EINUNDDREISSIG

Der Häuptling schien kein großer Wetterprophet zu sein. Das Gewitter blieb aus. Es regnete lediglich zweimal kurz, während Nate und Jevy in den geliehenen Hängematten dösten, um den langweiligen Tag irgendwie herumzubringen. Nach jedem der beiden Schauer schien gleich wieder die Sonne, und vom nassen Lehmboden stiegen Dampfschwaden auf. Die Luftfeuchtigkeit war so hoch, dass die beiden Männer sogar im Schatten schwitzten, obwohl sie sich sowenig wie möglich bewegten.

Sie sahen dem Treiben der Indianer zu, wenn es etwas zu sehen gab, aber die Hitze verminderte auch deren Lust an der Arbeit und am Spiel. Als die Sonne hoch am Himmel stand, zogen sich die Ipicas in ihre Hütten oder in den Schatten dahinter zurück. Während der Regenschauer spielten die Kinder im Regen. Wenn sich Wolken vor die Sonne schoben, wagten sich die Frauen heraus, um ihre Arbeiten zu erledigen und zum Fluss zu gehen.

Der träge Lebensrhythmus hatte Nate nach einer Woche im Pantanal abgestumpft. Jeder Tag schien ebenso zu verlaufen wie der vorige. In Jahrhunderten hatte sich nichts geändert.

Rachel kehrte mit Lako um die Mitte des Nachmittags zurück. Ihr erster Weg führte sie zum Häuptling, dem sie berichtete, was im anderen Dorf vorgefallen war. Dann sprach sie mit Nate und Jevy. Sie war müde und wollte ein wenig ausruhen, bevor sie mit Nate über die geschäftlichen Dinge sprechen wollte.

Also noch eine Stunde totschlagen, dachte Nate, während er ihr nachsah. Sie war schlank und zäh wie eine Marathonläuferin.

»Was gibt es da zu sehen?« fragte Jevy mit breitem Grinsen.

»Nichts.«

»Wie alt ist sie?«

»Zweiundvierzig.«

»Wie alt sind Sie?«

»Achtundvierzig.« -

»War sie schon mal verheiratet?«

»Nein.«

»Glauben Sie, dass sie je mit einem Mann zusammen war?«

»Warum fragen Sie sie nicht?«

»Fragen Sie sie?«

»Es interessiert mich wirklich nicht.«

Sie schliefen wieder eine Weile, denn etwas anderes gab es nicht zu tun. In ein paar Stunden würden die Indianer anfangen zu ringen, dann würde es Abendessen geben, danach würde es dunkel. Nate träumte von der Santa Loura, günstigstenfalls ein bescheidenes Boot, das aber mit jeder Stunde, die verging, großartiger wurde. In seinen Träumen ähnelte sie schon bald einer schnittigen, eleganten Jacht.

Als sich die Männer versammelten, um sich ihrer Haarpflege zu widmen und sich auf ihre Spiele vorzubereiten, machten sich Nate und Jevy aus dem Staub. Einer der kräftigeren Ipicas rief ihnen etwas zu und forderte sie mit blitzenden Zähnen auf, sich am Ringen zu beteiligen. Daraufhin entfernte Nate sich noch schneller. Er sah vor seinem geistigen Auge, wie ihn irgendein stämmiger kleiner Krieger mit wild schlenkernden Genitalien zu Boden schleuderte. Auch Jevy schien der Sache keinen Geschmack abgewinnen zu können. Rachel rettete sie.

Sie wanderte mit Nate zum Fluss hinüber, an die alte Stelle unter den Bäumen. Dort saßen sie auf der schmalen Bank so dicht beieinander, dass ihre Knie sich wieder berührten.

