VI

Wieder schneite es, und dann setzte Frost ein. Eine Woche lang brachte der Winter das Land zum Stillstand. Der Frost war so stark, dass sich an den Flussufern Eisschollen bildeten und in den Nächten mit hallendem Knacken Bäume auseinanderbrachen. Im großen Palas drängten sich die Garnisonsangehörigen um das Feuer. Frische Lebensmittel wurden knapp. Die Zähne der Männer wackelten im Zahnfleisch. Jeden Tag zogen Wayland und sein Hund aus, um Fallen und Schlingen zu überprüfen. Sie kämpften sich durch den verschneiten Wald wie Gestalten auf einem Holzschnitt. Manchmal wurden sie von Raul begleitet, der sich dann seine Armbrust über den Rücken und ein Messer an seine Fuchsfellmütze hängte.

Eine Woche vor der Fastenzeit drehte nachts der Wind, und am nächsten Morgen stellten sie fest, dass der Winter auf dem Rückzug war. Eisschollen trieben den Fluss hinab. Bis zum Abend war sein Wasser über die Ufer getreten und hatte eine der Brücken weggeschwemmt. Am nächsten Morgen sah Hero einen entwurzelten Baum, der von dem entfesselten Gewässer mitgerissen wurde. Ein Hase hockte verängstigt auf dem einen Ende des Stamms, und vom anderen Ende aus starrte ihn ein Fuchs an.

Drei Tage später fand Hero beim Betreten des Bretterschuppens, der als Gästeunterkunft diente, Vallon wie üblich auf seinem Lager ausgestreckt vor. Dort grollte er schon ihren gesamten Zwangsaufenthalt lang über den strengen Winter.

Hero räusperte sich. «Die Überschwemmung geht langsam zurück. In einem Tag oder zwei werden die Bedingungen zum Reisen gut genug sein.»

Vallon knurrte bloß.

Hero nahm einen weiteren Anlauf. «Olbec hat für übermorgen eine Jagd angekündigt.»

«Es ist keine Jagdsaison.»

«Wir brauchen das Fleisch. Abends wird es ein Fest geben. Drogo möchte, dass Ihr mit ihm gemeinsam jagt.»

Vallon schnaubte. «Wie wir wissen, sucht er nur Streit.»

«Ihr müsst keine Befürchtungen haben. Lady Margaret hat darauf bestanden, dass Ihr mit ihrer Gruppe reitet.»

Vallon wandte Hero den Blick zu. «Wird der Graf dabei sein?»

Hero schüttelte den Kopf. «Seine Verletzungen würden ihm beim Reiten zu starke Schmerzen bereiten. Er bleibt in der Burg und sorgt für die Vorbereitung des Festes.»

Vallon starrte einen Moment lang nachdenklich vor sich hin, dann schwang er die Füße auf den Boden. «Sag der Lady, dass es mir eine Ehre ist, sie zu begleiten.»

Noch vor dem ersten Hahnenschrei verließ Wayland zusammen mit zwei Jägern und einem Forstmann die Burg, um nach einem Hirsch zu suchen, der mindestens ein Zehnender sein sollte. Die Jäger hatten Schweißhunde dabei – große, schwer gebaute Jagdhunde mit Hängewangen und trübselig wirkendem Blick. Ihre Aufgabe bestand darin, den Hirsch aufzuspüren und ihn lautlos bis zu seinem Versteck zu verfolgen. Das Frühstück der Jagdgesellschaft war noch in vollem Gange, als einer der Jäger zurückkam, um zu berichten, dass sie in einem Waldabschnitt jenseits des römischen Walls einen Zwölfender ausgemacht hatten. Mit ernster Miene zog er die Kappe von seinem Jagdhorn und ließ die Wildlosung auf den Tisch rollen. Drogo und seine Gefährten nahmen die Kötel in Augenschein, rochen daran, drückten sie zwischen den Fingern und kamen überein, dass sie von keinem Iltis, sondern von einem jagdbaren Tier stammten.

Hero sah der Jagdgesellschaft beim Aufbruch zu. Angeführt wurde sie von dem Jäger, der die Jagdhunde paarweise aneinandergeleint hatte. Drogo ritt an der Spitze der Jagdgruppe, am Ende folgten die Damen. Margaret war in Pelze und Seide gehüllt, und Vallon ritt auf einem geborgten Zelter. Er hatte sich das Haar stutzen lassen, nun fiel es in goldbraunen Wellen bis auf seine Schultern. Seine vornehme Haltung erfüllte Hero mit Stolz. Er winkte ihm zu und erntete ein würdevolles Nicken. Als Letzter kam der Priester, er wurde im Ochsenwagen des Schlachters hinterhergekarrt und klammerte sich an das vordere Querbrett wie ein Seemann, der sich dem aufkommenden Sturm entgegenstellt.

Die Pferde galoppierten über die Wiese und schleuderten dabei Erdbrocken in die Höhe. Wolken segelten über einen enzianblauen Himmel. Im Schatten lag immer noch Schnee, doch ganze Felder von Schlüsselblumen waren erblüht, und in jedem Gebüsch sangen die Vögel mit überschäumender Lebenskraft. Auf den Feldern um die Burg folgten die Bauern nach jahrhundertealter Tradition dem Pflug. Hero schloss die Augen, genoss die Sonnenwärme auf dem Gesicht und den Geruch frisch aufgebrochener Erde. Der Frühling war da. Die tiefsitzende Furcht in seinem Inneren begann abzuflauen, und stattdessen keimte Wohlbehagen in ihm auf.

Als die Jagdgesellschaft außer Sicht geriet, kehrte er in ihre schlichte Unterkunft zurück und setzte sich mit Pergament und Gallustinte an den groben Holztisch. Er tauchte die Schreibfeder ein und hob sie wie einen Zauberstab, doch die Magie, die er beschwören wollte, stellte sich nicht ein. Er zog die Augenbrauen zusammen. Er kratzte sich am Kopf. Er seufzte. Gedanken auf Pergament zu übertragen war keine leichte Aufgabe. So viele Wörter, unter denen man wählen musste, so viele Möglichkeiten, sie aneinanderzureihen. Während er am Ende der Schreibfeder saugte, überlegte er, welcher Schreibstil seinem Thema wohl am angemessensten wäre.

