ACHT

Auf dem kleinen Hügel lagen fünfzehn Zentimeter Neuschnee, als die Chopin-Klänge Nate O'Riley weckten, die in sein Zimmer geleitet wurden. Letzte Woche war es Mozart gewesen. An die Woche davor konnte er sich nicht mehr erinnern. Vivaldi hatte es irgendwann in der jüngeren Vergangenheit gegeben, doch vieles davon lag hinter einem Schleier.

Wie jeden Morgen seit fast vier Monaten trat er ans Fenster und warf einen Blick auf das Shenandoah-Tal neunhundert Meter unter ihm. Auch dort war alles weiß, und ihm fiel ein, dass bald Weihnachten war.

Er würde rechtzeitig zum Fest herauskommen. Das hatten sie - seine Ärzte und Josh Stafford - ihm versprochen. Beim Gedanken an Weihnachten wurde er melancholisch. In nicht allzu ferner Vergangenheit hatte es einige recht angenehme Weihnachtsfeiern gegeben, als die Kinder noch klein waren und sein Leben in geordneten Bahnen verlief. Jetzt waren die Kinder fort, teils erwachsen, teils mit ihren Müttern fortgegangen, und das letzte, was Nate wollte, war ein weiteres Weihnachten in einer Kneipe, bei dem er mit anderen Betrunkenen, denen es genauso dreckig ging, Weihnachtslieder sang und sich den Anschein von Fröhlichkeit gab.

Fern im weißen und stillen Tal bewegten sich einige Autos wie Ameisen.

Man erwartete von ihm, dass er zehn Minuten lang meditierte, entweder im Gebet oder mit Yoga-Übungen, die man ihm in Walnut Hill beizubringen versucht hatte. Statt dessen machte er Übungen zur Stärkung seiner Bauchmuskulatur und ging dann schwimmen.

Das Frühstück, das er zusammen mit Sergio einnahm, der zugleich als sein Berater, Therapeut und Guru fungierte, bestand aus schwarzem Kaffee und einem Muffin. Während der letzten vier Monate war Sergio, der alles über Nate O'Rileys elendes Leben wusste, sein bester Freund gewesen.

»Du bekommst Besuch«, sagte Sergio.

»Wer ist es?«

»Mr. Stafford.«

»Wunderbar.«

Jeder Kontakt zur Außenwelt war willkommen, in erster Linie, weil es so selten vorkam. Josh hatte ihn einmal pro Monat besucht. Zwei weitere gute Freunde aus der Kanzlei hatten einmal die dreistündige Autofahrt von Washington auf sich genommen, doch sie hatten viel zu tun, was Nate verstand.

Fernsehen war in Walnut Hill verboten - wegen der Bierreklame und weil das Trinken in so vielen Programmen verherrlicht wurde. Aus demselben Grunde enthielt man ihnen die meisten Zeitschriften vor. Nate war das gleichgültig. Nach vier Monaten ließen ihn die Dinge kalt, die sich im Capitol, in der Wall Street oder im Nahen Osten ereigneten.

»Wann?«

»Am späten Vormittag.«

»Nach meinem Konditionstraining?«

»Natürlich.«

Nichts störte das Training, eine zweistündige Orgie aus Schweiß, Knurren und Brüllen unter der Aufsicht einer in körperlicher Hochform befindlichen sadistischen Trainerin, die ihm persönlich zugeteilt war. Insgeheim bewunderte er sie.

Er ruhte sich gerade in seiner Suite aus, wobei er eine Blutapfelsine aß und wieder ins Tal hinabsah, als Josh eintraf.

»Du siehst großartig aus«, sagte Josh. »Wie viel hast du abgenommen?«

»Sechs Kilo«, erwiderte Nate und tätschelte seinen flachen Bauch.

»Richtig schlank. Vielleicht sollte ich mich auch eine Weile hier einmieten.«

»Kann ich nur empfehlen. Die Mahlzeiten werden ohne eine Spur von Fett und Geschmack von einem Koch mit einem starken Dialekt zubereitet. Die Portionen sind halb so groß wie eine Untertasse, du beißt zweimal rein und bist fertig. Wenn du schön langsam kaust, dauern Mittag- und Abendessen etwa sieben Minuten.«

»Für tausend Dollar am Tag kann man schließlich erstklassige Verpflegung erwarten.«

»Hast du mir ein bißchen Knabberkram mitgebracht, Josh? Vielleicht 'ne Tüte Kartoffelchips oder Kekse? Du hast bestimmt in deiner Aktentasche was versteckt.«

»Tut mir leid, Nate. Ich bin sauber.«

»Ein paar Mais -Chips oder wenigstens Schokolinsen?«

»Tut mir leid.«

Nate aß ein Stück von seiner Apfelsine. Sie saßen nebeneinander und genossen die Aussicht. Mehrere Minuten vergingen.