»Es war klug von Ihnen, nicht hinzugehen«, sagte sie. Ihre Stimme klang müde. Die Ruhepause hatte offensichtlich nicht die gewünschte Erholung bewirkt. »Warum?«

»Jedes Dorf hat einen Heilkundigen, shalyun heißt er in der Sprache der Menschen hier, der seine Medizin aus Kräutern und Wurzeln braut. Außerdem beschwört er Geister, die bei allen möglichen Schwierigkeiten helfen sollen.« »Ach so, der gute alte Medizinmann.«

»Etwas in der Art. Eher ein Zauberheiler. In der Welt der Indianer gibt es viele Geister, und die shalyun vermitteln angeblich im Umgang mit ihnen. Auf jeden Fall sind diese Männer meine natürlichen Feinde, denn ich bedrohe ihre Stellung. Daher suchen sie fortwährend nach Möglichkeiten, mir eins auszuwischen. Sie belästigen Angehörige ihres Stammes, die sich zum Christentum bekennen. Vor allem Neubekehrten setzen sie zu. Sie wollen, dass ich von hier verschwinde, und liegen den Häuptlingen unaufhörlich in den Ohren, sie sollten mich fortschicken. Es ist Tag für Tag ein neuer Kampf. Im letzten Dorf unten am Fluss hatte ich eine kleine Schule, in der ich den Leuten Lesen und Schreiben beigebracht habe. Wenn sie auch in erster Linie für Gläubige gedacht war, so stand sie doch allen anderen offen. Als nun vor einem Jahr in jenem Dorf drei Menschen an Malaria gestorben sind, hat der dortige shalyun dem Häuptling eingeredet, diese Krankheit sei eine Strafe für meine

Schule. Jetzt ist sie geschlossen.«

Nate hörte ihr zu, ohne selbst etwas zu sagen. Seine Bewunderung für ihren Mut war grenzenlos. Die Hitze und der träge Lebensrhythmus hatten ihn zu der Annahme verleitet, dass die Ipicas ein friedliches Leben führten. Kein Besucher hätte vermutet, dass ein Kampf um ihre Seelen tobte.

»Die Eltern Ayeshs, des Mädchens, das am Schlangenbiss gestorben ist, sind überzeugte Christen. Der shalyun hat überall herumerzählt, es wäre ihm ohne weiteres möglich gewesen, die Kleine zu retten, aber ihre Eltern hätten ihn nicht gerufen. Natürlich wollten sie, dass ich mich um die Kleine kümmerte. Die bima ist hier schon immer heimisch, und die shalyun brauen ihre eigenen Mittel gegen das Gift dieser Schlange. Ich habe kein einziges Mal erlebt, dass sie damit Erfolg gehabt hätten. Gestern nun hat der shalyun nach meinem Weggang einige Geister beschworen und in der Mitte des Dorfes eine Zeremonie gehalten, bei der er mir die Schuld am Tod des Mädchens gab. Mir und Gott.«

Ihre Worte kamen rasch, sie sprach schneller als sonst, als habe sie es eilig, noch einmal ihre Muttersprache zu benutzen.

»Während der Beisetzungsfeier heute haben er und einige Unruhestifter angefangen, ganz in der Nähe ihre Gesänge anzustimmen und ihre Tänze aufzuführen. Die bekümmerten Eltern sind vor Scham vergangen. Es war mir unmö glich, die Feier zu beenden.« Ihre Stimme war ein wenig unsicher, sie biss sich auf die Lippe.

Nate legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. » Es ist schon gut. Es ist vorbei.«

Vor den Indianern konnte sie nicht weinen. Sie musste stark und unerschütterlich sein, unter allen Umständen ihren Glauben und ihren Mut beweisen. Aber vor Nate konnte sie weinen, er würde es verstehen. Er fand nichts dabei.

Sie wischte sich die Augen und sammelte sich wieder. »Es tut mir leid«, sagte sie.

»Ach was«, sagte Nate. Er war gern bereit, ihr zu helfen. Vor Frauentränen schmolz jede gespielte Selbstsicherheit dahin, ganz gleich ob in einer Kneipe oder am Ufer eines Flusses im Urwald.

Vom Dorf herüber ertönten laute Rufe. Das Ringen hatte begonnen. Nate dachte kurz an Jevy. Bestimmt war er nicht der Versuchung erlegen, mit den Männern herumzutollen.

»Sie sollten jetzt abreisen«, brach sie mit einem Mal das Schweigen. Sie hatte ihre Gefühle wieder unter Kontrolle, ihre Stimme klang wie immer.