Die Flamme des Einfallsreichtums flackerte noch kurz auf, dann erstarb sie. Hero blies die Backen auf, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte zur Decke hinauf. Dieser Tag hatte doch so vielversprechend begonnen, und nun zog sich jede einzelne Minute unerträglich in die Länge. Eine Biene schwirrte durch die Tür herein, summte durch den Raum und flog wieder ins Freie. Geistesabwesend schaute Hero durch das sonnige Rechteck der Türöffnung hinaus. Nach einer Weile wurde ihm die Stille bewusst. Er stand auf, ging leise zur Tür und spähte in alle Richtungen. Der Vorhof war, von zwei Wächtern abgesehen, die sich vor dem Torhaus in der Sonne wärmten, vollkommen verlassen. Hero ging wieder hinein, hob seinen Medizinkasten vom Bett und trug ihn zum Tisch. In den hölzernen Deckel waren Blumenmuster geschnitzt. Er hob den Deckel an, legte eine Hand darunter und drückte auf eine der geschnitzten Blumen. Darauf schwang der doppelte Boden herunter, und die Ledermappe glitt heraus, die ihm Meister Cosmas in seiner Todesstunde in die Hand gedrückt hatte. Er öffnete die Mappe. Darin befanden sich sechs Manuskriptseiten. Es war ein Brief – der Teil eines Briefes –, geschrieben in schlechtem Griechisch auf fleckigen und zerknickten Seiten, die, wie Cosmas ihm erklärt hatte, aus zerriebenem Hanf hergestellt worden waren.

Heros Herzschlag beschleunigte sich.

Unsere Majestät Johannes, durch die Gnade Gottes und die Allmacht unseres Herren Jesus, grüßt seinen brüderlichen Herrscher, den Kaiser der Römer, und er wünscht ihm Gesundheit, Wohlstand und allezeit den Genuss göttlichen Wohlwollens.

Unserer Exzellenz wurde darüber berichtet, dass Euch die Kunde von Unserer Größe erreicht hat. Wenn Ihr das Ausmaß Unserer Macht erkennen wollt, dann glaubt, dass Unsere Majestät an Einfluss und Reichtümern alle Könige auf dieser Welt übertrifft. Nur wenn Ihr die Sterne am Himmel zählen könnt oder die Sandkörner in der Wüste, werdet Ihr imstande sein, die gewaltige Ausdehnung Unseres Reiches zu ermessen. Unsere Hoheit gebietet über die Drei Indien, und unsere Länder reichen von Groß-Indien, wo die irdische Hülle unseres geliebten Heiligen Apostels Thomas ruht – der die Heilsbotschaft von Jesus zu uns getragen hat – bis nach Fern-Indien über dem Meer.

Hero wandte die Seiten um und übersprang dabei Dutzende von Abschnitten, in denen mit unglaublicher Akribie all die Wunder und die staunenswerten Erscheinungen in den Ländereien dieses Herrschers beschrieben wurden.

Als gottesfürchtiger Christ, fuhr der Schreiber fort, betrübt es Uns zu erfahren, dass ein großes Schisma die Kirche in Rom und die Kirche in Konstantinopel spaltet. Gewiss ist es ein Werk Satans, dass Streit und Zwietracht zu einer Zeit in der Christenheit ausgebrochen sind, in der sie so bedroht ist wie noch nie zuvor. Edler Bruder, Wir beschwören Euch, mit dem Vater in Rom Frieden zu schließen und Eure Streitigkeiten beizulegen, sodass Ihr vereint gegen Unseren gemeinsamen Feind, die Araber und Türken, kämpfen könnt. Seid versichert, Ihr werdet Ihnen nicht allein entgegentreten. Wisset, dass Wir geschworen haben, das Heilige Grab unseres Herren Jesus mit einer großen Armee aufzusuchen, da es der Herrlichkeit Unserer Majestät ansteht, die Feinde Christi zu unterwerfen und zu vernichten und Seinen gesegneten Namen zu verherrlichen.

Als Zeichen Unserer Freundschaft in Christi senden Wir Euch weder Gold noch Juwelen – obgleich es unter dem Himmel keine Schätze gibt, die sich mit Unseren vergleichen lassen. Stattdessen senden Wir Euch Reichtümer für die Seele: den wahren Bericht vom Leben Jesu und seiner Lehren, geschrieben von ihm, der ihn am besten kannte, von ihm, der allein an der verborgenen Weisheit teilhat, die ihm unser Herr und Retter überbrachte, als …

Ein Schatten glitt durch die Tür. Als Hero aufsah, stand Richard im Raum. Hero hatte keine Zeit mehr, den Brief zu verstecken. Er bedeckte ihn mit einer unbeschriebenen Pergamentseite und begann hastig das Erstbeste aufzuschreiben, was ihm in den Sinn kam.

Von einem weiteren Wunder hat mir Meister Cosmas berichtet. In dem Jahr meiner Geburt erschien ein großes Feuer am südlichen Himmel, das so hell war, dass man ohne Schwierigkeiten um Mitternacht im Freien lesen konnte. Zehn Jahre lang brannte dieses Licht, es wurde nur langsam schwächer, und als es verschwunden war, sah man an dem Teil des Himmels, an dem es gelodert hatte, viele Sterne, die zuvor nicht geschienen hatten.

Richard war zu ihm an den Tisch getreten und beugte sich so dicht über ihn, dass es Hero lästig fiel. «Was schreibst du da?», fragte der Normanne hinter seiner Hand hervor, mit der er sein Gesicht verdeckte.

«Einen Bericht über unsere Reise. Wenn du erlaubst, ich brauche Ruhe, um meine Erinnerungen niederzuschreiben.»

«Wenn du mit deiner Erzählung in dieser Gegend angekommen bist, solltest du eine Beschreibung des Walls aufnehmen, den Hadrian gebaut hat. Nicht weit von hier stehen Heiligenschreine und Festungsanlagen, die nicht verändert wurden, seit die römischen Legionen sie besetzt haben.»

«Das könnte einen Besuch wert sein», räumte Hero ein. «Vielleicht gehe ich morgen hin.»

«Aber nicht allein. Das ist zu gefährlich.»

Hero lächelte herablassend. «Du sprichst mit einem Mann, der die Alpen überquert hat.»

«Einen Monat vor eurer Ankunft sind drei Späher nordwärts geritten und nicht zurückgekehrt. Wahrscheinlich wurden sie von den Schotten aufgefressen.»

Hero beugte sich wieder über sein Pergament, doch nun hatte er den Faden verloren.

«Ich sorge für eine Eskorte, wenn du mich in den Geheimnissen der Schreibkunst unterrichtest.»

