XLII

Sie fuhren weiter, und auf dem nächsten Abschnitt strömte der Fluss so breit und träge dahin, dass sie das Gefühl hatten, die Schiffe lägen reglos auf dem Wasser und das Land zöge an ihnen vorbei. Zwei Tage nach der Begegnung mit den Nomaden deutete Kolzak auf einen Schwarm Geier, der über einer Klippe am Ostufer kreiste. Igor drehte sich um und gab die Warnung weiter.

«Dort oben wohnt eine russische Bauernfamilie», erklärte Hero Vallon. «Die Lotsen glauben, dass den Leuten etwas zugestoßen ist.»

«Sag ihnen, sie sollen an Land gehen.»

Die Lotsen legten an, und die Soldaten aus Rus stiegen äußerst beklommen aus, um in ihren mit Hanfschnur umwickelten Bastsandalen zaudernd einen Sandweg entlangzugehen. Eine steife Brise trug Aschegeruch und Aasgestank zu ihnen. Das Haus war bis auf die Lehmmauern niedergebrannt worden. Als sie näher kamen, machte sich ein Steppenwolf davon, und drei Geier hüpften von einer halb aufgefressenen Kuh weg, bevor sie abhoben.

Eine fünfköpfige Familie hatte hier gewohnt, erzählten die Lotsen. Wayland entdeckte das, was von dem Familienvater noch übrig war, in einem Buchweizen-Stoppelfeld. Von seiner Frau und den drei Kindern fand sich keine Spur.

«Die Kumanen sind noch nicht lange weg», sagte er. «Höchstens vier Tage.»

Vallon blickte über die Steppe, die sich leicht hügelig bis zum Horizont erstreckte. Es war keine andere menschliche Behausung zu sehen, nicht einmal ein Baum, an dem man Entfernungen hätte abschätzen können. Der heftige Wind ließ das Gras schwanken.

«Warum haben sie sich in einer so gefährlichen Gegend niedergelassen?»

«Die Erde hier besteht aus ertragreichem Lehmboden. Die Kumanen waren schon seit ein paar Jahren nicht mehr so weit im Norden. Die Bauersleute haben ihr Glück versucht und verloren.»

Die menschenleere Weite jagte den Russen Angst ein. Sie rannten beinahe zu den Schiffen zurück und ließen den Bauern unbeerdigt liegen. Vallon und Wayland blieben noch etwas länger, lauschten auf den Wind im Gras und sahen den Wolkenschatten zu, die über die Steppe segelten. Sie stellten sich vor, wie der Bauer von einer alltäglichen Verrichtung aufgesehen und bewaffnete Reiter am Horizont entdeckt hatte.

Vallon zog die Schultern hoch. «Gehen wir.»

Der Dnjepr floss noch eine ganze Weile ruhig dahin, bis das linke Ufer steiler zu werden begann und die Strömung schneller wurde, weil sich das Flussbett zwischen Felsklippen verengte. Seit Kiew waren sie in südöstlicher Richtung gefahren. Nun verlief der Dnjepr direkt nach Süden, und die Reisenden sahen ihn durch eine Spalte in einem Felsplateau etwa vier Meilen flussab verschwinden.

«Pohori», rief Igor und deutete auf die Lücke. «Stromschnellen.»

Die Sonne hatte ihren höchsten Stand noch nicht erreicht, als die Lotsen die Tagesetappe an einer grasbestandenen Insel vor der Einmündung eines Nebenflusses beendeten. Weil die Tage inzwischen wesentlich kürzer als die Nächte waren, würden sie zwei Tage brauchen, um alle neun Stromschnellen hinter sich zu bringen. Wenn sie am kommenden Morgen beim ersten Tageslicht aufbrachen, konnten sie bis Sonnenuntergang die ersten fünf bewältigen.

