EINUNDZWANZIG

Neva Collier koordinierte bei World Tribes Mission die Arbeit der nach Südamerika entsandten Mitarbeiter. Sie war in einem Iglu in Neufundland zur Welt gekommen, wo ihre Eltern zwanzig Jahre lang unter den Eskimos gearbeitet hatten. Sie selbst hatte elf Jahre in den Bergen Neuguineas Missionsarbeit geleistet und kannte daher aus eigener Anschauung die Schwierigkeiten und Herausforderungen, mit denen die rund neunhundert Menschen zu kämpfen hatten, für die sie zuständig war.

Außer ihr wusste niemand, dass Rachel Porter Troy Phelans uneheliche Tochter war und ursprünglich Lane geheißen hatte. Nach ihrem Medizinstudium hatte Rachel einen anderen Namen angenommen, um sich soweit wie möglich von ihrer Vergangenheit zu lösen. Nach dem Tod ihrer Adoptiveltern hatte sie keinerlei Angehörige, weder Geschwister noch Tanten, Onkel, Vettern oder Kusinen. Jedenfalls wusste sie von niemandem. Es gab lediglich Troy, und ihn bemühte sie sich nach Kräften aus ihrem Leben herauszuhalten. Erst nach dem Abschluss ihres Studiums am Missionsseminar hatte sie Neva Collier die Einzelheiten ihres Privatlebens anvertraut.

Der Führungsspitze der Organisation war bekannt, dass es in Rachels Leben Geheimnisse gab, doch war ihnen zugleich bekannt, dass diese ihrem Streben, Gott zu dienen, nicht im Wege standen. Sie war Ärztin, hatte mit Erfolg die Missionarausbildung abgeschlossen und war als ergebene und demütige Dienerin Christi bereit, in der Mission zu arbeiten. Man versprach ihr, niemandem Auskunft über sie zu erteilen, auch nicht, in welchem Teil Südamerikas sie sich aufhielt.

Jetzt las Neva in ihrem kleinen, aufgeräumten Büro in Houston den erstaunlichen Bericht über die Eröffnung von Mr. Phelans Testament. Seit dem Bericht über seinen Selbstmord hatte sie die Angelegenheit in der Presse verfolgt.

Mit Rachel Kontakt aufzunehmen kostete Zeit. Zweimal jährlich, im März und im August, schrieben sie einander, und gewöhnlich rief Rachel einmal im Jahr aus einer Telefonzelle in Corumba an, wenn sie dort einkaufte, was sie an Medizin und dergleichen brauchte. Neva hatte im vergangenen Jahr mit ihr gesprochen. Zum letzten Mal war Rachel 1992 in den Staaten gewesen. Sie hatte ihren Urlaub nach sechs Wochen abgebrochen und war ins Pantanal zurückgekehrt. Sie könne dem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten nichts abgewinnen und fühle sich dort nicht zu Hause, hatte sie Neva anvertraut. Sie gehöre zu den Menschen, unter denen sie auch sonst lebte.

Danach zu urteilen, was die Anwälte in der Zeitung von sich gaben, war die Nachlassangelegenheit im Falle Phelan alles andere als endgültig geklärt. Neva nahm sich vor, dem Vorstand zu gegebener Zeit mitzuteilen, wer Rachel in Wirklichkeit war.

Vielleicht aber war das gar nicht nötig, hoffte sie. Wie verheimlicht man elf Milliarden Dollar, fragte sie sich. Niemand hatte wirklich damit gerechnet, dass sich die Anwälte über einen Treffpunkt einigen würden. Jede Kanzlei bestand darauf, selbst den Ort für das Gipfeltreffen zu bestimmen. Es war bereits mehr als beachtlich, dass sie sich so kurzfristig geeinigt hatten, überhaupt zusammenzutreffen.

Schließlich fand die Ve rsammlung im Hotel Ritz in Tysons Corner statt, in einem Bankettsaal, dessen Tische man in aller Eile zu einem Quadrat zusammengerückt hatte. Als sich die Tür endlich schloss, befanden sich an die fünfzig Menschen im Saal, denn jede Kanzlei hatte sich verpflichtet gefühlt, weitere Anwälte, Anwaltsgehilfen und sogar Sekretärinnen mitzubringen, um den anderen zu imponieren.

Die Spannung ließ sich fast mit Händen greifen. Da die Rechtsvertreter unter sich sein wollten, war von der Familie Phelan niemand anwesend.