«Dazu sind jahrelange Studien notwendig.»

«Ich wäre ein eifriger Schüler. Ich möchte wenigstens eine Fähigkeit entwickeln.»

Hero legte die Schreibfeder nieder. «Zeig mir dein Gesicht. Komm, schäm dich nicht.»

Richard senkte die Hand, sodass sein pflaumenfarbenes Geburtsmal sichtbar wurde, das sich über eine Wange vom Mund bis zum Ohr zog. Er wirkte scheu und angespannt, aber sein Blick, fand Hero, drückte Intelligenz aus.

«Ich habe schon schlimmere Entstellungen gesehen.»

«Haben wir uns geeinigt?»

Hero seufzte schicksalsergeben. «Wir fangen mit dem Alphabet an, den Buchstaben, die wie Ziegel die Bausteine der Sprache bilden. Der erste ist Alpha, er ist von der hebräischen Hieroglyphe für einen Ochsenschädel abgeleitet, und er bedeutet ‹Führer›.»

Ein Schatten fiel über sie. Jemand stand in der Tür. Richard sprang auf und stieß dabei das Tintenfass um.

«Sieh nur, was du angerichtet hast. Dein Körper ist genauso schwerfällig wie dein Verstand», schimpfte Hero.

«Geh», befahl Olbec und versetzte dem vorbeihastenden Richard eine Kopfnuss. «Gott, wie kann es sein, dass ich einen solchen Tropf gezeugt habe? Er kann weder mit dem Schwert noch mit der Lanze umgehen. Kann sich nicht einmal auf einem Pferd halten. Am besten hätte man ihn gleich nach der Geburt ersäuft.» Olbecs Blick richtete sich auf Hero, der angestrengt versuchte, mit einem Tuch die Tinte von der Pergamentseite aufzusaugen. «Da ist nichts mehr zu machen», knurrte Olbec.

«Er hat mein einziges Blatt unbrauchbar gemacht.»

«Da kann ich vermutlich Abhilfe schaffen», sagte Olbec. Er setzte sich rittlings auf die Bank und beäugte Hero wie ein Bauer, der eine Kuh taxiert. «Ein Arzt also, was?»

«Ich bin noch nicht zugelassen. Zuerst muss ich meine praktischen Studien zu Ende bringen, und danach will ich noch ein Jahr lang Anatomiekurse besuchen.»

«Wie alt bist du?»

«Im Sommer werde ich neunzehn.»

«Lieber Gott, was würde ich darum geben, noch einmal neunzehn zu sein. Alles hat man noch vor sich – Schlachten zu schlagen, Land zu erobern, Frauen in sein Bett zu holen.»

«Ich glaube nicht, dass mich meine Berufung auf solch heldenhafte Pfade führt. Wenn Ihr möchtet, erzählt mir doch, was Euch fehlt. Wie ich höre, bereiten Euch die Verwundungen Schwierigkeiten.»

Olbec warf einen Blick zur Tür.

«Nichts, was ich aus Eurem Mund vernehme, wird diese vier Wände verlassen», sagte Hero. «Mein Eid auf Hippokrates verpflichtet mich zur Verschwiegenheit.»

Olbec tippte Hero auf die Brust. «Vergiss diesen Hippo-wie-auch-immer-er-heißt. Du hältst die Klappe, weil ich dir das Herz aus dem Leib schneide, wenn du ein einziges Wort weitererzählst.» Er ging zum Eingang hinüber, sah draußen nach rechts und links und zog dann die Tür zu. «Welche Meinung hast du dir von meiner Frau gebildet?»

«Eine tugendhafte und fromme Dame von makelloser Sittlichkeit», sagte Hero eilig.

Olbec verdaute diese Charakterisierung zunächst einmal. Dann sagte er: «Das alles trifft selbstverständlich zu, aber von Mann zu Mann kann ich dir sagen, dass Mylady vom Vermitteln und Empfangen irdischer Freuden ebenfalls einiges versteht.»

«Frömmigkeit und Leidenschaft, die sich die Waage halten. Ihr könnt Euch glücklich schätzen, Mylord.»

«Aber nicht so sehr, wie ich möchte. Margaret hat seit dem Abend, an dem ich ihre Bitte abgeschlagen habe, eine Expedition nach Norwegen zu schicken, kein Wort mehr mit mir gesprochen. Frauen setzen das Schweigen ein wie der Soldat eine Lanze.»

«Ihr habt mein Mitgefühl. Meine Schwestern haben …»

«Sie ist natürlich jünger als ich. Das spielte keine Rolle, bis ich bei Senlac verwundet wurde. Wir standen Klinge an Klinge mit Harolds Schildwall. Einer von seinen Hauskerlen – groß wie ein Bär – hat mit seiner Axt gegen mich ausgeholt. Einen Fingerbreit näher, und er hätte mich vom Scheitel bis zu den Rippen zerspalten.» Olbec fuhr sich über den Schritt. «Ein Wunder, dass er mich nicht entmannt hat.»

Erspar mir den Anblick dieser Wunde, dachte Hero.

Olbec hämmerte auf den Tisch. «Also, ich sage es ganz offen. Meine Frau will noch ein Kind. Sie ist jung genug und … nun, sie macht sich Sorgen um die Erbfolge.»

«Aber Ihr habt doch drei Söhne.»

«Walter sitzt in Geiselhaft, Richard ist ein Weichling, und Drogo hat mehr Feuer im Blut, als für ihn gut ist.» Olbec zögerte. «Letztes Jahr an Weihnachten ist eine Schottin zum Betteln ans Tor gekommen. Als Dank für eine Brotsuppe hat sie meiner Frau geweissagt. Die undankbare Hexe hat prophezeit, dass nur ein einziger Mann aus Margarets Familie das nächste Weihnachtsfest erleben wird. Abergläubischer Unsinn, natürlich, aber du weißt, wie Frauen sind. Oder wirst es jedenfalls bald erfahren», fügte er verdrießlich hinzu. «Wie dem auch sei, das Problem … das Problem besteht darin …»

«Ihr fühlt Euch der Situation im Augenblick nicht ganz gewachsen», half ihm Hero weiter.

Ein Schatten fiel über Olbecs Gesicht. Dann lachte er. «Du siehst vielleicht aus wie ein Hasenfuß, aber dumm bist du nicht.»

«Ich empfehle Erholung und Süßwein. Ich habe gehört, dass Honigwein ein gutes Aphrodisiakum ist.»