Vallons Leute brachten die Pferde von Bord und legten ihnen an den Vorderläufen Beinfesseln an, bevor die Tiere grasen durften. Wayland und Syth brachen auf, um Futter für die Falken zu jagen. Vallon und Hero schlenderten an den Rand der Insel und sahen über den sandfarbenen Fluss, der sich auf die Lücke in den Granitwänden zuschlängelte. Der Himmel schwebte wie ein blauglasierter Teller über ihnen, auf den ein paar Schönwetterwolken getupft worden waren.

Hero warf Vallon einen Seitenblick zu. «Drogo wird bald den nächsten Versuch unternehmen, unsere Pläne zu durchkreuzen. Je näher wir ans Ziel kommen, desto erbitterter wird er gegen uns arbeiten.»

Vallon nickte. «Ich setze ihn und Fulk aus, sobald wir die Stromschnellen und das Gebiet der Kumanen hinter uns haben.»

«Sie werden in der Steppe nicht lange überleben.»

«Ich bin nicht so erbarmungslos, sie zum Tode zu verurteilen. Wir geben ihnen das Ersatzboot und genügend Vorräte, dass sie es bis zum Schwarzen Meer schaffen können. Wenn sie es erreichen …» Er unterbrach sich. «Da kommen Wayland und Syth.»

Sie kamen von der anderen Seite der Insel und liefen eilig auf sie zu. Vallon lächelte. «Kein Glück?»

«Reiter auf dem Westufer», sagte Wayland. Er nahm Vallon am Ellbogen und drehte ihn um. «Sie halten sich in Deckung, aber sie beobachten uns. Am besten tun wir so, als hätten wir sie nicht bemerkt.»

«Sind es Viehhirten?»

«Nein, sie haben Schilde und sowohl Seitenwaffen als auch Bögen. Ich habe vier gezählt, aber vielleicht sind es noch mehr. Wir müssen von der Insel weg. Das Wasser auf der anderen Seite ist seicht genug, dass wir durchreiten können.»

Vallon richtete den Blick auf ihr Lager. «Wir sollten uns genau überlegen, was wir machen. Die Russen könnten uns im Stich lassen, wenn sie mitbekommen, dass Kumanen in der Gegend sind.»

Auf dem Weg zum Lager stimmten sie einen Handlungsplan ab. Als sie ankamen, saß Richard allein am Feuer, und sie erzählten ihm von den Reitern. Sonst erfuhr niemand mehr davon. Hero ging zum Lager der Russen hinüber und lud die Lotsen zu Vallon ein, um den Weg durch die Schlucht zu besprechen. Vallon begrüßte sie gut aufgelegt, und Richard reichte ihnen Becher mit Honigwein.

«Also», sagte Hero. «Erzählt uns mehr über die Stromschnellen.»

Igor betete seine Antwort wie eine Litanei herunter. «Die erste heißt Kaidac. Sie hat vier Stufen.» Er ahmte eine Ruderbewegung nach. «Man hält sich auf der linken Seite. Die nächste ist Die Heftige, bei den Warägern heißt sie Die Schlaflose. Kurz danach kommt man an den gefährlichen Wogen-Fall mit drei Stufen und vielen gefährlichen Felsblöcken weiter flussab. Dann folgt Die Gellende. Wenn man sie durchfährt, bebt man vor Angst, so schrecklich tost einem schon Die Unersättliche entgegen. Dort stürzt der Fluss mit der Geschwindigkeit eines durchgehenden Pferdes über zwölf Felsstufen hinab. Aber es bleibt keine Zeit, um zur Besinnung zu kommen. Man kann nur beten und auf Gott vertrauen. Tausende Seelen und all ihre Schätze liegen auf dem Grund der tiefen Sturzbecken. Wenn man es durch Die Unersättliche geschafft hat und an den gefährlichen Felsen danach vorbeigekommen ist, beschreibt der Fluss an einer Insel vorbei eine Kehre Richtung Westen. Dort darf man keinesfalls unaufmerksam werden. Und das Beten darf man auch nicht einstellen. Denn nun folgt Der Wellenkessel, mit schäumender Gischt, die viele Gefahren unsichtbar macht.» Igor wiegte sich mit geschlossenen Augen von einer Seite zur anderen. «Kaum hat man Gott gedankt, dass er einen verschont hat, ist man auch schon im Wachrüttler. Danach wendet sich der Fluss wieder nach Süden und fließt Die Siedende hinunter, die eine geringere Gefahr darstellt. Nun erwartet einen nur noch Die Schlange, die sich sechs Stufen hinabwindet, bevor sie sich in den Wolfsrachen stürzt.»

