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Die Zeltwände bebten in der leichten Brise. Wayland schlug die Klappe zurück und trat hinaus. Über Nacht hatte sich eine pudrige Schneeschicht übers Land gelegt, doch nun war der Himmel klar, die Sterne funkelten in der schwarzen Unendlichkeit und warfen einen eisigen Schimmer auf die Zwillingsgipfel im Süden. Ibrahim kniete den Bergen zugewandt auf der Erde und warf sich im Gebet nieder. Die Brise, die über die Wände der Zeltstadt strich, war so schwach, dass Wayland sie kaum spüren konnte.

Ibrahim rollte seinen Gebetsteppich zusammen und ging zurück Richtung Zelt. Er rief Gottes Segen auf sie herab, und Wayland sprach die Worte nach. Dann blinzelte er in den Himmel hinauf.

«Ideale Bedingungen für Sakerfalken.»

Ibrahim machte eine wegwerfende Geste. «Pah! Wie geht es dem Donnerschlag?»

«Ich habe ihn noch nicht gesehen. Ich dachte, ich sollte ihn so lange wie möglich schlafen lassen.»

«Und du? Hast du gut geschlafen?»

Wayland lächelte. «Ich habe den größten Teil der Nacht damit zugebracht, den Wettkampf in meinem Kopf auszufechten.»

Zusammen gingen sie zu dem Gerfalken. Der Vogel erkannte Waylands Schritt schon aus der Entfernung und begrüßte ihn mit einem leisen chup. Als Wayland näher kam, fächerte der Falke voller Vorfreude die Schwingen auf und sprang auf seine Faust. Das Tier schien auch nicht enttäuscht, dass er kein Futter mitgebracht hatte. Wayland ließ ihn an seinem Finger knabbern.

«Wird der Emir ihn selbst fliegen lassen?»

«Nein. Du trägst ihn und lässt ihn auf den Befehl des Emirs los. Wenn er gewinnt, wird der Emir den Ruhm ernten. Wenn er versagt, trägst du die Schuld.»

Wayland streichelte dem Falken den Kopf. «Er ist kampfbereit, wahrscheinlich so sehr wie nie mehr in seinem Leben.»

«Nicht ganz. Ich habe ein besonderes Tonikum, das ihn noch weiter anstacheln wird.»

«Er braucht keine Aufputschmittel. Ich werde ihm ein Bad anbieten. Es wäre eine Katastrophe, wenn er wegfliegen würde, weil er nach Wasser sucht.»

Da tauchten gähnend die Unterfalkner auf, begannen Lockvögel vorzubereiten und trugen die Saker hinaus ins Freigehege. Der Emir würde sie am Vormittag jagen lassen. Der Wettkampf zwischen den Kranichjägern war der letzte Programmpunkt des Tages.

Beim ersten Tageslicht trug Wayland den Gerfalken ins Freie. Als die Sonne aufgegangen war, badete der Vogel genüsslich, tauchte den Kopf unter Wasser, hockte sich hinein und schüttelte sich wie ein Hund. Danach flatterte er auf seinen Sitzblock und ließ eine Weile seine Schwingen herabhängen, bevor er begann, sich das Gefieder zu putzen.

Wayland schlüpfte achtsam in das Kostüm, das man für ihn angefertigt hatte. Ibrahim stand dabei und schaute zu. Schließlich nickte er anerkennend und setzte Wayland einen pelzverbrämten Hut auf, bevor er hinausging. Wayland setzte sich auf sein Bett und versuchte, seine Aufregung zu bezwingen. Ständig musste er husten, als hätte er ein Haar in der Kehle. Erleichtert sprang er auf, als ein Hornsignal verkündete, dass die Wettkämpfe beginnen sollten. Er schob dem Falken die Haube über den Kopf, stieg auf sein Pferd und ritt mit Ibrahim und den Unterfalknern zu der Freifläche in der Mitte des Zeltlagers. Als er bei der Arena ankam, zuckte er zurück. Tausend bewaffnete und mit Rüstungen angetane Reiter wimmelten dort durcheinander. Es wirkte mehr wie eine Musterung bei der Armee und nicht wie eine Jagdgesellschaft.

Lächelnd ritt Vallon aus der Menge heraus auf ihn zu. «Willkommen, Fremder. Wir haben von deinen Erfolgen gehört. Nicht viele Falkner töten beim ersten Versuch einen Kranich.»

«Es war keine faire Jagd. Das Beutetier war geschwächt worden.»

Vallon ritt mit Wayland ein wenig zur Seite. «Ich weiß, dass dir dieser Wettkampf sehr viel bedeutet. Und das sollte er auch, nach all der Vorbereitung, die du hineingesteckt hast. Aber es geht um mehr. Ich habe es dir nicht früher gesagt, weil ohnehin nichts Suleiman dazu gebracht hätte, die Herausforderung zurückzunehmen.»

«Ich will nicht, dass der Wettkampf abgesagt wird.»

«Suleiman hat an dem Abend, an dem er dem Wettkampf zugestimmt hat, Bedingungen gestellt. Wenn du gewinnst, ziehen wir mit einer Belohnung weiter. Wenn du verlierst, dann verlierst du deine Freiheit.»

«Ich verstehe nicht.»

«Wenn du verlierst, wirst du Walters Sklave.»

«Ich werde niemandes Sklave. Ich werde mich keinem Mann auf der Welt beugen. Warum habt Ihr mir das nicht früher gesagt?»

«Ich wollte nicht, dass du dich mit dieser Drohung quälst, während du den Falken trainierst. Ich sage es dir jetzt, weil ich den Emir dazu bringen kann, dir deine Freiheit zu lassen, auch wenn der Falke den Wettbewerb nicht gewinnt.»

«Und falls Euer Plan nicht aufgeht? Was wird dann aus Syth?»

«Ihr werdet nicht getrennt werden. Vertrau mir. Tu dein Bestes, zerbrich dir nicht den Kopf über eine Niederlage. Befolge die Anweisungen des Emirs ganz genau, und versuch nicht, etwas Unmögliches zu erreichen.»

«Das werde ich nicht.»

Wayland war von der Neuigkeit immer noch wie betäubt, als Hero sich zu ihm gesellte. «Keine Sorge. Ganz gleich, wie es ausgeht, Vallon wird dich Walter niemals übergeben.»

«Wie kannst du da so sicher sein?»

«Vorgestern Abend hatten wir noch ein Treffen mit Suleiman. Es ist gut gelaufen. Er hat ehrgeizigere Pläne, als bloß seinen Rivalen in einem Falkenduell zu schlagen. Er will ein Sultanat in Anatolien gründen. Wenn du verlierst, wird ihm Vallon für diese Sache seine Dienste anbieten.»

«Aber was ist mit seinem Plan, in die Warägergarde einzutreten?»

«Er fühlt sich an erster Stelle den Menschen verpflichtet, für die er verantwortlich ist. Und jetzt vergiss das alles und konzentriere dich auf den Wettkampf.» Hero deutete auf eine uniformierte Reitergruppe, die unter einem Adlerwappen ritt. «Siehst du den Mann mit dem goldenen Mantel? Das ist dein Gegner. Er heißt Temur. Das bedeutet ‹Eisen›.»

Wayland musterte die plumpe Gestalt inmitten der Gruppe. Das Gesicht des Mannes war rund wie ein Teller und zu einem Lächeln verzogen. «Er sieht aus wie ein Pfannkuchen.»

«Der Anschein trügt. Denk dran, dass er einen Aufschub erbeten hat, weil er eine Streitigkeit zu schlichten hatte. Es ging um Kameldiebstahl. Er hat den Schuldigen dazu verurteilt, in eine nasse Rinderhaut eingenäht in die Sonne gelegt zu werden, sodass das Leder ihn erstickt hat, während es zusammengeschrumpft ist.»

Wayland sah sich in der Arena um und entdeckte Walter, der ein Kettenhemd trug und eine Gruppe seldschukischer Freunde um sich geschart hatte.

«Warum trägt hier eigentlich jeder Rüstung?»

«Es ist ebenso eine Militärübung wie ein Sportereignis.»

«Ist Syth da?»

Hero schüttelte den Kopf. «Frauen sind nicht zugelassen.»

