Nate. Nach kurzem Zögern drehte Nate den Verschlussdeckel auf und setzte die Flasche an. Das Bier war erfrischend, kalt und einfach köstlich. Außerdem war Weihnachten. Was sollte es. Er hatte alles im Griff.

Während sich Nate hinten im Jeep, die kalte Bierflasche in der Hand, die drückende Luft um die Nase wehen ließ, wurde er sich darüber klar, was für ein Glück er hatte, noch am Leben zu sein.

Fast vier Monate war es her, dass er sich umzubringen versucht hatte. Vor sieben Stunden hatte er eine Bruchlandung überlebt.

Nur erreicht hatte er an diesem Tag nichts, war Rachel Lane um nichts näher als am Vortag.

Als erstes hielt der Jeep nach seiner Fahrt durch die staubigen Straßen vor dem Hotel. Nate wünschte allen fröhliche Weihnachten, ging auf sein Zimmer, zog sich aus und stellte sich zwanzig Minuten lang unter die Dusche. Im Kühlschrank waren vier Dosen Bier. Er leerte sie alle in einer Stunde und versicherte sich bei jeder Dose erneut, dass das kein Rückfall war. Er hatte alles im Griff, es würde für ihn keinen erneuten Absturz geben. Er war dem Tod von der Schippe gesprungen - warum sollte er nicht ein bißchen Weihnachten feiern? Niemand würde es je erfahren. Er konnte damit umgehen.

Außerdem hatte er nüchtern im Leben noch nie etwas erreicht. Er würde sich selbst beweisen, dass ihm ein bißchen Alkohol nichts ausmachte. Kein Problem. Ein paar Bierchen hier und da. Was konnte das schon schaden?

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