Hark Gettys bat um Ruhe und erzählte einen sehr lustigen Witz. Das war eine gute Idee. Wie in einem Gerichtssaal, wo jeder nervös und besorgt ist und nicht mit einem Spaß rechnet, wirkte das laute Gelächter befreiend. Danach schlug er vor, dass für jeden der Phelan-Erben einer der Anwälte rund um den Tisch sagen sollte, was er oder sie jeweils auf dem Herzen hatte. Er selbst werde als letzter das Wort ergreifen.

Jemand fragte: »Und wer genau sind die Erben?«

»Phelans sechs Kinder«, erwiderte Hark. «

»Und was ist mit den drei Frauen?«

»Das sind keine Erbinnen, sondern Ex-Frauen.«

Das verärgerte deren Anwälte, die nach längerem Hin und Her drohten, den Raum zu verlassen. Als jemand vorschlug, man möge ihnen trotzdem die Möglichkeit geben, sich zu äußern, war die Schwierigkeit aus der Welt geschafft.

Grit, der dynamische Prozessanwalt, der Mary ROSS Phelan Jackman und ihren Mann vertrat, stand auf und sprach sich für eine offene Kriegserklärung aus. »Uns bleibt keine Wahl, als das Testament anzufechten«, sagte er. »Da niemand den alten Knacker in unzulässiger Weise beeinflusst hat, müssen wir beweisen, dass er verrückt war. Teufel, er ist vom Dach gesprungen. Und er hat eins der bedeutendsten Vermögen der Welt einer unbekannten Frau vermacht. In meinen Augen ist das verrückt. Bestimmt können wir Psychiater finden, die das bestätigen.«

»Was ist denn mit den dreien, die ihn begutachtet haben, bevor er gesprungen ist?« fragte jemand über den Tisch hinweg.

»Das war dämlich«, knurrte Grit zurück. »Man hat euch eine Falle gestellt, und ihr seid prompt reingetappt.«

Das ärgerte Hark und die anderen Anwälte, die sich mit der Begutachtung von Troy Phelans Geisteszustand einverstanden erklärt hatten. »Hinterher ist man immer klüger«, sagte Yancy und brachte Grit damit erst einmal zum Schweigen.

Das Juristenteam von Geena und Cody Strong wurde von einer hochgewachsenen und üppigen Anwältin in einem Armani-Kostüm angeführt. Ms. Langhorne war früher einmal Juradozentin in Georgetown gewesen, und als sie jetzt das Wort an die Versammelten richtete, tat sie das mit der Aura der Allwissenheit. Punkt eins: Im Staate Virginia würden lediglich zwei Gründe anerkannt, ein Testament anzufechten - unzulässige Beeinflussung und Unzurechnungsfähigkeit des Erblassers. Da niemand Rachel Lane kenne, dürfe man als sicher annehmen, dass sie nur wenig oder keinen Kontakt mit dem Erblasser gehabt habe. Mithin werde man nur schwer, wenn überhaupt, beweisen können, dass sie ihn bei der Abfassung seines Letzten Willens auf irgendeine Art in unzulässiger Weise beeinflusst habe. Punkt zwei: Mithin bleibe nichts anderes übrig, als alles auf die Karte >Unzurech-nungsfähigkeit< zu setzen. Punkt drei: Es sei sinnlos, mit >Betrug< zu argumentieren. Zwar habe der alte Troy zweifellos Anwälte und Angehörige unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu dieser Demonstration seiner Zurechnungsfähigkeit zusammengebracht, doch lasse sich daraus kein Anfechtungsgrund herleiten. Bei einem zwischen zwei Parteien geschlossenen Vertrag sei das möglich, nicht aber bei einem Testament. Ihre Kanzlei habe bereits die nötigen Erkundigungen angestellt, und sie könne die einschlägigen Fälle zitieren, falls jemand das wünsche.

Sie bediente sich eines Merkzettels, auf dem die wichtigsten Punkte zusammengefasst waren, und wirkte glänzend vorbereitet. Hinter ihr saßen sechs Anwälte aus ihrer Kanzlei, um sie notfalls zu unterstützen.

Punkt vier: Es werde ausgesprochen schwierig sein, den Befund der drei Psychiater zu erschüttern. Sie habe das Videoband gesehen. Vermutlich würden die Anwälte eine solche Auseinandersetzung verlieren, aber man würde sie für ihre Mühe bezahlen müssen. Daher lautete ihre Schlussfolgerung, man solle das Testament mit Nachdruck anfechten und auf eine einträgliche außergerichtliche Einigung hoffen.

Obwohl ihr Vortrag volle zehn Minuten dauerte, erbrachte er nur wenig Neues. Man ließ sie ausreden, und niemand unterbrach sie, um sich nicht den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit einzuhandeln.