Igor schlug die Augen auf und leerte mit einem Zug seinen Weinbecher. Hero sah Vallon an und zog ein Gesicht. «Er sagt, wir haben eine stürmische Fahrt vor uns.»

«Frag ihn, wo sich die Kumanen auf die Lauer legen.»

«Unterhalb der Schlange, beim Wolfsrachen», antwortete Igor. «Dort ist der Fluss keinen Pfeilschuss mehr breit, und die berittenen Bogenschützen können ihre Pfeile ganz leicht von oben in die Schiffe richten. Wenn man diesen Angriff überlebt, bekommt man es an der Furt zwischen dem Ende der Schlucht und der Sankt-Gregors-Insel noch mit ihrer Hauptstreitkraft zu tun.»

Hero nippte an seinem Honigwein. «Habt ihr beide die Stromschnellen jemals im Dunkeln durchfahren?»

Igor schnaubte bloß. «Natürlich nicht.»

«Ist es möglich?»

«Nur ein Narr würde das versuchen.»

Hero lächelte. «Fyodor hat uns aber erzählt, du könntest die Stromschnellen im Schlaf hinunterfahren.»

Igor wandte den Blick ab. «Ja, im Sommer könnte ich den genauen Kurs mit geschlossenen Augen finden. Aber bei so niedrigem Wasserstand ist alles anders. Ein paar der Fahrrinnen sind trockengefallen, und andere sind nicht breiter als Eure Boote. Man kann keinen Faden im Dunkeln einfädeln.» Er äugte in seinen Becher. «Warum fragt Ihr danach?»

Hero schenkte ihnen Wein nach. «Weil die Kumanen wissen, dass wir hier sind.»

Die Lotsen erstarrten mit dem Becher auf halbem Weg zum Mund.

Hero trat einen Schritt auf sie zu. «Wayland hat sie auf dem Westufer entdeckt. Inzwischen reiten bestimmt ein paar von ihnen nach Süden, um einen Hinterhalt vorzubereiten. Wir müssen so bald wie möglich los und alle neun Stromschnellen heute Nacht bewältigen. Wir haben noch ein paar Stunden Tageslicht, und danach scheint der Mond.» Er sah Kolzak zu den Russen hinüberschauen. «Sagt ihnen nichts, bevor wir die zweite Stromschnelle hinter uns haben. Sagt, wir fahren noch ein Stück flussab, damit wir morgen besonders früh loskommen.»

Igor sagte etwas zu Kolzak, und sie begannen auf Russisch zu streiten. Sie steigerten sich in solche Erregung hinein, dass sich die Soldaten nach ihnen umdrehten. Igor wollte weglaufen, aber Kolzak hielt ihn zurück. Er verschränkte die Arme vor der Brust, sein Faltengesicht war wütend verzogen. «Igor weigert sich», sagte Kolzak. «Er riskiert lieber Fyodors Bestrafung, als sich dem sicheren Tod auszuliefern.»

Hero beugte sich vor. «Hört genau zu. Wir haben den Wikingern nichts von den Kumanen erzählt. Wenn wir es tun, glaubt ihr, dass sie euch dann nach Kiew flüchten lassen, während sie sich den Reiternomaden allein stellen müssen? Außerdem ist da noch das Silber, das wir für eure Dienste bezahlt haben. Vallon ist kein Mann, der über einen Vertragsbruch hinwegsieht.»