Die Menge teilte sich vor ihnen. Suleiman ritt an der Spitze seiner Gefolgschaft heran, er trug ein Leopardencape über einem Schuppenpanzer-Mantel. Zunächst befragte er den Falkenmeister, richtete dann seinen Katzenblick auf Wayland und sagte etwas zu Faruq.

«Er will wissen, wie der Falke abschneiden wird», sagte Hero.

«Sag dem Emir, dass der Falke dank der Großzügigkeit Seiner Exzellenz und der Fähigkeiten Seines Falkenmeisters auf dem Gipfel seiner Leistungskraft steht und jeder Herausforderung gewachsen ist, die sich ihm stellt. So Gott will.»

Suleiman tastete unter die Flügel des Falken, um die Muskelspannung zu prüfen. Er sagte etwas zu Ibrahim, und der Falkenmeister verbeugte sich. Ein letzter, forschender Blick auf Wayland, dann ließ der Emir seinen Hengst wenden. Trompeten erklangen, und die Reiter machten die Arena frei.

Hero grinste Wayland an. «Sieh dir an, wie weit du es gebracht hast. Als wir uns kennengelernt haben, konntest du nicht einmal sprechen. Und jetzt tauschst du Höflichkeiten mit einem Seldschuken-Emir.»

Die Armee schwärmte unter einem eisblauen Himmel aus, und die Soldaten begannen jedes Tier zu töten, das ihnen über den Weg lief. Es dauerte einen Moment, bis Wayland klar wurde, dass dieses Gemetzel Methode hatte und eine Übung für den Kriegsfall war. Aufklärer mit Flaggen waren vorgeschickt worden, um Beute zu suchen. Einer von ihnen gab von der Horizontlinie aus ein Signal, und ein Trompetenstoß brachte das Feld zum Halten. Auf den nächsten Trompetenklang lösten sich mit höchster Präzision die Flügel der Armee, und die Reiter trabten vorwärts. Sie verschwanden über dem Horizont, und die Ebene wirkte vollkommen verlassen. Die beiden Emire warteten mit ihrer Entourage an der Mittellinie.

Aus der Ferne klangen Hornsignale herüber. Eine Staubwolke erhob sich am Horizont, und die ersten Reiter des zurückkehrenden Vorauskommandos tauchten in zwei Reihen am Horizont auf. Eine Gazellenherde jagte zwischen ihnen dahin. Hinter den Gazellen erschienen wie aus der Erde gewachsen die übrigen seldschukischen Reiter in Halbmond-Formation und trieben die Herde zwischen den Spitzen des Halbmondes weiter. Suleiman deutete mit seinem Zeremonialstab nach rechts und links, und zwei weitere Schwadronen setzten sich in Bewegung, galoppierten vor, damit die Gazellen nicht zu den Flanken hin ausbrachen. Alle fünfzig Schritt hielt einer der Seldschuken an, sodass die Beute in dem Moment, in dem die ersten Reiter zu den Spitzen der Halbmond-Formation aufgeschlossen hatten, eingekesselt war. Dann begannen die Seldschuken, das Netz enger zu ziehen, schwenkten die Flaggen und trieben die Gazellen wie durch einen Trichter zwischen die beiden Emire.

Dreißig Gazellen galoppierten in diesen Korridor und waren ein so einfaches Ziel für die wartenden Bogenschützen, dass kein einziges Tier das Ende des tödlichen Spaliers erreichte.

Walter ritt zu Vallon hinüber. «Jetzt wisst Ihr, womit wir es in Manzikert zu tun hatten.»

Sie machten weiter, und Waylands Erinnerungen später waren ein Wirbel von Einzelbildern: Die Seldschuken stürzten sich in spontane Pferderennen und Bogenschützenwettbewerbe. Sie scheuchten einen Schakal in ein ausgetrocknetes Flussbett, und dreißig Reiter peitschten bei seiner Verfolgung auf ihre Pferde ein. Suleimans Leute auf dem einen, Temurs auf dem anderen Ufer. Einer von Suleimans Männern überholte das Beutetier, drehte sich im Sattel um, schoss einen Pfeil nach hinten ab, und traf den Schakal mitten in die Brust. Suleiman überhäufte den Meisterschützen mit Silber.

Die zwei Emire wählten Sakerfalken aus und ließen sie auf Hasen und Trappen fliegen, die von dem Vorauskommando ausgesetzt wurden. Eine armselige Vergnügung, fand Wayland. Die Falken jagten die Hasen und stießen so oft auf sie herunter, bis sie zu verwirrt waren, um noch zu wissen, wohin sie flüchten sollten. Die Flüge auf die Trappen waren Verfolgungsjagden, die sich selten oberhalb von fünfzig Fuß abspielten. Wenn es dem Beutetier gelang, sich in eine Deckung auf dem Boden zu verkriechen, wurde es von den Seldschuken wieder aufgescheucht und flog auf. Dieser Ablauf wurde so lange wiederholt, bis die Trappe von dem Falken geschlagen wurde oder entkam.

«Das ist eine abstoßende Jagd», sagte Wayland zu Vallon. «So lasse ich meinen Falken nicht fliegen.»

«Halt dich zurück. Erstens ist es nicht dein Falke. Und zweitens kann der Emir jagen, wie es ihm gefällt.»

Ein Trompeter verkündete das Ende der vormittäglichen Vergnügungen. Diener errichteten einen Zelt-Kiosk, und die beiden Emire stärkten sich an Lammspießen und Reis, Feigen, Melonen und Granatäpfeln, Walnüssen in Sirup und Sorbets, die mit Eis von den Zwillingsgipfeln gekühlt wurden.

Wayland nahm sich etwas zu essen und zog sich aus dem Gedränge zurück, weil er den Falken nicht nervös machen wollte. Da schob sich eine Gestalt neben ihn.

«Sieh mich nicht an. Ich dürfte gar nicht hier sein.»

«Syth!»

«Ich wäre schon früher gekommen, wenn der Welpe nicht auf meine Beinhosen gepinkelt hätte. Da musste ich mich noch mal umziehen und dann auf eine Gelegenheit warten, mich hinauszuschleichen.»

Ihre Hände glitten ineinander.

Die Brise aus Nordwesten hatte aufgefrischt, und die Diener, die das Zelt abbauten, kämpften mit den heftig schlagenden Tuchbahnen. Der ganze Tross setzte sich wieder in Bewegung und schlug einen Bogen um das Südufer des Salzsees. Die Sonne hatte ihren Zenit weit überschritten, und langsam wurde es ernst.

Zwei Späher tauchten auf einem Hügelrücken auf, und der Jagdzug stoppte. Einer der Späher blieb auf dem Hügel stehen, während der andere zum Emir heruntergaloppierte, um seine Meldung abzugeben. Ibrahim hörte ebenfalls zu und erklärte Wayland, dass Vorreiter einen großen Schwarm Kraniche entdeckt hatten, die auf der anderen Seite des Hügels fraßen.

Langsam rückten sie weiter vor. Wayland hörte die schrillen Rufe der Kraniche, lange bevor er sie sah. Es mussten wohl Tausende sein, die sich an beiden Ufern eines breiten Wasserlaufs zusammengefunden hatten, der zum Salzsee floss.

Es war zu riskant, den Falken vor einer so riesigen Menge Vögel abheben zu lassen, sagte Ibrahim. Der Jäger würde sich vor diesem Massenauftritt der Beute fürchten. Selbst wenn sie in Paaren flogen, würden sich die Vögel im Sturm der Kranichschwingen aus den Augen verlieren.

«Wer unternimmt den ersten Flug?»

«Temur, auf eigenen Wunsch. Der Wind wird für seine Saker bald zu stark.»

Wayland war erleichtert. Wenn es den Sakern nicht gelänge, einen Kranich zu töten, stünde der Gerfalke nicht mehr unter Druck.

Das halbe Feld rückte in zwei Reihen vor und ritt in einem großen Kreis um die Kraniche herum. Als die Reiter den Kreis verengten, hörten einige der Vögel auf zu fressen und reckten ihre Hälse. Die Reiter rückten weiter vor, und die Kraniche, die ihnen am nächsten waren, hoben mit gellenden Schreien ab. Die Warnrufe schreckten weitere Tiere aus dem Schwarm auf. Einer nach dem anderen flog davon. Nur noch etwa dreißig Kraniche waren übrig, als die Reiter aufhörten, in immer engeren Kreisen um sie herumzureiten. Ibrahim deutete auf die kleine Gruppe. Sie war das Angriffsziel.