»Was?«

»Ja, jetzt. So schnell wie möglich.«

»Nichts lieber als das. Aber warum plötzlich diese Eile? In drei Stunden ist es dunkel.«

»Es gibt Gründe zur Besorgnis.«

»Ich höre.«

»Ich vermute, dass ich heute im anderen Dorf einen Fall von Malaria gesehen habe. Die Moskitos verbreiten die Krankheit sehr schnell.«

Nate kratzte sich sogleich und wäre am liebsten sofort ins Boot gesprungen. Dann fielen ihm seine Tabletten ein. »Mir kann nichts passieren. Ich nehme irgendwas, das mit Chloro anfängt.«

»Chloroquine?«

»Genau.«

»Wann haben Sie damit angefangen?«

»Zwei Tage bevor ich aus den USA abgeflogen bia.«

»Und wo haben Sie die Tabletten jetzt?«

»Auf dem großen Boot.«

Missbilligend schüttelte sie den Kopf. »Sie müssen sie ohne Unterbrechung einnehmen, vor, während und nach der Reise.« Jetzt sprach sie im Ton einer strengen Ärztin, als stehe sein Tod kurz bevor.

»Und was ist mit Jevy?« fragte sie. »Nimmt er die auch?«

»Er war Soldat. Dem passiert bestimmt nichts.«

»Ich will nicht mit Ihnen streiten, Nate. Ich habe bereits mit dem Häuptling gesprochen. Er hat heute morgen vor Sonnenaufgang zwei Fischer zur Erkundung ausgeschickt. Wegen der Überschwemmung sind die Gewässer hier auf den ersten zwei Stunden der Strecke schwierig, dann wird es einfacher. Er wird Ihnen drei Führer in zwei Kanus zur Verfügung stellen, und ich gebe Ihnen Eako mit, damit Sie keine Schwierigkeiten wegen der Sprache haben. Sobald Sie den Xeco erreicht haben, geht es immer geradeaus zum Paraguay.«

»Wie weit ist das?«

»Der Xeco liegt etwa vier Stunden entfernt, und bis zum Paraguay sind es sechs. Außerdem fahren Sie mit der Strömung.«

»Wenn Sie das für richtig halten. Sie scheinen ja alles geplant zu haben.«

»Vertrauen Sie mir, Nate. Ich hatte schon zweimal Malaria. Das ist alles andere als angenehm. Beim zweiten Mal hätte es mich fast das Leben gekostet.«

Nate hatte noch nie an die Möglichkeit gedacht, dass Rachel sterben könnte. Die Regelung des Phelan-Nachlasses dürfte chaotisch genug sein, solange sie sich im Urwald versteckte und nicht bereit war, die Papiere zu unterschreiben. Sofern sie starb, würde es Jahre dauern, Ordnung in den Wirrwarr zu bringen, der dadurch entstünde.

Außerdem bewunderte er sie im hohen Maße. Sie war alles, was er nicht war - stark und tapfer, unerschütterlich

im Glauben, zufrieden mit einem einfachen Leben, sicher in ihrer Gewissheit, wohin sie auf der Erde wie im Jenseits gehörte. » Sterben Sie nicht Rachel«, sagte er.

»Der Tod macht mir keine angst. Für uns Christen ist er eine Belohnung. Aber beten Sie für mich, Nate.«

»Ich verspreche, dass ich künftig mehr beten will.«

»Sie sind ein guter Mensch. Sie brauchen nur ein wenig Hilfe.«

»Ich weiß. Ich bin nicht besonders stark.«

Er hatte die Papiere in einem zusammengefalteten Umschlag in der Tasche. Jetzt nahm er sie heraus. »Können wir wenigstens darüber sprechen?«

»Ja, aber nur, weil ich Ihnen einen Gefallen tun möchte. Wenn Sie schon den ganzen Weg hierher gemacht haben, kann ich mit Ihnen zumindest über die juristischen Fragen reden.«