Igor schluchzte in seine Hände hinein. Kolzak sprach beruhigend auf ihn ein. Dann breitete er ergeben die Arme aus. «Gott verfluche Fyodor Antonovich. Seine Seele soll von einem Pestgeschwür zerfressen werden.»

Eine Handbreit stand die Sonne noch über dem Horizont, als der Schiffskonvoi auf die Schlucht in dem Felsmassiv zuhielt. Die beiden Galeeren fuhren an der Spitze, gefolgt von Vallons Leuten, die das Ersatzboot im Schlepptau hatten, und zuletzt kamen Drogo und die Isländer. Sie fuhren in die Schlucht, und die Sonne verschwand hinter der westlichen Felswand. Die Klippen zu beiden Seiten stiegen dreihundert Fuß an, die Wände waren von senkrechten Spalten durchzogen, aus denen Bäume wucherten. Der Fluss beschrieb einen Bogen nach links, und das Murmeln schnell fließenden Wassers wurde hörbar. Wulfstan stand im Bug von Vallons Boot. «Haltet euch auf derselben Linie wie die Galeeren. Ein bisschen mehr rechts. Nicht hinschauen. Das ist meine Aufgabe. Weiter geht’s.»

Heros Magen hob sich, als sich der Bug des Bootes senkte. Schaukelnd glitt das Gefährt durch unruhige Wellen abwärts und schob sich dann in ruhiges Wasser.

Richard grinste. «So schlimm war’s ja gar nicht.»

«Das war die harmlose Stromschnelle», sagte Hero. Er sah über die Schulter zu der tief eingeschnittenen Felsenschlucht, durch die der Fluss gurgelte. Sie verlief meilenweit Richtung Süden. Die linken Uferklippen schnitten das Sonnenlicht ab, sodass die Klippen auf der rechten Uferseite in tiefen Schatten lagen.

Drei Meilen weiter kamen sie zu der Stromschnelle, die auch Die Schlaflose genannt wurde. Oberhalb von ihr schien das Wasser wie mit einer Haut überzogen, es schien eine dichtere Substanz zu haben, wie ein angespannter Muskel. Das Tosen wurde lauter. Wulfstan stand im Boot und hielt sich an einer der Spannwanten des Mastes fest.

«Setzt euch bei dieser Stromschnelle in Fahrtrichtung. Benutzt eure Riemen als Paddel.»

Sie beobachteten, wie die Galeeren die schräge Wasserrinne hinunterfuhren und unten in eine hohe Rücklaufwelle eintauchten. Das Boot folgte ihnen, wurde von der Strömung mitgezogen und schoss abwärts, um dann mit hoch aufspritzender Gischt auf die stehende Welle zu treffen. Dann waren sie wieder in ruhigerem Wasser, bis sie schon eine halbe Meile weiter die nächste Stromschnelle erwartete. Doch irgendetwas stimmte nicht. Die Lotsen winkten sie zu einer Felsbank, die beinahe quer durch die Schlucht verlief und den Fluss auf einer Viertelmeile zu einem brodelnden Wasserfall am felsigen rechten Ufer verengte.

Vallons Boot kam längsseits der russischen Galeeren. Kolzak rief etwas und deutete auf einen Wasserfächer, der über die Felsbank hinter seinem Schiff schwappte.

Hero versuchte angestrengt zu verstehen, was Kolzak sagen wollte. «Hier ist normalerweise die Fahrrinne, aber sie ist verschwunden. Der Flusspegel ist fünf Fuß niedriger als im Sommer.»

«Und was machen sie jetzt?»

«Sie ziehen die Schiffe hinüber. Hebeln sie mit Stangen auf die Felsbank, und dann sollen sich ein paar von uns auf der anderen Seite ins Wasser stellen und sie an Seilen weiterziehen, während die Übrigen von hinten schieben.»

Vallon sprang auf die Felsbank. Um sie zu überwinden, würden sie die Schiffe hundert Schritt weit ein natürliches Wehr hinunterziehen müssen, das nun durch den niedrigen Wasserstand trockenlag. Die Nachmittagssonne war schon hinter den Rand der Schlucht gesunken. «Es würde die ganze Nacht dauern, die Galeeren dort hinunterzuziehen.»