Den Falken auf der Faust, trabte Temur in Gegenwindrichtung auf die Beute zu. An seiner Seite ritt ein weiterer Falkner, der den zweiten Saker trug. Sie näherten sich bis auf eine Achtelmeile, bevor die Kraniche abhoben, beinahe in die Höhe sprangen, als würden ihre Schwingen mit Hebeln bewegt. Als der letzte abflog, warf Temur mit einem Schrei seinen Falken in die Luft.

Er flog schnell und zielgerichtet, gewann an Höhe, um den Kranichen den Fluchtweg in Windrichtung abzuschneiden. Die fünf Vögel der Gruppe verteilten sich, der Saker aber konzentrierte sich auf den Kranich, den er sich als Beute ausgesucht hatte. Weil sie spürten, dass sie nicht das Ziel des Angriffs waren, glitten die anderen Kraniche mit der Windrichtung in Sicherheit. Erst in diesem Moment ließ der Falkner den zweiten Saker fliegen.

Wayland beobachtete fasziniert, wie die beiden Falken ihre Beute gegen den Wind weitertrieben. Temurs Vogel setzte den Kranich unter Druck, während sein Jagdpartner darauf ausgerichtet war, Höhe zu gewinnen. Als dem Kranich klar wurde, dass er nicht an den Falken vorbeikäme, versuchte er, nach oben zu flüchten. In engen Spiralen schraubte er sich höher, die Sakerfalken mit größeren Kreisflügen ebenfalls steigend unter sich. Sie drehten sich wie Karussellfiguren, und der Wind trieb sie Richtung Südwesten ab. Wayland ließ sein Pferd in leichten Galopp fallen, um in der Nähe des Schauspiels zu bleiben. Keine Wolke stand am Himmel, und die unterschiedliche Größe der Vögel machte es schwierig einzuschätzen, welcher höher flog.

Die Saker waren für das Auge nur noch so groß wie Schwalben, als einer von ihnen unvermittelt über eine kurze Strecke niederstieß und den Kranich zwang, seitlich auszuweichen. Dann schwang sich der Falke wieder hinauf, und die Sonnenstrahlen schimmerten auf seiner Unterseite, als er zu einem zweiten Angriff abschwenkte. Sein Jagdpartner schraubte sich unterdessen immer noch höher in die Lüfte. Ein weiterer kurzer Sturzflug, und der Kranich drehte sich um die eigene Achse und schlug mit den Beinen. Kaum hatte er sich von dem Angriff erholt, als der zweite Falke aus einer anderen Richtung auf ihn niederstieß. Das Tempo erhöhte sich, beide Falken stiegen auf und stießen nieder wie Schmiedehämmer, ohne den Kranich je zu berühren. Doch bei jeder Finte sackte der Kranich weiter ab. Wayland konnte die Falken nicht mehr auseinanderhalten. Einer von ihnen vollführte einen Sturzflug, bei dem er den Kranich berührte. Ein Wirbel aus Federn trieb mit dem Wind davon. Temurs Unterstützer jubelten.

Der Kranich begriff, dass er den Fluchtversuch über die Höhe aufgeben musste, und sank mit hochgereckten Flügeln. Wayland hatte einen der Falken aus den Augen verloren. Der Saker, der den Kranich getroffen hatte, schwebte angriffsbereit über seiner Beute, zielte, und stürzte sich hinab. Dieses Mal hörte Wayland den Aufprall und sah den Kranich in der Luft taumeln. Während er noch den Saker beobachtete, der sich zu seinem nächsten Angriff emporschwang, fegte sein Partner herab und nahm den Rücken des Kranichs ins Visier. Jäger und Beute rasten in einem stürmischen Wirbel herab. Dann verkrallte sich der zweite Saker in den Kranich, und alle drei Vögel stürzten wie ein Wrack vom Himmel. Der Horizont kippte zurück in Waylands Sichtfeld. Kranich und Falken trudelten mit einer Geschwindigkeit zur Erde, die für alle drei Tiere lebensbedrohlich war. Weniger als fünfzig Fuß vom Boden entfernt ließen die Falken ihre Beute los. Mit einem dumpfen Geräusch kam der Kranich auf und wandte sich mit seinem dolchartigen Schnabel und klatschenden Flügeln zu seinen Gegnern um. Einer der Saker packte ihn von hinten, sodass er nach vorn fiel. Der Kranich trat mit den Beinen aus, und dann konnte Wayland ihn nicht mehr sehen, weil ein Dutzend Seldschuken hingaloppierten. Einer von ihnen sprang vom Pferd. Es war Temur selbst. Als es ihm gelungen war, sich durch das Gedränge zu schieben, sah Wayland den toten Kranich vor sich und den Emir, der seine Saker mit einem Messer in der Hand dazu anhielt, das bloßgelegte Herz des Kranichs zu fressen. Trompeter feierten den Jagderfolg. Temur blickte mit einem beinahe wahnsinnigen Grinsen in die Runde.

Wayland drehte sich um. Hinter ihm stand Vallon. Er lächelte kläglich. «Das wird wohl noch recht spannend.»

Einige Seldschuken waren dem Hauptschwarm der Kraniche nachgeritten und hatten etwa ein Dutzend der Vögel in einem kleinen Sumpfgebiet in der Nähe des Salzsees isoliert. Wayland wartete an seinem südlichen Ufer, während hundert berittene Treiber das Röhricht durchkämmten. Der Wind war stark genug, um den Schnee aufzuwirbeln, der sich in den Senken gesammelt hatte. Ibrahim wiederholte immer wieder Anweisungen, die Wayland nicht verstand. Er konnte nur daran denken, dass er ausschließlich auf den Befehl des Emirs handeln durfte. Suleiman und seine führenden Offiziere hatten etwa vierzig Schritt entfernt Stellung bezogen. Der Emir deutete mit seinem Stab auf Wayland, und Ibrahims Stimme wurde noch eindringlicher.

Die Jagdlust des Gerfalken machte es schwer, ihn zu bezähmen. Das Tier verstand jede Bewegung Waylands als Auftakt zum Fliegen, sprang hoch und ruderte mit den Flügeln. Wayland hatte ihm die Drahle abgenommen und die Langfessel durch die Schlitze in den Geschühriemchen gefädelt. Eingedenk der Schwierigkeiten, die er gehabt hatte, als er den Falken auf den Übungskranich fliegen lassen wollte, hatte er die Haube nur ganz lose befestigt, sodass er sie jeden Augenblick abziehen konnte.

Er konzentrierte sich auf die Seldschuken, die sich durch das Marschland arbeiteten. Es war eine gute Falle. Der Salzsee lag mehr als eine Meile in Gegenwindrichtung, seine Sümpfe waren die naheliegendste Zuflucht für jeden aufgescheuchten Kranich. Doch bisher hatte sich noch keiner gezeigt, dabei hatten die Treiber schon die Hälfte des Sumpfgebietes durchkämmt. Die Furcht davor, den Falken zu diesem wichtigen Flug aufsteigen zu lassen, wurde von der Befürchtung abgelöst, dass er überhaupt nicht fliegen würde.

Vier Enten erhoben sich quakend aus dem Marschland und stiegen gegen den Wind auf. Dann aber schienen sie Luft zu treten und kehrten eilig um, als würden sie an Fäden weggezogen. Der Falke hörte sie vorbeirauschen und griff sie blind an. Waylands Pferd scheute. Er versuchte es zu beruhigen, während er zugleich den Falken wieder auf seine Faust zurückschwingen musste. Die Langfessel hatte sich um die Geschühriemchen gewickelt, und die Haube war abgerutscht. Es war ein Albtraum – ein Pferd, das scheute, und ein widerspenstiger Falke ausgerechnet dann, wenn jeden Moment das Beutetier auffliegen konnte. Einer der Unterfalkner nahm das Pferd am Zaum. Wayland ließ sich aus dem Sattel gleiten und suchte nach der Falkenhaube. Das Pferd hatte sie zertrampelt. Ibrahim drückte ihm eine Ersatzhaube in die Hand, und er stülpte sie dem Falken über den Kopf.