»Wie geht es dir denn so?« fragte Josh.

»Ich muss hier raus, Josh, bevor ich zum Roboter mutiere.«

»Dein Arzt sagt, noch eine Woche oder so.«

»Ist ja toll. Und dann?«

»Wir werden sehen.«

»Was heißt das?«

»Das heißt, wir werden sehen.«

»Mach schon, Josh!«

»Wir werden in Ruhe abwarten und sehen, was passiert.«

»Kann ich in die Kanzlei zurück, Josh? Sag es mir.«

»Nicht so hastig, Nate. Du hast Feinde.«

»Wer hat die nicht? Immerhin bist du der Chef. Die Burschen werden tun, was du sagst.«

»Du hast da ein paar Probleme.«

»Ich hab tausend Probleme. Aber du kannst mich nicht auf die Straße setzen.«

»Die Sache mit deinem finanziellen Ruin kriegen wir hin. Das mit der Anklage ist nicht so einfach.«

Nein, das war es nicht, und Nate konnte das auch nicht ohne weiteres abtun. Von 1992 bis 1995 hatte er es unterlassen, dem Internal Revenue Service sechzigtausend Dollar sonstige Einnahmen anzugeben.

Er warf die Apfelsinenschale in einen Abfallbehälter und fragte: »Und was soll ich tun? Den ganzen Tag im Haus rumhocken?«

»Wenn du Glück hast.«

»Was heißt das schon wieder?«

Josh musste mit Umsicht vorgehen. Nate kam gerade aus einem tiefen schwarzen Loch hervor. Überraschungen

aller Art mussten vermieden werden.

»Meinst du, ich muss ins Gefängnis?« fragte Nate.

»Troy Phelan ist tot«, sagte Josh, und Nate b rauchte einen Augenblick, um dem Gedankensprung zu folgen. »Ach ja, Mr. Phelan«, sagte er.

Nate hatte in der Kanzlei seinen eigenen kleinen Flügel am Ende eines langen Ganges im fünften Stock gehabt, wo er mit einem weiteren Anwalt und drei Anwaltsgehilfen Klagen gegen Ärzte ausarbeitete. Mit dem Betrieb der übrigen Kanzlei verband sie wenig. Zwar wusste er, um wen es sich bei Troy Phelan handelte, aber er hatte mit dessen Fällen nie zu tun gehabt. »Das tut mir leid«, sagte er.

»Du weißt es also noch gar nicht?«

»Ich erfahre hier nichts. Wann ist er gestorben?«

»Vor vier Tagen. Er ist von seiner Dachterrasse runtergesprungen.«

»Ohne Fallschirm?«

»Du hast es erfasst.«

»Und er konnte nicht fliegen.«

»Nein. Er hat es auch nicht versucht. Ich hab es mit angesehen. Er hatte gerade zwei Testamente unterschrieben -das erste von mir aufgesetzt; das zweite und letzte hatte er eigenhändig verfasst. Dann ist er losgelaufen und gesprungen.«

»Und du hast es gesehen?«

»Ja.«

»Mann! Das muss ja ein ziemlich verrückter Hund gewesen sein.«

Eine Spur Belustigung lag in Nates Stimme. Vor fast vier Monaten hatte ihn ein Zimmermädchen in einem Motel mit dem Magen voller Tabletten und Rum aufgefunden.

»Er hat alles einer unehelichen Tochter hinterlassen, von der ich noch nie gehört hatte.«

»Ist sie verheiratet? Wie sieht sie aus?«

»Ich weiß es nicht. Du sollst sie suchen.«

»Ich?«

»Ja.«

»Ist sie denn verschwunden?«

»Wir wissen nicht, wo sie sich aufhält.«

»Wie viel hat er -«

»So um die elf Milliarden, brutto.«

»Weiß sie das?«

»Nein. Sie weiß nicht mal, dass er tot ist.«

»Weiß sie denn wenigstens, dass Troy ihr Vater ist?«

»Ich habe keine Ahnung, was sie weiß.«

»Wo ist sie?«

»Vermutlich in Brasilien. Sie ist Missionarin bei einem Indianerstamm, der am Ende der Welt lebt.«

Nate stand auf und ging im Zimmer umher. »Ich war mal eine Woche in Brasilien«, sagte er. »Als Student. Es war Karneval, auf den Straßen von Rio haben nackte Frauen getanzt, dann die Samba-Bands, eine Million Menschen, die die ganze Nacht durchgefeiert haben.« Seine Stimme verlor sich, während die Erinnerung auftauchte und rasch wieder dahinschwand.