«Es gibt nur eine Möglichkeit», sagte Drogo. «Unsere Boote sind leicht genug, um sie vorm Dunkelwerden über die Felsbank zu bringen. Nimm die Lotsen mit und lass alle anderen zurück.»

«Wir sollen die Sklaven aufgeben?», sagte Richard.

«Sie haben keine Bedeutung für uns.»

«Genauso wenig wie du.»

«Vallon, du weißt, dass es unsere einzige Chance ist.»

Bevor Vallon eine Entscheidung treffen konnte, wurde nach ihm gerufen, und er sah Wayland, der ihn zum Rand des Wasserfalls winkte. Das Wasser stürzte wie in einem riesenhaften Mühlgraben abwärts in ein Becken und raste gischtsprühend an einen Felsvorsprung, der vierzig Schritt weiter in den Fluss ragte. Wie eine stehende Welle lief das Wasser an die Wand der Schlucht, stieg an ihr empor, breitete sich aus, und dann stürzten die Wassermassen wieder zurück, bevor sie in einer neuen Woge zum nächsten Angriff zusammenliefen. Schwarze Strudellöcher und Felsspitzen wie riesenhafte Reißzähne schienen zwischen den Wellen auf. Der Gedanke, in einen dieser finsteren Wirbel hinabgezogen zu werden, trieb Vallon den kalten Schweiß auf die Stirn.

Er zog Wayland am Ärmel näher zu sich. «Das wäre Selbstmord.»

«Wulfstan hat eine Idee.»

Als Vallon sie gehört hatte, starrte er in die reißenden Fluten, dann starrte er Wulfstan an. Der Wikinger grinste. «Da geht Euch der Arsch auf Grundeis, was?»

«Ein Pfund Silber, wenn es funktioniert.»

Nachdem sie die Pferde und die Falken ausgeladen hatten, ruderten die beiden Bootsmannschaften mit dem Ersatzboot im Schlepptau von der Felsbank weg und steuerten das Ufer oberhalb des Katarakts an. Wayland und Syth folgten ihnen in dem Kanu. Als die Ruderer in Ufernähe waren, ließen sie sich flussabwärts treiben, bis sie den Sog der Strömung spürten, dann sprangen sie aus den Booten und kämpften sich über die schlüpfrigen Felsen an Land.

Anschließend verknoteten sie Taue aus Walrosshaut an Bug und Heck des Ersatzbootes. Die Männer, die am Hecktau standen, umwickelten sich die Hände mit Tuchfetzen und suchten zwischen den Felsen sicheren Stand. Wulfstan nahm das Bugtau und arbeitete sich zurück zu Wayland und Syth, die in dem Kanu warteten. Syth nahm das Ende des Taus, und Wayland paddelte vom Ufer weg. Das Tau rollte sich in einer Kurve hinter ihnen auf dem Wasser aus und drohte sie in Richtung des Wasserfalls zu ziehen. Wayland brachte sie wieder in ruhigeres Wasser und von dort aus zu der Felsbank. Dort übernahmen die Lotsen das Tau und ließen die Soldaten und Sklaven auf der Felsbank im rechten Winkel zu der Stromschnelle Aufstellung nehmen.

Der Himmel hatte sich mit zitronengelben und burgunderfarbenen Streifen bezogen. Wayland gab den Männern am Ufer mit der erhobenen Hand ein Zeichen. Das Boot begann sich zu bewegen, Wasser schäumte gegen sein Heck, als die Gruppe am Ufer seine Fahrt durch das Gefälle abbremste. Es glitt in das Becken. Eine Welle schlug über seinem Heck zusammen.

«Ziehen!»

Die Soldaten und Sklaven hängten sich an das Tau, zerrten das Boot herum und zogen es in das ruhige Wasser unterhalb der Felsbank.