Jemand rief etwas und deutete nach Süden. Dreihundert Fuß über der Hochebene und eine halbe Meile in Abwindrichtung flog ein einzelner Kranich gemächlich zum Salzsee. Wayland hatte die Langfessel des Falken entwirrt. Der Vogel hechelte, aber der Kranich hatte noch eine lange Flugstrecke vor sich, und der Falke würde seine Aufregung überwunden haben, bis die Beute in den Aufwind drehte.

Ibrahims Ruf riss ihn aus seinen Überlegungen. Als sich Wayland zu dem Emir umdrehte, sah er ihn seinen Zeremonialstab nach unten richten. Das war der Befehl, den Falken abfliegen zu lassen.

Wayland konnte es nicht glauben. «Das ist Wahnsinn! Der Kranich wird weg sein, bevor der Falke auch nur in seine Nähe gekommen ist.»

«Tu, was dir gesagt wird!», schrie Vallon.

Wayland ritt zu Ibrahim. «Sag dem Emir, er soll warten, bis der Kranich über unsere Köpfe fliegt.»

Suleiman ritt auf ihn zu. Ibrahim fing ihn ab. Sie schrien sich an. Der Falkenmeister deutete zuerst auf den Kranich und dann auf den See. Suleiman starrte mit einem Gesichtausdruck zu Wayland hinüber, der die meisten Männer hätte auf die Knie fallen und um Gnade flehen lassen. Die Hand des Emirs schnellte wütend nach oben. Mit einem letzten finsteren Blick auf Wayland ließ er sein Pferd wenden und ritt fünfzig Schritt weg.

Wayland versuchte, die Szene augenblicklich zu vergessen. Der Kranich flog weiter und stieg höher. Er musste über fünfhundert Fuß hoch sein, als er über sie hinwegflog. Wayland zog die Fessel aus den Geschühriemchen. Er sah zu dem Emir hinüber, wartete auf den Befehl, den Falken hochzuwerfen. Doch Suleiman starrte nur böse vor sich hin, als hätte er das Interesse an der ganzen Angelegenheit verloren. Der Kranich war weitere zweihundert Schritt im Aufwind vorangekommen. Wayland wartete, warf immer angespanntere Blicke zu dem Emir hinüber. Der Kranich war nun vierhundert Schritt im Aufwind, und der Emir hatte nicht einmal aufgesehen.

«Was hat er denn?», fragte Wayland Ibrahim. «Wenn er noch länger wartet, hat der Kranich zu viel Vorsprung.»

Suleiman ließ seinen Stab vorschnellen.

Wayland griff nach der Falkenhaube.

Ibrahim griff hastig nach seiner Hand. «Nein!»

«Ich verstehe nicht.»

Faruq rief etwas. «Der Emir befielt dir, den Falken nicht fliegen zu lassen», schrie Hero. «Er sagt, der Kranich ist zu hoch.»

Wayland explodierte beinahe. «Er hat keine Ahnung. Kein Wunder, dass ihn Temur ständig besiegt.»

Vallon galoppierte auf ihn zu. «Mach es nicht noch schlimmer für dich selbst.»

Wayland blitzte Suleiman an, dann sah er zu dem Kranich hinauf, und ohne noch länger nachzudenken, streifte er dem Falken die Haube ab und warf ihn in den Wind.

Vallon brachte vor Entsetzen keinen Laut hervor. Hero vergrub sein Gesicht in den Händen. «Was ist nur in dich gefahren?»

«Was in mich gefahren ist? Ich habe diesen Falken über zweitausend Meilen hierhergebracht, damit er für den Emir auf Kraniche fliegt. Zuerst befiehlt er mir in einem unmöglichen Moment, den Falken hochzuwerfen, und wenn die Situation ideal ist, verbietet er mir, ihn überhaupt fliegen zu lassen.»

Suleiman hätte Wayland möglicherweise auf der Stelle erschlagen, wenn sein Gefolge seine Aufmerksamkeit nicht auf den Gerfalken gelenkt hätte. Der Falke stieg in äußerst steilem Winkel auf und gewann mit sagenhafter Geschwindigkeit an Höhe. Er hatte die Lücke schon halb geschlossen, bevor der Kranich die Gefahr registrierte und schneller wurde. Der Falke folgte weiter auf seinem Kurs, ließ den Steigungswinkel jedoch etwas flacher werden, um vor die Beute zu kommen und ihr den Weg zur Deckung abzuschneiden. Wayland trieb sein Pferd an und ritt den Vögeln nach. Der Falke erreichte sein Ziel, wurde langsamer und wartete auf die nächste Entscheidung des Kranichs. Obwohl die Beute immer noch mehrere hundert Fuß im Vorteil war, hatte der Falke mittlerweile genügend Höhe, um den Luftraum unter sich zu kontrollieren, egal, ob der Kranich nun mit oder gegen den Wind flog. Also nahm der Kranich den einzigen Weg, der noch frei war, und kreiste wie eine Feder im thermischen Auftrieb nach oben. Der Falke folgte ihm, kam stufenweise höher, nahm manchmal die seiner Beute entgegengesetzte Richtung. Sie waren schon so hoch, dass Wayland den Kopf zurücklegen musste, um sie im Blick zu behalten. Höher und höher stieg der schimmernde Widerschein des Falken im goldenen Sonnenlicht. Waylands Nacken begann zu schmerzen. Der Kranich war nicht mehr größer als eine Biene, die von einer Fliege belästigt wurde. Wayland blinzelte, um klarer zu sehen, denn schon bald würde ein Blinzeln reichen, um sie aus den Augen zu verlieren. Die Biene schrumpfte auf Fliegengröße; aus der Fliege wurde eine winzige Stechmücke. Die Stechmücke verschwand, hinterließ nur einen winzigen Schatten im Himmel. Dann war da nichts mehr. Waylands Augen waren so gut, dass er noch auf Meilen eine Taube erkennen konnte, doch die beiden Vögel waren einfach von der Unendlichkeit verschluckt worden.

Die Zuschauer warteten ab, rieben sich den Nacken. Die meisten Flüge endeten in Abwindrichtung von der Stelle, an der sie begonnen hatten, doch niemand rührte sich. Eine pudrige Dämmerung begann die weite Ebene zu überziehen, und violette Schattenfurchen zogen sich die Berge hinauf.

Vallon fragte Wayland: «Glaubst du, er hat den Kranich geschlagen?»

«Ich weiß nicht.»

«Dann bete zu Gott, dass es so ist. Nur wenn er ihn tötet, haben wir die Chance, einer Bestrafung zu entgehen. Ich werde um Milde bitten, aber ich bezweifle, dass meine Worte viel Einfluss haben werden. Welcher Teufel hat dich nur geritten, dass du dich dem Emir widersetzt hast?»

Wayland konnte nicht antworten. Als er sich abwandte, sah er Syths verängstigtes Gesicht vor sich.

«Der Emir wird dich bestrafen, oder?»

«Nicht, wenn der Falke den Kranich tötet.»

«Aber wenn er es nicht tut, dann tötet der Emir vielleicht dich.»

«Syth …»

«Hast du denn keinen Augenblick darüber nachgedacht, was aus mir wird … und aus unserem Kind?»

Ein Seldschuke rief etwas. Waylands Blick schoss empor, voller Hoffnung. Und er sah den Falken stürzen … stürzen … stürzen. Der Sturzflug verlief in so rasender Geschwindigkeit, dass er nur wie eine flimmernde Bilderfolge wahrnehmbar war. Fünfhundert Fuß über der Hochebene wurde aus dem Tropfenumriss des Falken ein Bogen. Er schwang sich in den Wind und ruhte sich im Gleitflug aus. Suleimans Männer stöhnten auf, und Wayland ließ die Stirn in die Hand sinken. Es war vorbei. Der Kranich hatte den Falken überflügelt, und Wayland hatte die Konsequenzen zu tragen.

Ibrahim galoppierte auf ihn zu, schnappte sich die Zügel von Waylands Pferd und zog es mit sich. «Ruf ihn herunter.»