«Den trinke ich schon kübelweise. Schmeckt wie Pferdepisse und hat ungefähr die gleiche Wirkung.»

«Möglicherweise solltet Ihr dann etwas weniger trinken.»

«Araber», sagte Olbec und gab dem Gespräch damit eine andere Wendung, «die gibt es doch auch bei dir in Sizilien. Ich habe gehört, dass sie ein sehr mannhaftes Volk sind.»

«Wie Ihr Normannen.»

«Nur, dass die Araber magische Tränke benutzen.»

«Ihre Kenntnisse der Arzneikunde sind fortgeschrittener als unsere», räumte Hero ein. «Sie haben viele Tränke. Und sie haben beispielsweise eine sehr wirksame Arzneimischung, die sie auf ihre Füße auftragen.»

«Füße? Wer redet denn hier von Füßen? Es sind nicht meine Füße, die mich im Stich lassen.»

«Nein, Herr. Ihr denkt an Euer membrum virile. Den Diener Eurer Männlichkeit.»

«Wenn du meinen Schwanz meinst, verstehen wir uns richtig.»

«So ist es.»

«Gut. Also, hier kommt mein Angebot. Bereite mir einen Trank zu, der dazu führt, dass ich meine Dame beglücken kann, und ich gebe dir genügend Pergament, damit du das gesamte Evangelium aufschreiben kannst.»

«Aber ich habe hier nicht die notwendigen Zutaten.»

«Ich habe dem Quartiermeister gesagt, dass er dir alles geben soll, was du verlangst.»

Hero konnte sich nur allzu gut vorstellen, was in der Arzneimittelsammlung der Burg vor sich hin schimmelte. Getrocknete Molche, Nagelspäne, eingeschrumpfte Schafs-Föten …

«Nun, was sagst du?»

Hero nickte stumm.

«Gut», sagte Olbec und stemmte sich hoch.

Als Hero daraufhin sein Arzneibuch durchsah, fand er viele Tränke, um die Sinne zu beruhigen, aber keinen, der sie anregte. Stöhnend ließ er den Kopf in die Hände sinken.

Der Quartiermeister war ein sauertöpfischer Tyrann, der unbestrittene Herrscher über den Küchenanbau in einer abgelegenen Ecke des Vorhofs. Seine Anwesenheit war leicht schon aus einiger Entfernung durch sein lautes Herumschnauzen und Fluchen sowie die häufigen Aufschreie seiner bedauernswerten Küchenjungen festzustellen. Über seinen Arbeitstisch hinweg musterte er Hero mit unverblümter Feindseligkeit.

«Was soll das? Was will Olbec?»

Hero äußerte bescheiden seinen ersten Wunsch. «Honig.»

Mit ungnädiger Miene holte der Quartiermeister einen Topf Honig und knallte ihn auf den Tisch.

«Und auch etwas Pfeffer und Ingwer.»

Der Quartiermeister zuckte zurück wie eine Mutter, die von einem Kindesräuber behelligt wird. «Meinen Pfeffer kriegst du nicht. Weißt du, wie teuer der ist?»

«Ohne Pfeffer kann ich die Arznei nicht ansetzen, mit der das Leiden Eures Herrn gelindert werden soll.»

Der Quartiermeister verschränkte die Arme vor der Brust. «Welches Leiden?»

«Das ist Vertrauenssache zwischen Arzt und Patient.»

«Vertrauenssache, Scheiß drauf. Alle Welt weiß, was mit dem Alten nicht stimmt.»

Hero warf einen Blick über die Schulter bevor er zurückgab: «Ihr meint die Schmerzen und die Steifheit in seinen Beinen?»

«Ha! Steifheit plagt ihn nun gerade nicht. Eher das Gegenteil. Ein Mann in seinem Alter und eine Frau mit Verlangen.» Der Quartiermeister tippte sich an die Nase.

«Dann gebt mir den Pfeffer, den ich brauche, um in dieser Ehe die Harmonie wiederherzustellen.»

«Auf keinen Fall.»

«Sehr gut», sagte Hero mit bebender Stimme. «Ich werde Eure mangelnde Bereitschaft zur Zusammenarbeit weitermelden.» Damit wandte er sich zum Gehen.

«Oi, Glotzauge. Komm zurück. Hier hast du, was du willst.»

Hero schnupperte an einem kleinen Leinensäckchen. «Was ist das?»

«Mein Geheimnis. Aber ich versichere dir, dass es auch das schlaffste Glied in eine Eisenstange verwandelt.» Erneut verschränkte der Quartiermeister die Arme. «Hat unser junger Gelehrter noch weitere Wünsche?»

«Nur noch ein paar Blutegel. Oh, und einen Mörser mit Stößel.»

«Herr im Himmel», seufzte der Quartiermeister und trampelte nach hinten in sein Allerheiligstes. Als er zurückkehrte, stellte er das Gewünschte mit einem Knall auf den Tisch. «Und jetzt verzieh dich.»

Vor dem Wall teilte sich die Gruppe. Die Jäger galoppierten Richtung Norden auf einen Wald zu, Lady Margarets Gruppe dagegen saß bei einem römischen Meilenkastell oberhalb des North Tyne ab. Vallon reichte Margaret seinen Arm. Gemeinsam schritten sie unter einem runden Torbogen hindurch in ein stillen, grasbewachsenen Innenhof. In der Ecke gegenüber führte eine teilweise eingestürzte Treppe zu einem Wallgang hinauf. Dem Tor gegenüber befand sich ein quadratischer Turm, der vom Wallgang aus zu erreichen war. In seinem Inneren führte eine Treppe bis unter das Dach, wo Diener schon Kissen für sie ausgelegt hatten. Vallon stieg auf den Wallgang hinauf und hatte die Ruinen einer Römerfestung vor sich, die genauso aussahen wie diejenigen, die er in Südfrankreich und Spanien gesehen hatte. Aus dem Wald drangen Hornklänge und die Rufe der Jäger herüber, die ihre Schweißhunde antrieben. Keuchend schleppte ein Diener einen Weidenkorb die Treppe hinauf. Die Frauen knabberten an honigbestrichenem Engelwurz, nippten an Gewürzwein und plauderten über das Wetter, die Kinder und die Unsicherheiten des Lebens in der Grenzregion. Vallon beteiligte sich an dem oberflächlichen Gespräch, bis seine Wangen von all dem gezwungenen Lächeln schmerzten. Er dachte gerade, dass dies tatsächlich nichts weiter sei als ein Picknick, als Margaret in die Hände klatschte.