»Danke.« Er gab ihr das erste Blatt, eine Kopie der einen Seite, aus der Troys Testament bestand. Sie las es bedächtig und hatte an einigen Stellen Schwierigkeiten, die Handschrift zu entziffern. Zum Schluß fragte sie: »Erfüllt dies Testament denn die gesetzlichen Anforderungen?«

»Eigentlich schon.«

»Aber es kommt mir irgendwie behelfsmäßig vor.«

»Ein eigenhändiges Testament ist gültig. So will es das Gesetz.«

Sie las es erneut. Nate sah, dass die Schatten am Waldrand länger wurden. Seit einiger Zeit hatte er Angst vor der Dunkelheit, sowohl zu Lande wie auf dem Wasser. Er wollte möglichst bald fort.

»Troy hat für seine anderen Nachkommen wohl nicht besonders viel empfunden, was?« fragte sie belustigt.

»Das würde Ihnen genauso gehen. Allerdings war er ihnen wohl auch kein besonders guter Vater.«

»Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem mir meine Adoptivmutter von ihm erzählt hat. Da war ich siebzehn.

Es war im Spätsommer. Ihr Mann war gerade an Krebs gestorben, und das Leben sah ziemlich trist aus. Troy hatte mich irgendwie aufgestöbert und wollte uns unbedingt besuchen. Sie hat mir gesagt, wer meine wirklichen Eltern waren, und es hat mir nichts bedeutet. Mir waren diese Menschen gleichgültig. Ich hatte sie nie gekannt und empfand nicht das Bedürfnis, sie kennenzulernen. Später habe ich erfahren, dass meine Mutter Selbstmord begangen hatte. Wie finden Sie das, Nate? Meine biologischen Eltern haben sich beide das Leben genommen.

Ob etwas davon in meinen Genen ist?«

»Nein. Sie sind viel stärker als beide.«

»Mir ist der Tod willkommen.«

»Sagen Sie das nicht. Wann haben Sie Troy kennengelernt?«

»Ein Jahr später. Er und meine Adoptivmutter haben ziemlich oft miteinander telefoniert. Er hat sie davon überzeugt, dass er es gut meint, und uns eines Tages besucht. Wir haben Tee getrunken und Kekse gegessen, dann ist er wieder gefahren. Er hat Geld für das College geschickt. Später hat er angefangen, mich zu bedrängen, ich sollte in eine seiner Firmen eintreten. Er hat sich aufgeführt wie ein Vater, und das hat mich gestört. Als dann meine Adoptivmutter starb, ist die Welt um mich herum zusammengebrochen. Ich habe einen anderen Nachnamen angenommen und Medizin studiert. Im Lauf der Jahre habe ich für Troy gebetet, so wie ich für alle verlorenen Menschen bete, die ich kenne. Ich hatte angenommen, er hätte mich vergessen.«

»Sieht nicht so aus«, sagte Nate. Ein schwarzer Moskito setzte sich auf seinen Oberschenkel, und er schlug mit einer Kraft zu, die ausgereicht hätte, ein Stück Brennholz zu spalten. Falls das Tier den Malariaerreger in sich trug, würde es ihn nicht weiterverbreiten. Rot zeichnete sich der Umriss von Nates Hand auf seiner Haut ab.

Er gab ihr die Annahmebestätigung und die Verzichterklärung. Sie las beide Formulare sorgfältig durch und sagte dann: »Ich unterschreibe nichts. Ich möchte mit dem Geld nichts zu tun haben.«

»Behalten Sie die Papiere einfach hier. Beten Sie darüber.«

»Machen Sie sich über mich lustig?«

»Nein. Ich weiß einfach nicht, was ich als nächstes tun soll.«

»Da kann ich Ihnen nicht helfen. Aber eine Bitte habe ich an Sie.«

»Wird gemacht. Alles, was Sie wollen.«

»Sagen Sie niemandem, wo ich mich aufhalte, Nate. Bitte achten Sie meine Zurückgezogenheit.«

»Das verspreche ich. Aber Sie müssen realistisch sein.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Die Story ist unwiderstehlich. Sofern Sie das Geld nehmen, sind Sie wahrscheinlich die reichste Frau auf der Welt. Falls Sie es ablehnen sollten, ist die Geschichte noch verlockender.«