Wayland ließ sein Federspiel kreisen. Der Falke reagierte nicht darauf. Er ließ sich vom Wind tragen, die Schwingen in einem weiten Rückwärtsbogen ausgebreitet. Er wollte immer noch fliegen und wartete darauf, dass ein neues Beutetier aufgescheucht wurde.

Ibrahim warf eine lebende Taube an einer Schnur in die Luft. Beim zweiten Wurf beschrieb der Falke eine Kurve. Wayland blinzelte. Der Falke flog in die falsche Richtung, auf die untergehende Sonne zu.

«Er ist hinter irgendetwas her.»

Einen Augenblick lang dachte Wayland, der Falke hätte den Kranich gesehen. Aber nur einen Augenblick. Dann sah er es. Der Falke jagte eine Taube. Sie hatte so großen Vorsprung, dass er sich bei jedem anderen Falken über diese vergebliche Verfolgungsjagd die Haare gerauft hätte. Aber sein Falke war eben nicht jeder andere Falke, und deshalb konzentrierte sich Wayland darauf, ihn nicht wieder aus den Augen zu verlieren. Die Taube flog auf die untergehende Sonne zu. Wayland beschirmte seine Augen mit der Hand und sah die Taube vom Rand aus vor die Feuerscheibe schweben. Der Falke hielt direkt darauf zu. Die Blendung fraß sich in Waylands Augen. Er wischte ein paar Tränen weg. Als er den Falken wieder sah, war er sehr dicht hinter der Taube, kam ihr immer näher, als würde er sie an einer Schnur zu sich heranziehen. Die Taube versuchte nach unten auszubrechen. Der Falke flog noch etwas höher, bevor er ihr nachjagte. Die beiden Punkte am Himmel verschmolzen zu einem, und dann war nichts mehr zu sehen. Wayland merkte sich die Stelle, an der sie verschwunden waren. Sie war über dem Sumpfland, das sich um den Salzsee zog.

Er drehte sich zu Ibrahim um. «Er hat sie geschlagen.» Reiter, die wild auf ihre Pferde einpeitschten, hielten auf sie zu. «Such ihn», befahl Ibrahim.

Die ersten Reiter waren nur noch Schritte entfernt, als Wayland seinem Pferd die Sporen gab und Richtung See galoppierte. Ibrahim versuchte, ihm eine Gnadenfrist zu verschaffen. Wenn er den Falken wiederfand, sollte er bis tief in die Nacht warten, bevor er ins Zeltlager zurückkehrte. Ibrahim würde die Zeit nutzen, um sich für ihn einzusetzen. Er würde Suleiman erzählen, dass Wayland die Befehle des Emirs missverstanden habe. Er würde erklären, der Falke sei so erregt gewesen, dass er sich losgerissen hatte.

Der Flug hatte mehr als eine Meile entfernt geendet, und Wayland wusste, dass die Chancen schlecht standen, den Falken zu finden, bevor es ganz dunkel wurde. Die Sonne ließ den Horizont erglühen, und der Falke konnte überall in dem Ödland der Salzpfannen gelandet sein. Und genauso gut konnte er seine Beute bis zum anderen Ufer des Sees hinübergetragen haben.

Hinter Wayland wurden Hufschläge laut, und zwei Reiter holten zu ihm auf. Einer war Syth, der andere Walter. Er schlug Wayland mit dem Handrücken ins Gesicht.

«Du niederträchtiger Hund! Du hast Suleiman zum Gespött gemacht. Jetzt kann dich nichts mehr retten. Ich hätte gute Lust, dir selbst den Kopf abzuschlagen. Ich werde Suleiman darum bitten, mir dieses Vorrecht zu gewähren.»

Wayland ritt betroffen weiter. Er kam zu dem Sumpfgebiet, das sich bis zum See hinzog, und zügelte sein Pferd. Die Sonne war schon halb hinterm Horizont verschwunden, und es wehte ein schneidender Wind. Wayland musterte die Landschaft. Zu seiner Rechten und etwa eine Meile hinter dem Beginn des Marschlandes schwebte ein Adler auf Beutesuche über dem Röhricht und ruderte gelegentlich mit einer schwankenden Bewegung in der Luft zurück. Er musste gesehen haben, wie der Falke mit seiner Beute gelandet war, und suchte nun nach ihm. Wayland trieb sein Pferd zu leichtem Galopp in Richtung des Adlers an. Seine Stute lief über eine Salzpfanne und strauchelte, als sie durch die Kruste brach. Er verlangsamte das Tempo und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die Gegend, über der er den Adler gesehen hatte. Tausende von Inselchen lagen über die Tümpel und Wasserläufe verstreut. Er stieg ab und führte sein Pferd am Zügel weiter, angespannt auf den Klang von Glöckchen über dem Rauschen des Schilfs lauschend. Hundert Schritt weiter, und das Wasser reichte seiner Stute schon bis über die Knie. Vorsichtig setzte sie den nächsten Huf vor, dann weigerte sie sich weiterzugehen.

«In diesem Sumpf findest du ihn nie», sagte Walter.

Wayland gab Syth die Zügel. «Ich gehe allein weiter.» Nach ein paar Schritten blieb er zögernd stehen. Er drehte sich nach Walter um. «Der Falke ist nicht weit weg. Hilf mir beim Suchen.»

Walter wurde wütend. «Was glaubst du, mit wem du hier sprichst? Ich gehe nicht in den Sumpf.»

«Ich komme mit», sagte Syth. «Ich bin leicht, und ich bin im Moor aufgewachsen.»

Wayland hielt seinen Blick immer noch auf Walter gerichtet. «Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen.»

Walter runzelte die Stirn. «Geht es um Drogo und Vallon?»

«Es geht um Mord.»

Walter sah über die Schulter, eine Seite seines Gesichts wurde von den Strahlen der untergehenden Sonne rot gefärbt. Suleiman und eine Eskorte von etwa dreißig Männern galoppierten auf sie zu. Neben ihnen ritten Vallon und Drogo.

«Ich wusste es. Sag mir, wie sie es geplant hatten.»

«Nicht hier. Suleiman wird da sein, bevor ich es erklären kann.»

«Was redest du da von Mord?», fragte Syth. «Was ist los? Du bist so merkwürdig.»

Wayland legte ihr sanft die Finger aufs Handgelenk. «Warte, bis ich zurück bin.»

Die Seldschuken waren nun sehr nahe. Der letzte feurige Sonnenrand war versunken, hatte den Horizont mit einem Flammenband überzogen und ließ die Zwillingsgipfel glühen. Hoch oben in einem Himmel aus Purpur und Safran zogen zarte graue Wolkenfetzen dahin. Wayland machte sich auf den Weg in den Sumpf, watete durch Salzwasser, schob sich durchs Röhricht. Trotz des schweren Kettenhemds, das ihn behinderte, folgte Walter ihm.

«Raus damit jetzt», keuchte er. «Wenn ich das, was ich von dir erfahre, zu meinem Vorteil nutzen kann, lege ich bei Suleiman ein gutes Wort für dich ein.»

«Suchen wir zuerst den Falken.»

Walter packte Wayland am Arm. «Wenn ich dich rette, musst du mir als treuer Sklave dienen.»

Wayland hastete weiter. Das Röhricht war so hoch, dass er nur an dem Licht, das von Westen zwischen den Halmen hindurchdrang, erkennen konnte, in welche Richtung er sich bewegte. Alle paar Schritte blieb er stehen und lauschte angestrengt auf die Falkenglöckchen. Es war aussichtslos. Suleimans gesamte Armee könnte einen Tag lang nach dem Falken suchen und ihn doch nicht finden. Bestimmt hatte er sich mit seiner Taube eine Deckung gesucht, nachdem er den Adler gesehen hatte. Selbst wenn er nur ein paar Schritte neben ihm hockte, würde Wayland vermutlich einfach an ihm vorbeigehen. Falken erstarrten auf ihrer Beute, wenn jemand in die Nähe kam.

Sie erreichten eine Art seichten Tümpel, um den hohes Gras wuchs. Irgendein Gefühl hinderte Wayland daran, das flache Wasser zu durchqueren. Er lief um den Rand herum, nur um gleich den nächsten Tümpel vor sich zu haben. Und dann noch einen. Er ging so viele Schlangenlinien, dass er schließlich nicht mehr wusste, wo er den Adler hatte jagen sehen. Er suchte sich einen Weg zwischen den Sumpflöchern, doch später würde er nur die Sterne haben, um ihm den Rückweg zu zeigen.