Als nächster war Wally Bright - der Mann mit den Abendkursen - an der Reihe. Ganz im Gegensatz zu Ms. Langhorne war er völlig unvorbereitet, hatte weder einen Stichwortzettel noch Unterlagen und schien auch nicht zu wissen, was er als nächstes sagen würde. Er ließ einfach Dampf ab, sagte, was ihm gerade in den Sinn kam, und tobte voller Inbrunst gegen Ungerechtigkeit im allgemeinen.

Zwei von Lillians Anwälten erhoben sich gleichzeitig, wie an der Hüfte zusammengewachsene siamesische Zwillinge. Beide trugen schwarze Anzüge und hatten die bleichen Gesichtszüge von Immobilienanwälten, die nur selten die Sonne zu sehen bekamen. Wenn der eine einen Satz begann, beendete ihn der andere. Stellte der eine eine rhetorische Frage, lieferte der andere die Antwort. Der eine erwähnte ein Dokument, und der andere holte es aus dem Aktenkoffer. Sie gingen zügig vor, sprachen zur Sache und wiederholten in knappen Worten, was bereits gesagt worden war.

Rasch einigte man sich zu kämpfen, denn erstens hatte man nur wenig zu verlieren, zweitens konnte man nichts anderes tun, und drittens war es die einzige Möglichkeit, einen Vergleich zu erzwingen - ganz zu schweigen davon, dass man viertens dabei einen beachtlichen Stundensatz für die beim Kampf aufgewendete Arbeitszeit in Rechnung stellen konnte.

Yancy befürwortete mit besonderem Nachdruck einen Prozess. Dazu hatte er allen Grund. Ramble war der einzige minderjährige Erbe und hatte so gut wie keine Schulden. Die mündelsichere Anlage, aus der er am einundzwanzigsten Geburtstag fünf Millionen bekommen würde, war schon vor Jahrzehnten treuhänderisch festgelegt worden und ließ sich nicht widerrufen. Mit diesen garantierten fünf Millionen stand Ramble finanziell sehr viel besser da als all seine Geschwister. Warum sollte er, der nichts zu verlieren hatte, nicht klagen, um vielleicht mehr zu bekommen?

Erst nach einer geschlagenen Stunde sprach jemand die Anfechtungsklausel im Testament an. Mit Ausnahme Rambles liefen die Erben Gefahr, das Wenige zu verlieren, das ihnen Troy hinterlassen hatte, sofern sie das Testament anfochten. Diesen Einwand taten die Anwälte mit leichter Hand ab. Für sie war die Anfechtung beschlossene Sache, und sie wussten, dass ihre habgierigen Mandanten tun würden, was sie ihnen rieten.

Vieles blieb ungesagt. Zuerst einmal würde der Prozess beschwerlich sein. Am klügsten und zugleich kostengünstigsten wäre es, eine auf diesem Gebiet erfahrene Kanzlei als Prozessbeauftragten zu benennen. Die anderen konnten aus dem zweiten Glied nach wie vor ihre Mandanten betreuen und würden von jeder Entwicklung der Sache in Kenntnis gesetzt. Für ein solches Vorgehen war zweierlei nötig: Kooperationsbereitschaft und eine freiwillige Beschneidung der meisten Egos im Raum.

Diese Punkte wurden während der dreistündigen Sitzung nicht einmal angesprochen.

Ohne dass sie es geplant hätten - denn dazu wäre Zusammenarbeit nötig gewesen -, war es den Anwälten gelungen, einen Keil zwischen die Erben zu treiben, so dass sich keine zwei von derselben Kanzlei vertreten ließen.

Mit Hilfe einer geschickten Manipulation, die zwar im Jurastudium nicht gelehrt wird, die man aber gleichwohl danach auf ganz natürliche Weise erwirbt, hatten sie ihre Mandanten dazu gebracht, ausführlicher mit ihnen zu reden als mit den Miterben. Vertrauen war ebenso wenig eine Tugend der Phelans wie ihrer Anwälte.

Alles deutete auf einen langen, verwickelten Prozess hin.

Nicht eine einzige tapfere Stimme erhob sich mit dem Vorschlag, das Testament so anzuerkennen, wie es war. Niemandem lag im entferntesten daran, den Wunsch des Mannes zu achten, der das Vermögen angehäuft hatte, zu dessen Aufteilung sie sich jetzt verschworen.