»Wen interessiert das denn?«

»Sie sind ein Herzchen. Sie kennen die Massenmedien nicht. Heutzutage wird bei uns alles, was passiert, vierundzwanzig Stunden am Tag ununterbrochen vor der Öffentlichkeit ausgebreitet. Stunden um Stunden von Nachrichtensendungen, Nachrichtenmagazinen, Gerede über dies und jenes, Sensationsmeldungen. Lauter Informationsmüll. Nichts ist zu geringfügig, als dass es sich nicht zur Sensation aufbauschen ließe.«

»Aber wie könnte man mich finden?«

» Das ist eine gute Frage. Wir hatten Glück, weil Troy Ihre Spur aufgenommen hatte. Unseres Wissens hat er sonst keinem davon erzählt.«

»Das heißt aber doch, dass ich in Sicherheit bin, nicht wahr? Sie werden es keinem weitersagen, und die Kollegen in Ihrer Kanzlei ja wohl auch nicht.«

»Das stimmt.«

»Und Sie haben nur hergefunden, weil Sie sich verirrt haben, nicht wahr?«

»Völlig verirrt.«

» Sie müssen mich beschützen, Nate. Das hier ist mein Zuhause. Ich gehöre zu diesen Menschen. Ich möchte nicht wieder davonlaufen müssen.«

IM URWALD LEBENDE MISSIONARIN SCHLÄGT ELF-MILLIARDEN-ERBSCHAFT AUS

Was für eine Schlagzeile! Wie die Geier würde man das Pantanal mit Hubschraubern und Amphibienfahrzeugen

absuchen, um Rachels Geschichte zu bekommen. Sie tat Nate jetzt schon leid.

»Ich tue, was ich kann«, sagte er. »Geben Sie mir Ihr Wort darauf?«

»Ja.«

Der Häuptling selbst, gefolgt von seiner Frau und einem Dutzend Männern, bildete die Spitze des Verabschiedungstrupps. Mindestens zehn weitere Männer hinter Jevy bildeten die Nachhut. Im Gänsemarsch kamen sie über den Pfad auf den Fluss zu. »Es ist Zeit aufzubrechen«, sagte Rachel.

»Scheint mir auch so. Und Sie meinen, dass wir in der Dunkelheit sicher sind?«

»Aber gewiss. Der Häuptling gibt Ihnen seine besten Fischer mit. Gott wird Sie schützen. Sie müssen nur beten.« »Das tue ich.«

»Ich werde jeden Tag für Sie beten, Nate. Sie sind ein guter Mensch und haben ein gutes Herz. Es ist der Mühe wert, Sie zu retten.«

»Danke. Wollen Sie mich heiraten?«

»Das kann ich nicht.«

»Natürlich können Sie. Ich kümmere mich um das Geld, und Sie kümmern sich um die Indianer. Wir besorgen uns eine größere Hütte und werfen unsere Kleider fort.«

Beide lachten. Sie lächelten noch, als der Häuptling sie erreichte. Nate stand auf, um hallo oder auf Wiedersehen oder etwas anderes zu sagen, und konnte eine Sekunde lang nichts sehen. Schwindel stieg ihm aus der Brust zum Kopf. Er kniff die Augen zusammen und sah zu Rachel hinüber, ob sie etwas gemerkt hatte.

Es sah nicht so aus. Seine Augenlider begannen zu schmerzen. In den Ellbogengelenken pochte es. Ipica-Grunzlaute ertönten, und alle kamen zum Ufer. Lebensmittel wurden in Jevys Boot und in den beiden schmalen Kanus verstaut, in denen die Führer und Lako die Besucher begleiten sollten. Nate dankte Rachel, die ihrerseits dem Häuptling dankte, und als alle Abschiedsgrüsse ausgetauscht waren, war es Zeit zum Aufbruch. Er stand knöcheltief im Wasser, drückte Rachel sacht an sich, klopfte ihr auf den Rücken und sagte: »Danke.«

» Wo für?«

»Was weiß ich? Weil Sie dafür gesorgt haben, dass die Anwälte ein Vermögen verdienen.«

Lächelnd sagte sie: »Ich mag Sie, Nate, aber das Geld und die Anwälte bedeuten mir nichts.«

»Ich mag Sie auch.«

»Kommen Sie bitte nicht noch einmal.«

»Keine Sorge.«

Alle warteten. Die Fischer waren bereits in die Flussmitte gefahren. Jevy hielt sein Paddel in der Hand und wartete darauf, abstoßen zu können.