Walter machte einen falschen Schritt und sank bis zu den Knien ein. Der Grund um ihn herum erschauerte. Wayland half ihm auf sicheren Boden.

«Das ist weit genug. Mit meinem Kettenhemd ist es hier zu gefährlich.»

«Wir haben immer noch ausreichend Licht, um ihn zu finden.»

«Wir sind schon zu tief im Sumpf. Bring mich zurück.»

«Du kannst umkehren, wenn du willst.»

«Ich kenne aber den Weg nicht.»

«Dann bleib bei mir. Es dauert nicht lange.»

Walter zog sein Schwert. «Erzähl mir, was Drogo vorhat.»

«Wir vergeuden Zeit, die wir besser auf die Suche verwenden würden. Komm schon.»

Walter packte ihn mit der einen Hand, mit der anderen hob er sein Schwert. «Du vergeudest meine Zeit.»

Wayland sah Walter in die Augen.

«Also?»

Waylands Blick irrte ab. «Ich habe sein Glöckchen gehört.»

Walter zerrte ihn am Arm herum. «Lügner. Der Wind hier ist so laut, dass man nicht einmal eine Kirchenglocke hören würde.»

«Nein», sagte Wayland und machte sich von Walter los. Er ging weiter, sah immer wieder nach rechts und links, dann blieb er stehen. Er deutete in eine Richtung. «Es kommt von dort drüben.»

Walter stolperte hinter ihm her. Alle paar Schritte rief Wayland nach dem Falken. Das Glöckchen war nicht mehr zu hören. Wayland verlangsamte seinen Schritt, wollte vermeiden, dass er den Falken versehentlich erschreckte. Er spähte zwischen den Schilfhalmen hindurch, versuchte, die Form des Falken aus der Dämmerung herauszufiltern. «Wo bist du?»

Ein feines Läuten. Wayland legte Walter die Hand auf den Arm. «Er ist ganz nahe. Rühr dich nicht.»

Er ließ sich auf Hände und Knie nieder und kroch voran, formte dabei mit den Lippen lautlose Koseworte für den Falken. Da war wieder das Glöckchen. Er bewegte sich ein paar Fuß vor, und dann hörte er hinter sich das angespannte krack des Falken. Wayland drehte sich um, legte sich in einer Eispfütze auf den Bauch und suchte mit seinen Blicken den Boden ab. Es war schon zu dunkel, um etwas Genaues zu erkennen, aber seine Blicke kehrten immer wieder zu einer verschwommenen Form vor den dicht stehenden Stängeln einer Schilfpflanzengruppe zurück. Die Form bewegte sich nicht und passte auch nicht zu dem Falken. «Bist du das?»

Er schob sich darauf zu und war nur noch einen Schritt entfernt, als er in der Form den Falken erkannte. Der Vogel lag mit ausgebreiteten Schwingen auf dem Bauch. Er fürchtete sich in dieser Dunkelheit und dem Wind vor der Bedrohung durch den Adler. Waylands Auftauchen beruhigte ihn, und er erhob sich und mantelte über seiner Beute. Das Glöckchen klingelte.

Wayland streckte die rechte Hand aus. Der Falke hatte noch nicht einmal mit dem Rupfen der Taube angefangen. Wenn der Adler ihn nicht bedroht hätte, wäre die Taube inzwischen im Kropf und der Falke zu einem Schlafplatz geflogen.

Waylands kalte Finger tasteten über den Boden, bevor sie die Geschühriemchen zu fassen bekamen. Es war keine Zeit, die Drahle anzulegen. Mit klappernden Zähnen schob er das Ende der Langfessel durch die Schlitze in den Geschühriemchen. Als er das Lederband um seinen Handschuh schlang, keuchte er unwillkürlich tief auf. Wie lange er vor Anspannung den Atem angehalten hatte, wusste er nicht.

«Wo bist du?», rief Walter. Er hatte schon einige Male nach Wayland gerufen.

Wayland hob den Falken und seine Beute auf seinen Handschuh und federte auf die Knie zurück. «Ich habe ihn.»

Der Wind blies Walters Antwort weg.

Wayland schob dem Falken die Haube über den Kopf und machte sich auf den Rückweg.

Walter packte seinen Arm. «Und jetzt erzähl mir, wie mich Drogo und der Franke umbringen wollten.»

«Warte, bis wir von diesen Sumpflöchern weg sind. Halte dich dicht hinter mir. Tritt in meine Fußstapfen.»

Er orientierte sich an den Zwillingsgipfeln und ging los. Der Wind war beinahe zu einem Sturm geworden, und die schwankenden Röhrichtpflanzen fuhren über seinem Kopf zischend durch die Luft, als wären es Schwerter.

«Langsamer, verdammt noch mal. Ich kann dich kaum noch sehen.»

Wayland beschleunigte seinen Schritt und kam zu einem der Moorlöcher. Er trat darauf und spürte, wie nachgiebig die Oberfläche war. Dann warf er einen Blick über die Schulter.

Walter war nicht zu sehen, bahnte sich aber lautstark einen Weg durchs Röhricht. «Warte auf mich!»

Wayland atmete tief ein und überquerte das Sumpfloch mit einigen schnellen, gleitenden Schritten. Auf der anderen Seite blieb er stehen und bedeckte mit der Hand sein rasendes Herz. Dann hörte er ein Platschen und einen entsetzten Schrei.

«Beim Blute Christi! Noch ein Schritt und ich wäre verloren gewesen. Wo bist du, verdammt noch mal?»

«Hier.»

Walters Umriss wurde schemenhaft auf der anderen Seite des Sumpflochs sichtbar. «Warum läufst du so schnell? Wo entlang soll ich gehen?»

«Einfach quer drüber.»

«Das haben wir auf dem Hinweg aber nicht gemacht. Das ist ein Sumpfloch.»

«Ich bin so gegangen. Dort sind meine Fußabdrücke.»

«Du trägst ja auch kein Kettenhemd, das sechzig Pfund wiegt.»

«Die Oberfläche wird dich tragen.»

Walter machte einen vorsichtigen Schritt. «Der ganze Boden schwankt. Ich suche mir einen Weg um die Stelle herum.»

«Dafür ist es zu spät. Komm einfach direkt auf mich zu. Und bleib nicht auf einer Stelle stehen.»

Walter schob sich mit leicht gebeugten Knien und ausgestreckten Armen nach vorn. Wayland beobachtete ihn mit kühlem Blick. Wenn er es bis zu mir schafft, dachte er, lasse ich ihn am Leben. Schritt für Schritt kam Walter näher. Er murmelte vor sich hin. Der Boden um ihn herum hob und senkte sich in trägen Wellenbewegungen. Er sah auf, das Gesicht im Sternenlicht bleich vor Angst. «Es hält nicht.»

«Bleib in Bewegung.»

Walter machte noch drei Schritte und hatte die Hälfte geschafft, als die Oberfläche nachgab und er in das Sumpfloch fiel wie ein Mann durch die Galgenklappe. Bis zur Hüfte steckte er im Morast und strampelte mit den Beinen. «Ich komme nicht frei!», schrie er. «Der Sumpf hält mich fest. Ich sinke tiefer. O mein Gott! Hilf mir!»

Wayland sah ihn nur an.

«Rette mich! Was stehst du noch da? Warum sagst du nichts?»

Waylands Zunge klebte ihm am Gaumen.

Walter hörte auf zu strampeln. «Hast du mich deshalb hierhergelockt? Jetzt verstehe ich. Das hat sich Drogo ausgedacht. Er setzt dich als Werkzeug für seinen Hass ein.» Walters Stimme verlor sich in einem verzweifelten Stöhnen.

Wayland fand seine Sprache wieder. «Es hat nichts mit Drogo oder Vallon zu tun!»

Nur die Sterne waren Zeugen. Walter klapperte mit den Zähnen.

«Warum willst du mir etwas antun? Ich habe dich aus der Wildnis gerettet. Ich habe dich in mein Haus aufgenommen, habe dich zu meinem Falkner gemacht. Warum willst du mir etwas antun?»