Als das Gespräch zum dritten oder vierten Mal um die Tische kreiste, schlug jemand vor festzustellen, wie hoch die Schulden eines jeden der sechs Erben zum Zeitpunkt von Mr. Phelans Tod gewesen waren, doch ging dieser Antrag in einem Sperrfeuer kleinlicher juristischer Erwägungen unter.

»Die Schulden der Ehepartner inklusive?« fragte Hark, der Anwalt von Rex, dessen Frau Amber, die Stripperin, als Inhaberin der Sexclubs auch für den größten Teil der Verbindlichkeiten haftete.

»Was ist mit Steuerschulden?« fragte der Anwalt Troy Juniors, der seit fünfzehn Jahren mit dem IRS über Kreuz lag.

»Meine Mandanten haben mich nicht ermächtigt, Angaben über ihre Finanzlage zu machen«, sagte Langhorne und brachte damit den Vorstoß zum Stillstand.

Die mangelnde Bereitschaft der Anwälte, über diesen Punkt zu reden, bestätigte, was ohnehin jedem klar war -die Phelan-Erben waren bis über die Ohren verschuldet und bis an den Dachfirst ihrer Häuser mit Hypotheken belastet.

Jeder der Anwälte war in erster Linie darauf bedacht, in der Öffentlichkeit eine gute Figur zu machen. Das gehörte nun einmal zu ihrem Beruf. Also war es ihnen wichtig, sich bei ihrem Kampf in den Medien positiv präsentieren zu können. Sie wussten, dass von ganz entscheidender Bedeutung ist, aufweiche Weise etwas in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, und da es sich bei ihren Mandanten um einen Haufen verzogener, habgieriger Nachkommen handelte, die ihr Vater von der Erbschaft ausgeschlossen hatte, fürchteten deren Anwälte, die Presse könne den Fall auch in diesem Licht darstellen.

»Ich schlage vor, dass wir eine PR-Agentur einschalten«, sagte Hark. Mehrere andere fanden den Einfall so großartig, dass sie ihn sogleich als ihren eigenen ausgaben. Man müsse einen Profi damit beauftragen, die Phe-lan-Erben als untröstliche Kinder hinzustellen, die einen Mann geliebt hatten, der kaum je Zeit für sie gehabt habe. Ein halbverrückter exzentrischer Schürzenjäger... ja, das war es! Man müsse Troy der Öffentlichkeit als

Bösewicht präsentieren und ihre Mandanten als die armen Opfer!

Der Plan wurde ausgeschmückt, und rund um die Tische malte man sich in buntesten Farben aus, wie diese Kampagne ablaufen sollte, bis jemand fragte, wie man eigentlich für die Dienste einer solchen Agentur zahlen wolle.

»Die sind schrecklich teuer«, sagte ein Anwalt, der für seine eigenen Dienste sechshundert Dollar pro Stunde berechnete, und für jeden seiner drei nutzlosen Mitarbeiter immerhin noch vierhundert.

Sogleich wirkte der Vorschlag weniger verlockend. Dann regte Hark zögernd an, jede Kanzlei könne einen Teil des Betrags vorschießen. Daraufhin wurde es unvorstellbar ruhig im Raum. Diejenigen, die bisher so ungeheuer viel über alles und jedes zu sagen gehabt hatten, beschäftigten sich angelegentlich mit Unterlagen, die vor ihnen auf dem Tisch lagen.

»Darüber können wir später reden«, sagte Hark im Bemühen, das Gesicht zu wahren. Zweifellos würde diese Anregung nie wieder zur Sprache kommen.

Dann spekulierten sie über Rachel und über die Frage, wo sie sich aufhalten mochte. Sollte man ein erstklassiges Detektivbüro damit beauftragen, sie aufzuspüren? Nahezu jeder Anwalt kannte eins. Dieser verlockende Gedanke erhielt mehr Beachtung, als nötig gewesen wäre. Welcher Anwalt hätte nicht am liebsten die eigentliche Erbin vertreten?

Aber sie beschlossen, nichts dergleichen zu tun - in erster Linie, weil sie sich nicht darauf einigen konnten, was zu tun war, falls man sie fand.

Sie würde bestimmt früh genug auf der Bildfläche erscheinen, und zweifellos mit ihrem eigenen Gefolge von Anwälten.

Die Zusammenkunft endete nicht unfreundlich. Jeder der Anwälte nahm das Ergebnis mit nach Hause, das er haben wollte. Sie wollten sogleich ihre Mandanten anrufen und stolz von den Fortschritten berichten, die man gemacht hatte. Sie konnten definitiv sagen, alle Anwälte der Phelan-Erben seien einhellig der Ansicht, dass man das Testament mit Nachdruck anfechten müsse.

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