»Hier geht es nicht um Karneval.«

»Nein, bestimmt nicht. Möchtest du Kaffee?«

»Ja, schwarz.«

Nate drückte einen Knopf an der Wand und sagte seinen Wunsch in die Gegensprechanlage. Die tausend Dollar am Tag schlössen auch einen Zimmerservice ein.

»Wie lange wäre ich weg?« fragte er und setzte sich wieder ans Fenster.

»Ich würde sagen, zehn Tage. Es eilt nicht, und vielleicht ist die Frau schwer zu finden.«

»In welchem Landesteil soll ich suchen?«

»Im Westen, in der Nähe der bolivianischen Grenze. Der Verein, für den sie arbeitet, schickt seine Eeute in erster Linie in den Urwald, wo sie sich um die Indianer kümmern, die da wie in der Steinzeit leben. Wir haben uns ein bißchen mit der Sache beschäftigt. Es sieht so aus, als ob sie ihren besonderen Stolz daransetzten, die abgelegensten Menschen auf dem Erdkreis zu finden.«

»Du willst also, dass ich zuerst den richtigen Urwald finde, dann da reinmarschiere, um den richtigen Indianerstamm aufzustöbern und die Leute irgendwie davon zu überzeugen, dass ich ein wohlmeinender Anwalt aus den Vereinigten Staaten bin und sie mir helfen müssen, eine Frau zu finden, die höchstwahrscheinlich gar nicht gefunden werden möchte.«

»So in der Art.«

»Könnte Spaß machen.«

»Sag dir einfach, dass es ein Abenteuer ist.«

»Außerdem hältst du mich damit aus der Kanzlei raus, Josh. Stimmt doch? Ein Manöver, mit dem du dir Luft verschaffst, während du überlegst, wie es weitergehen soll.« »Irgend jemand muss da runter, Nate. Ein Anwalt unserer Kanzlei muss dieser Frau persönlich gegenübertreten, ihr eine Kopie des Testaments zeigen, ihr erklären, was es damit auf sich hat, und herausfinden, was sie tun will. Dafür kommt weder einer unserer Anwaltsgehilfen noch ein brasilianischer Anwalt in Frage.«

»Und warum ich?«

»Weil alle anderen bis über die Ohren in Arbeit stecken. Du weißt doch, wie das ist. Schließlich hast du selbst mehr als zwanzig Jahre lang so gelebt. Alles kreist um die Kanzlei, du isst im Gericht zu Mittag, schläfst im Zug. Außerdem könnte es dir gut tun.«

»Willst du dafür sorgen, dass ich nicht auf der Straße lande, Josh? Das ist Zeitverschwendung. Ich bin clean. Clean und trocken. Für mich gibt es keine Kneipen mehr, keine Feiern, keine Dealer. Ich bin clean, Josh, und bleibe es. Für alle Zeiten.«

Josh nickte zustimmend, weil er vermutete, dass das von ihm erwartet wurde. Aber er hatte das schon mal gehört. »Ich glaube dir«, sagte er und wünschte aus ganzem Herzen, dass es zutraf.

Es klopfte, und jemand brachte ein silbernes Kaffeetablett.

Nach einer Weile fragte Nate: »Was ist mit der Anklage? Ich darf das Land nicht verlassen, solange die Sache nicht erledigt ist.«

»Ich hab mit dem Richter gesprochen und ihm erklärt, dass es eilt. Du sollst in neunzig Tagen vor ihm erscheinen.«

»Ist er umgänglich?«

»Der reinste Weihnachtsmann.«

»Meinst du, dass er mir eine Chance gibt, falls ich verurteilt werde?«

»Bis dahin ist noch ein ganzes Jahr Zeit. Wir wollen uns darüber später Gedanken machen.«

Nate saß an einem Tischchen über seinen Kaffee gebeugt und sah in die Tasse, während er sich Fragen überlegte. Josh saß ihm gegenüber und sah nachdenklich in die Ferne.

»Und wenn ich nein sage?« fragte Nate.