«Ich weiß, dass unser gutaussehender französischen Hauptmann euch alle neugierig macht. Er ist zwar schon seit drei Wochen unser Gast, aber wir wissen immer noch kaum etwas über ihn. Allerdings fühlt er sich in Gesellschaft so vieler Damen unbehaglich. Ich glaube, wir bekommen nichts aus ihm heraus, es sei denn, ich befrage ihn allein.»

Sie scheuchte ihre kichernden Gesellschaftsdamen aus dem Turmzimmer. Der Priester ging als Letzter, und Vallon sah an dem Schweiß, der auf seiner Stirn glänzte, dass er sich nicht nur darüber Sorgen machte, einen Fremden mit der Frau seines Herrn allein zu lassen.

Die Stimmen der Frauen verklangen. Margaret wandte Vallon lächelnd ihr gerötetes Gesicht zu. «Ich habe es ernst gemeint. Ich gebe keine Ruhe, bevor ich Euch vollkommen ausgesaugt habe.»

«Meine Geschichte würde Euch enttäuschen.»

«Männer wissen nicht, was die Neugier einer Frau weckt. Es sind nicht die Beschreibungen grauenvoller Schlachten, die uns anregen. Es sind die feinsinnigen menschlichen Kleinigkeiten.»

«Dann werde ich Euch allenfalls wie ein grober Klotz vorkommen.»

«Fangen wir mit dem Anfang an. Seid Ihr verheiratet? Habt Ihr Familie?»

«Ich habe weder Frau noch Familie. Kein Land und auch sonst keinen Besitz. Ich verdiene mir mein Leben ausschließlich mit dem Schwert. Und wie Ihr sicher schon erraten habt, ist es kein gutes Leben.»

«Dennoch ist es eine schöne Waffe. Die Einlegearbeit am Griff ist exquisit, und um diesen Edelstein am Knauf beneide ich Euch richtig.»

«Es ist maurisch und wurde in Toledo aus Stahl geschmiedet, nicht aus Eisen. Das Metall ist härter als jede normannische Klinge.»

Sie riss die Augen auf. «Härter als jede normannische Klinge? Darf ich es einmal anfassen?»

«Madam.»

«Nein, lasst es mich selbst herausziehen.»

Sie brauchte beide Hände, um das Schwert aus der Scheide gleiten zu lassen. Vor Anstrengung röteten sich ihre Wangen. «Wie hell es schimmert. Wann habt Ihr es zuletzt benutzt?»

«Gegen die Mauren in Spanien.»

«Das ist recht lange her. Eine so schöne Klinge sollte öfter gezogen werden.» Sie hauchte das Metall an, warf Vallon einen Blick unter ihren gezupften Augenbrauen zu, und rieb dann den Stahl mit dem Ärmelaufschlag ihres Kleides. «Lasst mich einmal die Spitze anfassen. Oh, wie scharf sie ist. Seht nur, wie sie mich gestochen hat.»

Vallon streckte die Hand aus. «Eurem Mann würde es nicht gefallen zu hören, dass Ihr Euch an meinem Schwert verletzt habt.»

«Ich verspreche, dass ich es ihm nicht erzähle, ganz gleich wie fest Ihr zustoßt.»

Das ferne Hundegebell steigerte sich zu einem irrwitzigen Kläffen.

«Die Hunde haben den Hirsch gefunden», sagte Vallon und nahm das Schwert wieder an sich. «Ihr werdet die Jagd verpassen.» Er ging auf den Wallumgang und sah den Bäumen hinüber. Einige der Jäger hatten das Waldstück umstellt.

«So manch einer würde Euer Benehmen einschüchternd finden.»

«Es tut mir leid, wenn Ihr von meiner Gesellschaft enttäuscht seid.»

«Nein, ich bewundere Männer, die ihre Stärke nicht zur Schau tragen müssen. Davon abgesehen glaube ich nicht, dass Ihr so gefühllos seid, wie Ihr vorgebt.»

«Der Hirsch», sagte Vallon.

Das Tier tauchte aus dem Wald auf und überquerte ein Schneefeld, dann kamen die Hunde zwischen den Bäumen hervor. Darauf folgte Drogo an der Spitze der Jäger. Er peitschte wie wild auf sein Pferd ein.

Margaret fuhr mit dem Finger über eine Ader auf Vallons Handrücken. «Ich bin sicher, dass ich Euch mit der Zeit in die Enge treiben könnte.»

Er hielt ihre Hand fest. «Ein in die Enge getriebenes Tier ist gefährlich.»

Sie streifte ihn leicht. «Die Gefahr steigert das Vergnügen.»

Vallon trat einen Schritt zurück. «Ihr vergesst, dass ich der Gast Eures Gemahls bin.»

Sie schmollte. «Vielleicht gibt es ja noch einen anderen Grund für Euer kühles Benehmen. Ich habe gesehen, wie Euch dieser Grieche mit seinen Blicken überallhin folgt.»

Vallon sah ihr direkt ins Gesicht. «Warum sagt Ihr mir nicht, was Ihr in Wahrheit von mir wollt?»

Einen Moment lang schien es so, als würde sie bei ihrem Vorwand bleiben. Oder vielleicht hatte sie wirklich nichts gegen ein bisschen zweideutiges Geplänkel. Doch dann wandte sie sich ab und verschränkte die Arme, als sei ihr mit einem Mal kalt. «Ich habe Ländereien in der Normandie. Ich bin bereit, sie als Sicherheit für eine Anleihe einzusetzen, mit der die Expedition in den Norden finanziert werden soll.»

Vallon sagte nichts dazu. Der Hirsch bewegte sich am Rande des Tals entlang. Bisher hatten ihn die Jagdhunde nicht eingeholt.

«Ich möchte, dass Ihr die Expedition anführt.»

«Nein.»

«Ihr könntet sie als Handelsexpedition ansehen. Ihr dürftet alle überschüssigen Mittel einsetzen, um Felle, Elfenbein und Sklaven zu kaufen. Sämtlicher Gewinn, den Ihr macht, gehört Euch. Ich für meinen Teil will nur meinen Sohn sicher zu Hause haben.»

«Dieser Einsatz lohnt sich nicht.»

«Es ist ein aussichtsreicheres Angebot als das, was Euch in Lumpen hierhergeführt hat.»

«Ich spreche nicht von meinem Gewinn. Und wenn Euer Geld erst einmal in meinen Händen ist, was sollte mich davon abhalten, es zu stehlen?»