Nate setzte einen Fuß ins Boot und sagte: »Wir könnten unsere Flitterwochen in Corumba verbringen.«

»Alles Gute, Nate. Sagen Sie einfach Ihren Leuten, dass Sie mich nicht gefunden haben.«

»Wird gemacht. Bis dann.« Er wandte sich um, stieg ins Boot und setzte sich hart auf die Bank. Wieder drehte sich ihm alles im Kopf. Während das Boot davontrieb, winkte er Rachel und den Indianern zu, doch das Bild, das er sah, war unscharf.

In der Strömung glitten die Kanus flussabwärts. Die Indianer paddelten in vollkommenem Einklang. Sie verschwendeten keine Zeit, offenbar hatten sie es eilig. Der Motor sprang beim dritten Versuch an, und schon bald holte Jevy die Kanus wieder ein. Als er Gas wegnahm, fing der Motor an zu stottern, ging aber nicht aus. An der ersten Flussbiegung sah Nate über die Schulter. Rachel und die Indianer hatten sich nicht von der Stelle gerührt. Der Schweiß brach ihm am ganzen Körper aus, obwohl Wolken vor die tiefstehende Sonne gezogen waren und eine angenehme Brise wehte. Seine Arme und Beine waren schweißbedeckt. Er rieb sich Nacken und Stirn und betrachtete die nassen Finger. Statt zu beten, wie er versprochen hatte, murmelte er: »Scheiße, mich hat's erwischt.«

Das Fieber war nicht hoch, setzte aber rasch ein. Die Brise war unangenehm kalt. Er kroch auf seinem Sitz in sich zusammen und sah sich nach etwas um, das er überziehen konnte. Jevy merkte das und fragte nach einer Weile: »Fehlt Ihnen was, Nate?«

Während er verneinend den Kopf schüttelte, schoss ihm der Schmerz aus den Augen ins Rückgrat. Ihm lief die Nase.

Nach zwei weiteren Biegungen wurden die Bäume spärlicher und das Gelände flacher. Der Fluss weitete sich, bis sie sich mit einem Mal auf einer Art See befanden, in dessen Mitte drei verrottete Bäume aufragten. Nate wusste, dass sie an diesen Bäumen noch nicht vorübergekommen waren. Offensichtlich fuhren sie jetzt eine andere Strecke. Ohne die Unterstützung durch die Strömung wurden die Kanus etwas langsamer, schnitten aber nach wie vor verblüffend rasch durch das Wasser. Die Führer achteten nicht weiter auf den See. Sie wussten genau, wohin sie wollten.

»Ich glaube, ich habe Malaria«, sagte Nate. Seine Stimme klang heiser; seine Kehle war bereits entzündet.

»Woher wollen Sie das wissen?« Jevy nahm kurz das Gas zurück.

»Rachel hat mich gewarnt. Sie hat gestern im anderen Dorf einen Fall erlebt. Deswegen sind wir jetzt auch aufgebrochen.«

»Haben Sie Fieber?«

»Ja. Außerdem sehe ich manchmal nichts.«

Jevy verlangsamte die Fahrt weiter und rief den Indianern etwas zu, die schon fast außer Sichtweite waren. Er schob leere Benzinkanister und die Reste ihrer Vorräte hin und her und entrollte rasch das Zelt. »Sie werden Schüttelfrost bekommen«, sagte er dabei. Das Boot schaukelte hin und her, während er sich darin bewegte. »Hatten Sie schon mal Malaria?«

»Nein. Aber die meisten meiner Freunde sind daran gestorben.«

»Wirklich?«

» Ein schlechter Witz. Man stirbt nur selten daran, aber Sie werden sehr krank sein.«

Vorsichtig schob sich Nate, den Kopf möglichst ruhig haltend, hinter die Bank und legte sich in die Mitte des Bootes. Zusammengerolltes Bettzeug diente ihm als Kissen. Jevy breitete das entfaltete Zelt über ihn und beschwerte die Enden mit zwei leeren Benzinkanistern.