Josh zuckte die Achseln, als sei das unerheblich. »Ist nicht weiter schlimm. Wir finden jemand anders. Stell dir einfach vor, es ist ein Urlaub für dich. Du hast ja wohl keine Angst vor dem Urwald.«

»Natürlich nicht.«

»Dann geh los und amüsier dich.«

»Und wann müsste ich aufbrechen?«

»In einer Woche. Für Brasilien brauchst du ein Visum. Dafür müssen wir ein paar Beziehungen spielen lassen. Außerdem sind hier noch ein paar Dinge zu klären.«

In Walnut Hill wurde von den Insassen erwartet, dass sie sich mindestens eine Woche lang auf die Entlassung vorbereiten ließen, bevor man sie wieder den Wölfen zum Fraß vorwarf. Man hatte sie verwöhnt, ausgenüchtert, einer Gehirnwäsche unterzogen sowie körperlich, geistig und seelisch auf Vordermann gebracht. Jetzt wurden sie für den Wiedereintritt in die Gesellschaft ertüchtigt.

»Eine Woche«, wiederholte Nate für sich.

»Ja, etwa eine Woche.«

»Und es dauert zehn Tage?«

»Das ist nur so eine Vermutung von mir.«

»Das heißt, ich werde über die Feiertage da unten sein.«

»So dürfte es außehen.«

»Eine großartige Idee.« .

»Du möchtest wohl Weihnachten gern ausfallen lassen?«

»Ja.«

»Und was ist mit deinen Kindern?«

Er hatte vier, zwei von jeder Frau. Eins stand kurz vor dem Studienabschluss, eins war im College, und zwei besuchten die Mittelschule.

Er rührte seinen Kaffee um und sagte: »Ich hab nichts von ihnen gehört, Josh. Seit fast vier Monaten bin ich hier, und von keinem auch nur ein Wort.« Seine Stimme klang unglücklich, und seine Schultern hingen herab. Er sah einen Augenblick lang ziemlich zerbrechlich aus.

»Das tut mir leid«, sagte Josh.

Josh hatte allerdings von den Familien gehört. Beide Frauen ließen sich von Anwälten vertreten, und die hatten angerufen, um festzustellen, ob es Geld zu holen gab. Nates Ältester studierte an der Northwestern University und brauchte Geld für seine Studiengebühren. Er hatte persönlich bei Josh angerufen, nicht etwa, um sich nach dem Befinden oder dem Aufenthaltsort seines Vaters zu erkundigen, sondern, weit wichtiger, nach der Höhe seiner vorjährigen Gewinnbeteiligung an der Kanzlei. Er war anmaßend und unhöflich, und Josh hatte ihm schließlich gesagt, er solle sich zum Teufel scheren.

»Ich will nichts mit all den Feiern und der aufgesetzten Fröhlichkeit zu tun haben«, sagte Nate. Er stand auf und ging auf bloßen Füssen durch das Zimmer.

»Heißt das, du fährst hin?«

»Liegt es am Amazonas?«

»Nein, im Pantanal, dem größten Überschwemmungsgebiet' der Welt.« »Mit Piranhas, Anakondas und Alligatoren?«

»Na klar doch.«

»Gibt es da auch Kannibalen?«

»Nicht mehr als in Washington.«

»Ernsthaft.«

»Nein, wohl nicht. Die Leute haben in elf Jahren keinen einzigen ihrer Missionare verloren.«

»Und was ist mit Anwälten?«

»Bestimmt würde es ihnen großen Spaß machen, einen zu filetieren. Hör mal, Nate. Die Sache ist nicht besonders schwierig. Wenn ich nicht so viel zu tun hätte, würde ich selbst gern hinfahren. Das Pantanal ist ein großes ökologisches Reservat.«

»Ich hab noch nie im Leben davon gehört.«

»Weil du schon seit Jahren nicht mehr reist. Du warst immer nur in deinem Büro und im Gerichtssaal.« »Abgesehen von den Entwöhnungskuren.«

»Mach mal Urlaub. Lern einen ändern Teil der Welt kennen.«

Nate nahm einen großen Schluck Kaffee und steuerte dann das Gespräch in eine andere Richtung. »Und was ist danach? Krieg ich dann mein Büro wieder? Bleibe ich Teilhaber?«

»Möchtest du das denn?«

»Selbstverständlich«, sagte er, zögerte aber ein wenig.