«Euer Wort. Ich vertraue dem Mann, der für Walter eine so weite Reise auf sich genommen hat.»

«Ich bin Sir Walter nie begegnet. Ich war niemals in Anatolien und habe den Namen Manzikert zum ersten Mal gehört, als die Schlacht schon seit Wochen vorbei war. Das Wohl Eures Sohnes interessiert mich nicht.»

Margarets Lippen wurden bleich. «Wollt Ihr damit sagen, dass er tot ist?» Sie krampfte die Hände ineinander.

Er nahm ihre Handgelenke. «Die Dokumente sind echt. Euer Sohn hat die Schlacht überstanden. Und soweit ich weiß, lebt er noch.»

Sie ließ sich gegen ihn sinken, ihre Stimme klang gedämpft von seiner Brust herauf. «Warum seid Ihr hierhergekommen? Was für ein Spiel spielt Ihr?»

«Gar keines. Sagen wir einfach, das Schicksal hat mich schon einmal in einen Strudel gerissen. Das soll mir nicht wieder passieren.»

Sie zog sich von ihm zurück. «Ich würde Euch dennoch vertrauen. Wenn Ihr vorhättet, mich zu betrügen, hättet Ihr Eure Lüge nicht zugegeben.»

«Mutterliebe ist blind.»

Margaret stampfte mit dem Fuß auf. «Wenn ich erzähle, was Ihr mir gesagt habt, wird Drogo Euch auf der Stelle umbringen.»

«Das hat er ohnehin vor.»

Der Hirsch war bei einer hohen Hecke angekommen und brach nach rechts, in Richtung des Römerkastells, aus. Bis das Tier seinen Fehler begriffen hatte und über das Hindernis sprang, war es nahe genug, dass Vallon seinen rückwärtsgewandten Blick erkennen konnte. Die Jagdhunde drängten wie eine brausende, kläffende Welle über die Hecke. Sie würden den Hirsch einholen, dachte Vallon.

«Ich kann Euch helfen zu entkommen.»

Vallon drehte sich um.

«Heute Abend wird viel getrunken werden», sagte sie. «Ab Mitternacht werden sie alle ihren Rausch ausschlafen. Wenn es zur Frühmesse läutet, findet Ihr das Tor offen.»

Vallon schob den Gedanken an Margarets größeren Plan beiseite. Es würde noch Zeit genug sein, um darüber nachzudenken, wenn sie erst einmal aus Drogos Reichweite wären … falls ihnen das überhaupt gelang. «Das wird uns nur ein paar Stunden Vorsprung verschaffen. Drogo wird uns einholen, noch bevor wir das nächste Tal erreicht haben.»

«Nehmt den Falkner mit. Er kennt jeden Fußbreit dieses Landes.»

Vallon dachte über weitere praktische Fragen nach. «Pferde?»

«Für die kann ich sorgen, ohne Verdacht zu erregen. Davon abgesehen wird Euch Geschwindigkeit nicht retten. List und Glück sind Eure einzigen Waffen, aber was das Erfinden von Listen angeht, seid Ihr ja offensichtlich erfahren genug.»

Vallon war schon beim nächsten Gedanken. «Wir bräuchten Verpflegung. Wir könnten uns erst in ein paar Tagen in die Nähe eines Dorfes wagen.»

Margaret deutete auf den Korb. «Lebensmittel und Decken.» Dann griff sie in ihren Kleiderärmel und brachte eine Börse zum Vorschein. «Genügend Silber, um bis nach Norwich zu kommen.»

«Sollen dort die Besitzurkunden übergeben werden?»

«Der Geldverleiher dort heißt Aaron. Der König hat ihn nach England mitgebracht. Vorher war er in Rouen, das liegt nicht weit von meinen Ländereien entfernt. Meine Familie hat schon früher mit ihm Geschäfte gemacht. Ich habe Briefe für ihn vorbereitet. Diese Briefe werden vor Euch bei ihm eintreffen.»

Vallon beobachtete die Jagd. Der Hirsch wurde schwächer, und die Hundemeute schloss dichter zu ihm auf. Reiter sprengten aus mehreren Richtungen auf ihn zu.

«Richard wird Euch begleiten.»

«Nein! Mein Diener allein ist schon Belastung genug.»

«Richard ist nicht so dumm, wie er aussieht. Er hat mir geholfen, diesen Plan zu entwerfen. Er wird als mein Bevollmächtigter auftreten. Er wird die Urkunden übergeben und den Vertrag besiegeln. Übrigens wird seine Gegenwart für Eure Sicherheit sorgen. Wenn Ihr von einem normannischen Spähtrupp aufgebracht werdet, zeigt Richard ein Dokument vor, das verbürgt, dass Ihr in meinem Auftrag unterwegs seid.»

«Weiß der Graf Bescheid?»

«Er hat so seine Vermutungen. Macht Euch keine Sorgen, ich weiß, wie ich ihn besänftige.»

«Aber nicht Drogo.»

«Er wird es nicht wagen, mir im Haus seines Vaters etwas anzutun.»

Der Hirsch hetzte in den Innenhof des Römerkastells. Verwirrt von all den Wällen und Gräben, lief er ziellos hin und her. Dann erklomm er einen halb eingestürzten Abschnitt des Walls, sah, dass es auf der anderen Seite senkrecht hinabging, und galoppierte auf dem Wall entlang, bis er nicht mehr weiterkam. In die Enge getrieben, drehte er sich zu seinen Angreifern um und senkte das Geweih. Die Reiter ganz vorne hoben ihre Jagdhörner, bliesen zum Sammeln und signalisierten so, dass der Hirsch gestellt worden war. Drogo galoppierte zu dem Tier und sprang vom Pferd. Die Hundemeute kreiste den Hirsch ein.

«Wenn Ihr Walter kennen würdet, würdet Ihr mir meinen Wunsch mit Freuden erfüllen», sagte Margaret. «Ich weiß, dass er Euch angelogen hat … ich meine, ich weiß, dass er gelogen hat … aber Ihr müsst seine Gründe in Betracht ziehen. Er besitzt Liebenswürdigkeit und Anmut. Sogar der Graf zieht ihn seinem natürlichen Sohn vor.»

Einer der Jäger sprang hinter den Hirsch, um ihm die Beinsehnen durchzuschneiden. Drogo rückte mit gezogenem Schwert durch die tobende Hundemeute vor. Vallon sah den Hirsch schwanken und fallen. Die Jäger bliesen das ‹Hirsch tot›, und die Tonfolge wurde im ganzen Tal von den Jagdhörnern aufgenommen.