Die Kanus waren jetzt neben ihnen. Lako erkundigte sich auf portugiesisch, was es gebe. Nate hörte, dass Jevy das Wort Malaria aussprach und die Indianer daraufhin in ihrer Sprache miteinander verhandelten. Dann waren s ie fort.

Es kam ihm vor, als fahre das Boot jetzt schneller. Vielleicht lag das daran, dass er auf dem Boden lag und spürte, wie es durch das Wasser glitt. Gelegentlich zuckte er zusammen, wenn ein Ast, den Jevy nicht gesehen hatte, an den Rumpf stieß, achtete aber nicht weiter darauf. Sein Kopf dröhnte und hämmerte wie noch bei keinem Kater, den er erlebt hatte. Muskeln und Gelenke schmerzten so sehr, dass er sich nicht rühren mochte. Außerdem war ihm kalt. Der Schüttelfrost hatte eingesetzt.

In der Ferne hörte man ein Grollen. Vielleicht war es Donner. Großartig, dachte Nate. Das hat uns gerade noch gefehlt.

Der Regen blieb aus. Als sich der Fluss nach Westen wandte, sah Jevy die Sonne orangefarben und gelb verglühen. Dann wandte er sich wieder nach Osten der Dunkelheit entgegen, die sich über das Pantanal senkte. Zweimal wurden die Kanus langsamer, während die Ipicas beratschlagten, welchem Zweig einer Gabelung sie folgen sollten. Jevy hatte das Boot immer rund dreißig Meter hinter ihnen gehalten, schloss aber zu ihnen auf, als es dunkler wurde. Er konnte Nate nicht sehen, der unter dem Zelt lag, wusste aber, dass er litt. Tatsächlich hatte er einmal jemanden gekannt, der an Malaria gestorben war.

Nach zwei Stunden führten die Indianer sie in eine verwirrende Folge schmaler Wasserläufe und stiller Lagunen, und als sie einen breiteren Fluss erreichten, verlangsamten die Kanus eine Weile ihre Fahrt. Die Indianer mussten sich ausruhen. Lako erklärte Jevy durch Zurufe, dass sie in Sicherheit seien. Der schwierige Teil liege hinter ihnen, jetzt müsse man mit keinen Hindernissen mehr rechnen. Bis zum Xeco seien es noch rund zwei Stunden, und der führe geradezu in den Paraguay.

Schaffen wir das allein? fragte Jevy. Nein, lautete die Antwort. Es gebe immer noch Abzweigungen. Außerdem kannten die Indianer eine Stelle am Xeco, die nicht überschwemmt sei. Dort könnten sie die Nacht verbringen.

Wie geht es dem Amerikaner? fragte Lako. Nicht gut, antwortete Jevy.

Der Amerikaner hörte ihre Stimmen und merkte, dass sich das Boot nicht bewegte. Das Fieber wütete in seinem Körper vom Kopf bis zu den Füssen. Er war völlig nass, und auch seine Kleider waren durchnässt. Die Nässe bedeckte ebenfalls das Aluminium des Bootsrumpfes unter ihm. Seine Augen waren zugeschwollen, und sein Mund war so trocken, dass es schmerzte, wenn er ihn nur öffnete. Er hörte, wie Jevy etwas auf englisch sagte, aber er konnte nicht antworten. Das Bewusstsein kam und ging.

In der Dunkelheit fuhren die Kanus langsamer. Jevy blieb näher an ihnen dran und leuchtete von Zeit zu Zeit mit der Taschenlampe, damit ihre Führer die Abzweigungen und Zuflüsse besser erkennen konnten. Die Indianer machten eine Pause, um einen Laib Brot zu essen, etwas Saft zu trinken und sich zu erleichtern. Bei dieser Gelegenheit banden sie die drei Boote aneinander und ließen sie zehn Minuten lang treiben.