»Bestimmt?«

»Was sollte ich wohl sonst wollen?«

»Was weiß ich? Immerhin ist das jetzt schon deine vierte Entziehungskur in zehn Jahren. Es wird immer schlimmer mit dir. Wenn du jetzt rauskämst, würdest du auf dem kürzesten Weg in die Kanzlei gehen und sechs Monate lang der beste Anwalt für Kunstfehlerverfahren sein. Du würdest die alten Freunde meiden, die Kneipen und die Stadtviertel, in denen du früher verkehrt hast. Nichts als Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit. Es würde nicht lange dauern, und du hättest ein paar großartige Prozesse. Du würdest große Erfolge feiern und unter großem Druck stehen. Dann würdest du einen Gang zulegen, und ein Jahr später würde sich irgendwo ein Riss zeigen. Ein alter Freund trifft dich auf der Straße, eine Frau aus einem anderen Leben taucht auf. Vielleicht läuft ein Prozess nicht so gut, und das Urteil entspricht nicht deinen Erwartungen. Ich würde dich genau im Auge behalten, aber ich kann nicht vorAussagen, wann du wieder abrutschst.«

»Ich rutsche nicht mehr ab, Josh. Das schwöre ich.«

»Das würde ich dir gern glauben, aber ich hab das schon mal gehört. Und was ist, wenn sich deine Dämonen wieder melden, Nate? Beim letzten Mal fehlten nur ein paar Minuten, und du wärst tot gewesen.«

»So was kommt nicht wieder vor.«

»Das nächste Mal wird das letzte Mal sein, Nate. Dann gibt es eine feierliche Beisetzung, wir nehmen Abschied von dir und sehen zu, wie man dich ins Grab runterlässt. Das möchte ich nicht miterleben.«

»Soweit kommt es nicht. Das schwöre ich.«

»Wenn du das ernsthaft willst, schlag dir die Sache mit dem Büro aus dem Kopf. Der Druck ist viel zu groß für dich.«

Am meisten waren Nate bei den Entziehungskuren die langen Perioden der Stille zuwider, der Meditation, wie Sergio es nannte. Man erwartete von den Patienten, dass sie sich wie Mönche ins Halbdunkel hockten, die Augen schlössen und inneren Frieden fanden. Das mit dem Hocken und den geschlossenen Augen kriegte Nate hin, aber hinter den Lidern kämpfte er alte Prozesse noch einmal durch, legte sich mit dem Internal Revenue Service an und schmiedete Ränke gegen seine früheren Ehefrauen. Vor allem aber machte er sich Sorgen um die Zukunft. Dieses Gespräch mit Josh hatte er in Gedanken schon viele Male durchgespielt.

Aber jetzt fielen ihm seine klugen Antworten und seine schlagfertigen Erwiderungen nicht ein. Er hatte nahezu vier Monate lang so gut wie allein gelebt, und das hatte seine Reflexe erschlaffen lassen. Er brachte lediglich einen trübseligen Blick zustande. »Na hör mal, Josh. Du kannst mich nicht einfach auf die Straße setzen.«

»Du hast über zwanzig Jahre lang Prozesse geführt, Nate. Das ist ungefähr der Durchschnitt. Es ist Zeit, was anderes zu machen.«

»Heißt das, ich soll als Lobbyist mit den PR-Leuten von tausend kleinen Kongressabgeordneten zum Mittagessen gehen?«

»Wir finden was für dich. Aber nicht im Gerichtssaal.«

»Ich tauge nicht für solche Arbeitsessen. Ich möchte Prozesse führen.«

»Kommt nicht in Frage. Du kannst in der Kanzlei bleiben, eine Menge Geld verdienen, deine Gesundheit pflegen, anfangen, Golf zu spielen, und ein schönes Leben führen, immer vorausgesetzt, dass dich der IRS nicht ins Gefängnis schickt.«

Einige angenehme Augenblicke lang hatte er den IRS ganz vergessen. Jetzt ergriff er wieder von seinem Bewusstsein Besitz, und Nate setzte sich. Er drückte aus einer Portionspackung etwas Honig in seinen lauwarmen Kaffee; eine so auf Gesundheit bedachte Einrichtung wie Walnut Hill duldete weder Zucker noch Süßstoff.

»Ein paar Wochen im brasilianischen Schwemmland klingen eigentlich ganz gut«, sagte er.

»Heißt das, du gehst?«

»Ja.«

Da Nate reichlich Zeit zu lesen hatte, ließ ihm Josh eine dicke Akte über den Phelan-Nachlaß und dessen geheimnisvolle neue Erbin da, außerdem zwei Bücher über fern von der Zivilisation lebende Indianerstämme in Südamerika.

Nate las acht Stunden lang ohne Pause und ließ sogar das Abendessen ausfallen. Mit einem Mal wollte er unbedingt fort, sein Abenteuer möglichst bald beginnen. Als ihn Sergio um zehn Uhr noch einmal aufsuchte, saß er wie ein Mönch mitten auf dem Bett, von Papieren umgeben, gedankenverloren in einer anderen Welt.

»Es ist Zeit für mich zu gehen«, sagte Nate.

»Das stimmt«, gab Sergio zur Antwort. »Ich fang morgen an, die Formulare auszufüllen.«

Загрузка...