Margaret ließ die Geldbörse vor Vallons Gesicht baumeln. Vallon schob sie weg.

«Ich teile Euch meine Entscheidung heute Abend mit.»

Unter einem blutroten Himmel kehrten die Jäger zurück. Der Priester musste sich den Karren jetzt mit dem getöteten Hirsch und einem Eber teilen, den die Jagdgesellschaft am Nachmittag erlegt hatte. Im Palas schichteten die Diener so viel Holz aufs Feuer, dass die Flammen das Dach bedrohten. Die Männer waren schon betrunken, als einige Knechte den Hirsch erst hereintrugen und ihn an einem Drehspieß übers Feuer hängten.

Hero nutzte den günstigen Moment, um Olbec die Mixtur zu geben. «Tragt es kurz bevor Ihr Euch zurückzieht auf. Ihr habt gesagt, dass Eure Frau schwanger werden will. Welche Stellung nehmt Ihr üblicherweise ein?»

«Oben. Wie machen es die Araber?»

«Sie haben viele Stellungen», sagte Hero und verließ sich auf Informationen, die er seinen Schwestern abgelauscht hatte. «Eine davon wird besonders für Paare empfohlen, die Kinder haben möchten … Nein, es ist respektlos, über Fleischeslust zu sprechen, wenn Eure Dame nur ein paar Schritte entfernt sitzt.»

Olbec packte Hero am Ärmel. «Nein, sprich weiter.»

«Von hinten, die Dame auf den Knien, den Kopf zwischen ihren Armen.»

«Wie ein Bock, was? Da kocht mir schon beim bloßen Gedanken das Blut hoch.»

Als das Wildbret nach zeremoniellen Regeln zerlegt und verspeist worden war, erhob sich Olbec und erklärte, der Jagdausflug habe seine Frau ermüdet. Er wolle sich nun mit ihr zurückziehen, die anderen aber sollten den Abend genießen. In zwei Tagen, so fuhr er fort, würde die Fastenzeit beginnen, also sollte jeder noch einmal essen, trinken und fröhlich sein. Alle standen auf und stießen mit ihren Bechern an. Olbec winkte Hero zu sich und ließ ein dickes Ries Manuskriptseiten auf den Tisch fallen. «Hier, das dürfte genügen. Ich habe sie vom Priester.»

«Habt Ihr die Arznei angewendet?»

«Die ganze Flasche. Ich spüre schon die Wirkung.»

«Ich habe sie besonders stark gemacht. Ich hoffe, sie hat nicht zu sehr gebrannt.»

Olbec rülpste. «Doch, beim Schlucken schon.»

«Beim Schlucken?»

Der alte Ziegenbock zwinkerte Hero zu. «Ich wollte kein Risiko eingehen. Also hab ich’s lieber getrunken.»

Hero blätterte durch das Manuskript. Es waren wundervolle Seiten, jede mit Gold und Miniaturzeichnungen illuminiert. Er verzog das Gesicht. «Ich kann doch die Heilige Schrift nicht abkratzen.»

Olbec schlug auf den Manuskriptstapel. «Daran ist nichts heilig. Das sind nur wertlose englische Chroniken und ein paar Reime und Rätsel. Ich habe mir von einem Schreiber in Durham welche übersetzen lassen. Eins, an das ich mich noch erinnere, geht so:



Ich bin ein seltsames Wesen, denn ich befriedige die Frauen, erweise den Nachbarn einen Dienst! Keiner leidet unter meinen Händen, außer meinem Schlachter.

Ich werde sehr groß, richte mich im Bett auf, und untenherum bin ich behaart. Von Zeit zu Zeit

wagt es ein schönes Mädchen, eine brave Bauerntochter, Hand an mich zu legen.

Sie packt meine rötliche Haut, macht mich ganz kopflos und bringt mich in die Speisekammer. Unvermittelt denkt dieses Mädchen mit den Zöpfen, das mich eingesperrt hat, an unser Zusammentreffen. Und seine Augen werden feucht.

Olbec zwinkerte. «Nun, wie lautet die Antwort?»

Hero errötete.

Olbec zwickte ihn in die Wange. «Du hast schmutzige Gedanken, junger Mönch.» Mit beschwingtem Schritt ging er zur Tür, wo seine Frau mit einem starren Lächeln auf ihn wartete. «Es ist eine Zwiebel», rief er über die Schulter zurück. Hero versuchte, Richard unter den Zechern auszumachen. Er schämte sich über seinen Ausbruch wegen der verschütteten Tinte. Außerdem behielt er die Tür im Blick, denn er rechnete halb damit, dass der Graf wild vor Zorn hereinstürmen würde, weil das Mittel nicht gegen seine Impotenz geholfen hatte. Die Schlemmerei war beendet, und nun spielten die Soldaten ein Trinkspiel, bei dem sie sich die Gesichter mit Ruß anmalen und auf Bänke steigen mussten, die auf Tische gehoben worden waren, wo sie dann obszöne Liedchen sangen, die Drogo mit seinem Schwert dirigierte. In einem anderen Bereich des Palas maß sich Raul mit zwei Normannen zugleich im Armdrücken, während ihm ein dritter Soldat Honigwein in den Mund goss, den er mit zurückgelegtem Kopf gierig schluckte. Dann brach ein Tisch zusammen, und ein paar Männer fingen eine Prügelei an. Hero wusste nicht mehr, wie viele Becher Ale er schon getrunken hatte. Als er sich erneut nachschenken lassen wollte, legte sich eine Hand über den Becher.

Mit verschwommenem Blick lächelte er Vallon an.

«Zeit, dass du nüchtern wirst. Wir gehen heute Nacht. Reiß die Augen nicht so auf, sonst fallen sie dir noch aus dem Kopf. Geh in unsere Kammer und pack alles zusammen. Wenn du damit fertig bist, wartest du bei dem Falkner auf mich.»

«Aber das geht nicht. Ich sehe mir morgen mit Richard den römischen Wall an.»

Vallon beugte sich vor. «Ich sage es ganz deutlich. Tu, was ich sage, oder bleib hier und richte dich auf ein kaltes Grab ein.»

Sobald Hero hinaus in die kühle, feuchte Luft kam, wurde ihm schwindlig. Er stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und übergab sich. Als er damit fertig war, vernahm er ein Lachen. Drogo stand mit gespreizten Beinen und nacktem, schweißglänzendem Oberkörper am Eingang zur Halle. In der einen Hand hielt er einen Becher, mit der anderen ließ er sein Schwert pendeln.