Wayland beugte sich mit hässlich verzogenem Gesicht zu Walter vor. «Weil du einem Mann den Kopf abgeschlagen hast.»

«Ich habe im Krieg viele Männer getötet. Wovon redest du da?»

Wayland ließ sich auf die Knie fallen. «Es war der Kopf meines Vaters.»

«Ich kenne deinen Vater nicht. Ich kann mich nicht an jeden englischen Krieger erinnern, der unter meinem Schwert gefallen ist.»

«Er war kein Krieger, und du hast ihn nicht in der Schlacht getötet. Er war ein Bauer, und du bist an einem Abend vor vier Jahren auf sein Gehöft geritten, als er gerade Feuerholz gemacht hat. Deine Männer haben ihn auf den Hackklotz gedrückt, und du hast ihm den Kopf abgeschlagen und dazu gelacht. Als er tot war, hast du meine Mutter und meine ältere Schwester ins Cottage gezerrt und sie geschändet. Dann hast du ihnen die Kehlen durchgeschnitten und Feuer an das Haus gelegt, in dem noch mein Großvater war.»

«Das war ich nicht. Das muss Drogo gewesen sein.»

«Du warst es. Zusammen mit Drax und Roussel und noch ein paar anderen. Ich war dort. Ich habe zugesehen.»

Walter begann zu keuchen. «Ich habe nicht mehr getan, als jeder anderen Normanne auch getan hätte. Dein Vater hat meine Rehe gewildert. Wilderei wird mit dem Tode bestraft.»

«Meine Mutter und meine Schwester waren keine Wilderer.»

Walter stöhnte. «Wayland, ich hätte dich töten können, als ich dich im Wald gefunden habe. Hab Erbarmen mit mir, so wie ich mit dir Erbarmen hatte. Drogo hätte dich nicht am Leben gelassen.»

Wayland richtete sich auf. «Gestehe dein Verbrechen und bereue.»

«Gestehen? Einem englischen Bauern?»

«Bereu oder stirb.»

«Ich bereue gar nichts. Das Einzige, was ich bereue, ist, dass ich dich nicht getötet habe.»

Waylands Stimme wurde zu einem Flüstern. «Alles was du tun musst, ist bereuen. Bitte um Vergebung, und ich rette dich.»

«Niemals!»

Wayland legte die Stirn in die Hand. All seine Träume und Hoffnungen waren zerstört. Noch bevor die Nacht vorüber war, würde auch er tot sein und Syth und ihr ungeborenes Kind in einem fremden Land allein lassen.

Walter atmete in hastigen Stößen. «Das ist deine eigene Rache, oder? Vallon weiß nichts davon.»

«Niemand weiß davon.»

Walter begann zu kreischen. «Du Narr. Wenn ich sterbe, stirbt das Geheimnis des Evangeliums mit mir.»

Wayland starrte ihn verständnislos an. «Was für ein Geheimnis? Was für ein Evangelium?»

«Das Evangelium des Thomas und ein Brief von Priester John. Unbezahlbare Schätze. Warum, glaubst du, hat Vallon sein Leben riskiert, um mich zu retten? Warum, glaubst du, hat Cosmas über mein Lösegeld verhandelt?»

«Wo sind die Dokumente?»

«Wo niemand außer mir sie finden kann. Und jetzt zieh mich aus diesem stinkenden Loch.»

Walter war inzwischen bis zur Brust eingesunken. Rufe wurden vom Wind herangetragen. Ein Flammenschein blitzte durchs Röhricht.

«Hilfe!», schrie Walter. «Zu Hilfe!»

Die Rufe kamen näher. Fackeln leuchteten.

«Oh, Gott sei gedankt», keuchte Walter. Er hörte auf zu kämpfen. «Jetzt wirst du für deinen Verrat bezahlen. Was ich mit deiner Familie gemacht habe, ist nichts im Vergleich zu dem, was ich mir für dich einfallen lasse.»

Vier Gestalten tauchten im Röhricht auf.

«Wayland?», rief Vallon.

«Er hat mich in ein Sumpfloch geführt!», schrie Walter. «Er wollte mich umbringen. Um der Liebe Christi willen, helft mir!»

Vallon ging auf Wayland zu, dicht gefolgt von Hero. Die beiden anderen Männer waren Seldschuken, die Stangen und ein Seil dabeihatten. Sie erfassten die Lage und entrollten das Seil.

«Bewegt Euch nicht», sagte Vallon zu Walter. «Wir ziehen Euch heraus.»

«Oh, Gott sei Dank!»

Hero schob sich vor. «Wo ist das Evangelium?»

Vallon versetzte ihm einen Klaps.

«Dieser Mann ist in Lebensgefahr.»

«Er wird es in keiner anderen Situation preisgeben. Wenn er erst einmal in Sicherheit ist, wird er sich gegen uns wenden. Walter, sagt uns, wo Ihr die Dokumente versteckt habt.»

«Schwört Ihr, mich zu retten?»

«Ihr verschwendet wertvolle Zeit», sagte Vallon. «Gewiss werden wir Euch retten.»

«Sie sind in einer Römerbastion am Ostufer des Salzsees. Jetzt beeilt Euch!»

«Wir hatten in der Nähe dieser Festung unser Lager aufgeschlagen. Wo genau finden wir das Evangelium?»

«Ganz oben an der Treppe des Turms. Hinter einem Stein, in den ein Löwe gemeißelt ist. Beeilt Euch, bevor es zu spät ist!»

Vallon befahl den Seldschuken, Walter das Seil zuzuwerfen. «Greift vorsichtig danach. Vermeidet jede Bewegung, die nicht unbedingt notwendig ist.»

Walter klammerte sich an das Seil. Vallon, Hero und die beiden Seldschuken zogen. Vallon drehte sich zu Wayland um. «Hilf uns.»

Sie zerrten und keuchten, bis ihnen der Schweiß auf der Stirn stand. Jedes Mal, wenn sie sich in das Seil hängten, wurde Walter um einen halben Fuß hochgezogen, doch all ihre Anstrengungen genügten nicht, um ihn dem saugenden Griff des Moors zu entwinden.

«Zieht Euer Kettenhemd aus», rief Vallon. «Ohne die Rüstung sinkt Ihr nicht.»

Walter krallte sich eiskalten und schlammverschmierten Fingern in die schlüpfrigen Kettenglieder. «Ich schaffe es nicht. Ich werde bei jeder Bewegung tiefer hinabgezogen.»

«Schickt einen der Seldschuken los, um Verstärkung zu holen», sagte Hero.

Vallon wischte sich über die Stirn. «Das hat keinen Sinn. Wir bräuchten schon ein paar Pferde, um ihn herauszuziehen, und die Zugkräfte würden ihn in der Mitte durchreißen.» Er hob den Kopf. «Walter, Ihr müsst den Sog mindern. Rudert mit den Beinen.»

Walter war bis zu den Schultern eingesunken. «Ich spüre sie nicht mehr», wimmerte er.

Vallon packte erneut das Seil. «Noch einmal mit aller Kraft!»

Sie zogen zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Da gab es ein platzendes Geräusch, und das Seil verlor seine Spannung, sodass sie alle rückwärts taumelten.

«Meine Schulter!», schrie Walter.

Vallon rappelte sich auf. Er warf Walter das Seil zu. «Haltet Euch fest. Wir können zumindest verhindern, dass Ihr untergeht.» Und zu Hero sagte er: «Schick einen von den Seldschuken los, damit er ein paar Männer mit Leitern holt.»

«Er erfriert, bevor sie hier sein können.»

Walter tastete mit der linken Hand nach dem Seil. Seine Finger schlossen sich darum. Als Vallon daran zog, rutschte es Walter durch die Finger.

«Ich kann es nicht mehr festhalten. Ich habe alles Gefühl in der Hand verloren.»

Der Sumpf stand nun oberhalb seiner Schultern. Vallon beugte sich mit den Händen auf den Knien so weit wie möglich zu Walter hinüber. «Walter, es gibt nichts mehr, das wir für Euch tun können. Macht Euren Frieden mit Eurem Schöpfer.»