Lako machte sich Sorgen um den Amerikaner. Was soll ich der Missionarin über seinen Zustand sagen? wollte er von Jevy wissen. Sag ihr, dass er Malaria hat.

Blitze in der Ferne bereiteten ihrer kurzen Abendessenpause ein Ende. Die Indianer paddelten eifriger denn je.

Seit Stunden hatte niemand festen Boden gesehen. Es gab keine Stelle, an der man hätte anlegen und ein Gewitter abreiten können.

Schließlich ging der Motor aus. Jevy nahm seinen letzten vollen Kanister und startete ihn erneut. Wenn er mit halbem Gas fuhr, würde sein Treibstoff etwa sechs Stunden lang reichen, genug, um bis zum Paraguay zu gelangen. Dort gab es Schiffsverkehr und Häuser. Außerdem wartete irgendwo die Santa Loura. Er kannte die Stelle, wo der Xeco in den Paraguay mündete. Wenn sie von dort flussabwärts fuhren, würden sie gegen Morgengrauen auf Welly stoßen.

Als die Blitze aufzuckten, legten sich die Führer noch mehr in die Paddel, doch war unübersehbar, dass sie allmählich müde wurden. Einmal hielt sich Lako an einer Seite des Motorboots fest und ein anderer Ipica an der anderen. Jevy reckte die Taschenlampe hoch über den Kopf, und sie fuhren zu Tal wie ein Schleppkahn mit zwei

seitlich daran befestigten Schuten.

Allmählich sah man mehr Bäume und dichteres Unterholz. Der Fluss wurde breiter. Zu beiden Seiten war fester Boden. Die Indianer redeten wieder öfter miteinander. Als sie den Xeco erreichten, hörten sie auf zu paddeln. Sie waren erschöpft und bereit, ihr Geleit zu beenden. Immerhin würden sie normalerweise schon drei Stunden schlafen, überlegte Jevy. Sie fanden die Stelle, die sie suchten, und gingen an Land.

Lako erklärte, dass er der Missionarin schon seit Jahren half. Er hatte viele Malariafälle gesehen und die Krankheit selbst dreimal gehabt. Behutsam zog er das Zelt von Nates Kopf und Brust und fasste nach seiner Stirn. Sehr hohes Fieber, sagte er zu Jevy, der im Schlamm stand und die Taschenlampe hielt und möglichst bald zurück ins Boot wollte.

Machen kann man da nichts, sagte der Indianer, als er seine Diagnose gestellt hatte. Das Fieber geht zurück, und in achtundvierzig Stunden kommt der nächste Anfall. Ihn beunruhigten die angeschwollenen Augenlider. Das hatte er bisher noch bei keinem Malariafall erlebt.

Der älteste der Führer sagte etwas zu Lako und wies auf den dunklen Fluss. Dieser erklärte Jevy, er solle sich in der Mitte halten, die schmalen Abzweigungen, vor allem auf der linken Seite, nicht zur Kenntnis nehmen, dann werde er nach zwei Stunden den Paraguay erreichen. Jevy dankte ihnen überschwänglich und legte ab.

Das Fieber ging nicht zurück. Eine Stunde später sah Jevy nach Nate und merkte, dass sein Gesicht immer noch glühte. Er hatte sich wie ein Fetus zusammengekrümmt, war kaum bei Bewusstsein und murmelte unzusammenhängende Worte. Jevy veranlasste ihn dazu, ein wenig Wasser zu trinken, und goss den Rest über sein Gesicht. Der Xeco war breit und ließ sich leicht befahren. Sie kamen an einem Haus vorüber. Es hatte den Anschein, als wäre es das erste in einem ganzen Monat. Wie ein Leuchtturm, der ein verirrtes Schiff grüsst, brach der Mond durch die Wolken und erhellte das Wasser vor ihnen.

»Können Sie mich hören, Nate?« fragte Jevy, ohne dass seine Worte an Nates Ohr drangen. »Unsere Pechsträhne ist zu Ende.«

Er ließ sich vom Mond zum Paraguay leiten.

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