«Ab ins Heiabettchen, du griechischer Lustknabe. Bald kommt dein Herr und deckt dich zu.»

Dann schwankte er wieder hinein und zog die Tür hinter sich zu. Hero stand im Dunkeln. Es herrschte pechschwarze Nacht. Zudem war vom Fluss dichter Nebel heraufgezogen, der alles einhüllte. Er bemühte sich, den Weg zu finden. Das Gästehaus stand an der Palisade links vom Palas. Hero drehte sich nach links und ging wie ein Geist mit ausgestreckten Händen durch den Dunst.

Bis er das Gästequartier erreicht hatte, war er beinahe wieder nüchtern. Hastig schlug er alle ihre Habseligkeiten in ein Tuch ein und machte sich erneut wie ein Blinder auf den Weg zu Waylands Schuppen. Schließlich stieß er gegen die Außenwand des Gebäudes und tastete sich weiter bis zur Tür.

«Wayland, bist du da? Hier ist Hero. Meister Vallon schickt mich.»

Keine Antwort. Als er die Tür aufzog, sah er zwei schwankende Lichter. Er zuckte zurück. Es war das falsche Gebäude. Dies war die Kapelle, und ein Mann betete vor dem Altar. Einen Moment später wurde ihm klar, dass der kniende Mann Vallon war.

Er wartete still, während sein Herr betete. Er hatte den Eindruck, dass Vallon eine Beichte ablegte. Er schnappte die Wörter «Buße» und «Blut der Unschuldigen» auf, und dann hörte er deutlich: «Ich bin eine verlorene Seele. Was spielt es da für eine Rolle, wohin mich meine Reise führt oder ob ich ihr Ziel erreiche?»

Diese trostlose Äußerung jagte Hero einen Schauer über den Rücken. Und er musste sich bewegt haben, denn Vallon hörte auf zu beten. «Wer ist da?»

«Nur ich, Herr.»

Vallon stand auf und kam auf ihn zu. «Wie lange lauschst du schon? Was hast du gehört?»

«Nichts, Herr. Ich habe mich im Dunkeln verlaufen. Ich habe das Gepäck. Wohin gehen wir?»

«Fort von hier. Vor einem Feldzug zünde ich immer eine Kerze an.» Vallon deutete auf den Altar. «Und für dich habe ich auch eine angezündet.»

Feldzug? Was für ein Feldzug?

Vallon führte ihn zu Waylands Schuppen. Beim Eintreten schlugen ihnen die scharfen Ausdünstungen von Tieren entgegen. Eine Lampe erhellte Richards ängstliches Gesicht. Eine weitere Gestalt löste sich aus den Schatten. Der Mann trug einen schimmernden Ring im Ohrläppchen und hatte eine einzelne, auffällige Schläfenlocke.

«Was hat dieser Säufer hier verloren?», fragte Vallon.

Raul war sturzbetrunken. Er schwankte vorwärts. «Zu Euren Diensten, Hauptmann. Ihr hättet mich als einsatzbereiten Soldaten angetroffen, wenn mir Wayland früher gesagt hätte, dass Ihr heute fliehen wollt.»

Vallon ging auf Wayland zu. «Wer weiß sonst noch davon?»

Wayland schüttelte nur kurz den Kopf.

Vallon packte Raul an den Schultern. «Erklär mir, warum ich dich mitnehmen soll. Los, red schon.»

Raul tastete nach seiner Armbrust und drehte sich dabei um sich selbst, wie ein Hund auf der Jagd nach seinem Schwanz. «Hauptmann, ich kann einem Mann auf hundert Schritt einen Bolzen durchs Auge schießen. Ich habe im Baltikum schon in drei unterschiedlichen Heeren gekämpft, und ich weiß, wie man mit den betrügerischen norwegischen Händlern umgehen muss.» Er kniff die Augen zusammen und hob den Zeigefinger, während sich sein Gesicht bei einem Krampf seiner Eingeweide verzerrte. «Und ich bin stark wie ein Bär.» Er wedelte mit der Hand zu Hero und Richard hin. «Was glaubt Ihr, wie weit Ihr mit diesen beiden Weichlingen kommt, die am liebsten noch an der Brust ihrer Mutter hängen würden?» Blinzelnd klopfte er Hero auf den Arm. «Bei allem Respekt.»

Vallon schob Raul mit angewiderter Miene zur Seite und sagte zu Wayland: «Da draußen ist es dunkler als im Hades. Bist du sicher, dass du uns zum Römerturm führen kannst?»

Wayland nickte und hob ein aufgewickeltes Seil in die Höhe, das in Abständen geknotet war. Dann legte er seinem Hund ein stachelbewehrtes Halsband an. Da begann die Glocke das Ende dieses vergnügungsreichen Tages einzuläuten. «Das ist das Signal», sagte Vallon. «Wir haben keine Zeit zu verlieren. Jetzt bietet uns der Nebel noch einen Vorteil, aber er wird unsere Flucht auch verlangsamen, und nach Sonnenaufgang löst er sich auf. Wir müssen so schnell wie möglich vorankommen.»

Wayland nahm zwei mit Tüchern verhüllte Käfige auf und hängte sie sich über die Schulter. Dann ging er, das Seil hinter sich entrollend, hinaus. Die Flüchtlinge nahmen das Seil auf, jeder hielt sich an einem Knoten fest, und so machten sie sich auf den Weg in die feuchte Nacht.

Einige Unentwegte feierten immer noch im Palas, doch die übrige Welt hatte sich zur Ruhe begeben. Wie Diebe und Sünder schlichen sie vorwärts. Sie waren noch nicht weit gegangen, als Hero an den Mann vor sich stieß und von dem Mann hinter sich in die Hacken getreten wurde. Von oben kamen gedämpfte Stimmen. Sie mussten unter dem Torhaus sein.

«Ist es offen?», hörte er Vallon flüstern.

Die Antwort hörte er nicht, doch gleich darauf spannte sich das Seil in seinen Händen, und er bewegte sich wieder vorwärts. Er wusste erst, dass sie durch das Tor waren, als er das Geräusch vernahm, mit dem jemand hinter ihnen den Riegel vorlegte.

«Zusammenbleiben», flüsterte Vallon. «Wenn jemand den Anschluss verliert, wird nicht nach ihm gesucht.»

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