Der Morast hatte Walters Kinn erreicht. «O heilige Mutter Gottes, steh mir bei in der Stunde der Not. O gnädige Mutter Gottes …» Mit einem Schluchzen brach er ab.

Voller Grauen sahen sie zu, wie Walter noch ein Stückchen tiefer sank.

«Was für eine schreckliche Art zu sterben», sagte dieser mit seltsam unbeteiligter Stimme. Dann rief er den Seldschuken etwas auf Türkisch zu. «Ich habe ihnen erzählt, was hier passiert ist. Der Emir wird Euch für Eure Verbrechen bezahlen lassen.» Seine Stimme wurde zu einem Kreischen. «Fluch über dich, Wayland! Ich verfluche dich, weil du mich hierhergebracht hast. Und ich verfluche Drogo! Ich warte in der Hölle auf euch!»

Wasser lief in seinen Mund und aus seinem letzten Fluch wurde ein gurgelnder Schrei. Wayland überlief ein Schauer, doch dann dachte er an seine Familie, die in ihrem Heim niedergemetzelt worden war, und er bedauerte sein Verbrechen nicht. Blasen stiegen von Walters Mund auf. Er bäumte sich auf, als das Wasser über seine Nase stieg. Doch dann sank er wieder tiefer, und noch mehr Luftblasen zerplatzten an der Oberfläche des Sumpflochs. Seine Augen starrten sie immer noch an, rollten vor Entsetzen in ihren Höhlen, dann wurden sie starr, und sein Blick brach. Schließlich versanken auch die Augen, langsam gefolgt vom ganzen Kopf. Noch ein letztes Mal bebte der schwammige Morast, dann lag er still und ruhig vor ihnen.

Vallon hatte sich auf ein Knie niedergelassen. Er warf einen Blick über die Schulter. «Ist das wahr? Hast du ihn in den Tod geführt?»

«Er hat meine Familie abgeschlachtet. Vater, Mutter, Bruder und Schwester, Großvater … Er hat die Frauen geschändet und ihnen die Kehlen durchgeschnitten.»

Vallon sah ihn lange an. «Deshalb bist du also mit uns gekommen. Ich bin mit dir ausgezogen, um Walter zu retten, und du hattest vor, ihn zu töten.»

«Nur am Anfang. Aber als ich Syth begegnet war und als ich gesehen habe, wie ritterlich Ihr uns auf unserer Reise angeführt habt, habe ich geschworen, meinen Hass zu begraben. Ich habe nicht einmal Syth erzählt, was Walter getan hat. Aber dann hat er gedroht, mich umzubringen. Er hat sich an der Vorstellung geweidet. Ich weiß, dass mich der Emir wahrscheinlich hinrichten lässt, weil ich seine Befehle nicht befolgt habe. Ich weiß, dass ich das Kind nicht sehen werde, das Syth trägt. Walter ist mir in den Sumpf gefolgt, und alles, was ich noch hatte, war mein Hass. Und trotzdem habe ich ihm noch einen Chance gegeben. Ich hätte versucht, ihn zu retten, wenn er nur seine Verbrechen gestanden und bereut hätte.»

Vallon richtete sich mit einem erschöpften Seufzer auf. «Die Seldschuken wissen nicht genau, was passiert ist. Wir sagen dem Emir, es war ein Unfall. Wenigstens hast du den Falken wiedergefunden. Das könnte dazu beitragen, seinen Zorn zu beschwichtigen.»

Da brach Wayland zusammen. Es war nicht die Angst vor Suleimans Bestrafung, die ihn überwältigte. Es war die Anspannung, die in ihm angestiegen war, seit ihm der Zufall eine Gelegenheit verschafft hatte, Walter zu töten. Und es war die Verzweiflung bei dem Gedanken an das, was mit Syth geschehen würde.

Hero legte ihm den Arm um die Schulter. «Komm. Bleiben wir nicht länger an diesem grauenhaften Ort.»

Sie suchten sich einen Weg aus dem Sumpfgebiet. Etwa zwanzig Männer hatten unter züngelnden Fackeln mit dem Emir gewartet. Suleiman ritt vorgebeugt und mit bösartigem Gesichtsausdruck auf sie zu. Vallon trat mit Hero vor Wayland und bat für ihn um Gnade. Ein halbes Dutzend Seldschuken trieb sie mit ihren Schwertspitzen aus dem Weg. Der Emir blieb vor Wayland stehen und erteilte einen Befehl. Ibrahim näherte sich. Aus seinem mitleidigen Gesichtsausdruck konnte Wayland schließen, dass der Emir keine Gnade zeigen würde. Ibrahim nahm Wayland den Falken ab, der dem Emir mit der anderen Hand die Taube entgegnen hielt. Suleiman schleuderte sie zu Boden.

Wayland hob die Augen. «Lasst mich Syth ein letztes Mal sehen.»

Drogos Stimme drang aus der Dunkelheit. «Sie haben sie ins Lager zurückgebracht.»

«Ich sorge für sie», sagte Vallon. «Ich verspreche, dass ihr kein Leid geschehen wird.»

Der Emir hob seinen Zeremonialstab. Wayland starrte zu den Zwillingsgipfeln hinüber. Die Fackeln fauchten im Wind.

Da bückte sich ganz unvermittelt der Unterfalkner und griff nach der Taube. Anschließend reckte er die Hand in die Höhe. Der Hengst des Emirs blähte die Nüstern und tänzelte seitwärts.

Hastig nahm Ibrahim die Taube und rief nach Licht. Zwei Fackelträger eilten zu ihm. Er hielt die Taube in die Helligkeit der Flammen, und Wayland erhaschte einen Blick auf etwas Schimmerndes an ihrem Bein. Suleiman sah es ebenfalls und wedelte mit der Hand. Faruq stieg ab und hastete hinzu, bevor Ibrahim den Gegenstand von dem Bein der Taube schnitt und ihn dem Hofmeister reichte. Faruq hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger.

Es war ein winziger Zylinder. Wayland hatte keine Ahnung, was er zu bedeuten hatte.

«Eine Brieftaube», hörte er Hero sagen.

«Ich weiß», sagte Vallon. «Die Mauren haben sie in Spanien eingesetzt. Wayland, rühr dich nicht vom Fleck und sag keinen Ton.»

Niemand beachtete ihn. Alle beugten sich in den Fackelkreis und verfolgten aufmerksam, was Faruq tat. Er brach eine Kappe von dem Zylinder ab und zog den Inhalt heraus. Dann verlangte er, dass die Fackeln noch dichter um ihn herumgehalten wurden, und entrollte ein winziges Stück Tuch. Aus der Art, wie sich seine Lippen bewegten, konnte man schließen, dass etwas darauf geschrieben stand. Dann atmete Faruq heftig ein, sammelte sich mit sichtlicher Mühe und trat neben das Pferd des Emirs. Suleiman beugte sich so weit herunter, dass Faruq ihm etwas ins Ohr flüstern konnte. Was er sagte, brachte den Emir dazu, sich jäh wiederaufzurichten. Sein Blick wanderte durch die Dunkelheit. Dann sah er Wayland an. Er drückte seinem Pferd die Schenkel in die Flanken, ritt auf ihn zu und zerzauste Wayland das Haar. Anschließend warf er den Kopf zurück und lachte.

Die Seldschuken waren ebenso fassungslos wie Wayland. Schulterzuckend und mit ausgebreiteten Händen demonstrierten sie sich gegenseitig ihre Ratlosigkeit.

«Was ist denn jetzt passiert?», fragte Drogo.

«Ein Wunder, wenn du’s genau wissen willst», sagte Vallon.

Suleiman zog sich den Köcher von der Schulter und verteilte den Inhalt an seine Männer. Bei jedem Pfeil, den er überreichte, deutete er in eine andere Richtung. Einer nach dem anderen galoppierten die Seldschuken strahlenförmig in die Nacht hinaus, als würde jeder einem anderen Strahl des Kompasssterns folgen. Als der Letzte losgeritten war, grinste der Emir Wayland an, schüttelte in ungläubigem Staunen den Kopf und ließ seinen Hengst wenden. Die übrigen Reiter bildeten eine Eskorte um ihn, und dann sprengten sie so schnell davon, dass ihre Pferde mit den Hufen kleine Steinchen emporschleuderten.

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