«Und jetzt versuchen wir es mit einer von den Galeeren», sagte Wayland.

Acht Russen ruderten die Galeere zum Ufer. Alle wollten aussteigen, doch die Wikinger schoben vier von ihnen zurück. «Wir können nicht alle in den Booten mitnehmen!», rief Wulfstan. Sie sicherten die Galeere wie zuvor das Boot, und Wulfstan brachte das Bugtau zu Wayland. «Die Galeere ist zehnmal so schwer wie das Boot», sagte er. «Wir können sie nicht halten, wenn die Strömung sie erfasst hat. Also müsst ihr anfangen zu ziehen, bevor sie in das Becken eintaucht, sonst wird sie an der Wand der Schlucht zerschmettert.»

Wayland und Syth paddelten zurück zu der Felsbank. Die Dämmerung kam, und die Gesichter der Kindersklaven schimmerten im Halbdunkel wie weiße Blüten. Von der Felsbank aus waren die Leute am Ufer nur noch als vage Schatten zu erkennen. Wayland machte das Zeichen, und Wulfstan gab die Galeere frei. Sie nahm Fahrt auf, das Tau zischte durch die Hände der Männer. «Loslassen!», brüllte Wulfstan.

Die Galeere machte einen Satz vorwärts und tauchte mit dem Bug tief ins Wasser, bevor sie sich wieder aufrichtete und auf die Felswand der Schlucht zuraste. Die Russen auf dem Schiff klammerten sich an die Ruderbänke und brüllten vor Entsetzen. Erst als die Galeere nur noch zehn Schritt von der Schluchtwand entfernt war, gelang es den Männern auf der Felsbank, ihren Bug herumzuziehen. Das Schiff neigte sich, kämpfte gegen die Strömung, dann zogen die Treidler es langsam aus dem Hexenkessel. Einer der Russen am Ufer schrie vor Schmerz und hielt sich die Hand, die von dem Tau bis auf den Knochen aufgeschnitten worden war.

Beide Gruppen hatten nun ein Gefühl für den Ablauf gewonnen, und die zweite Galeere hinunterzulassen hätte einfacher sein sollen. Alles ging gut, bis Wulfstan den Befehl erteilte, das Tau loszulassen. Einer der Russen aber hielt es einen Moment zu lang fest, und der Satz, mit dem die Galeere in die Strömung tauchte, riss ihn ins Wasser. Hätte er sich an dem Tau festgehalten, wäre er vielleicht mit dem Leben davongekommen. Stattdessen aber ließ er los und strampelte wild aufs Ufer zu. Er war nur noch eine Armeslänge davon entfernt, als ihn die Strömung erfasste und an dem Schiff vorbei den Wasserfall hinunterzog. Die Russen an Bord konnten nicht sehen, wo er war, und selbst wenn, hätten sie ihn nicht retten können. Um sich selbst kreisend und verzweifelnd um sich schlagend wurde er auf den Felsvorsprung zugetrieben, dann geriet er in einen der Strudel und verschwand. Alle starrten auf das Wasser in der Erwartung, ihn wieder auftauchen zu sehen. Aber er blieb verschwunden. Der Fluss hatte ihn mit Haut und Haaren verschluckt.

Doch es war keine Zeit, über diesen Verlust zu jammern. Es war schon beinahe dunkel, als Wayland und Syth wieder lospaddelten. Vallon drehte sich zu Wulfstan um. «Wer im letzten Boot sitzt, hat niemanden, der den Schwung abbremst.»

Wulfstans Zähne schimmerten auf. «Meine Wikinger fahren als letzte, wenn sie dafür noch ein Pfund Silber bekommen.»

«Abgemacht.»

Sie waren zu sechst in Vallons Boot, einschließlich dreier Russen. Vallon klammerte sich mit beiden Händen an einer Ruderbank fest, und schon waren sie auf dem Wasser, das zischend am Heck vorbeirauschte. Das Boot begann zu tanzen, und das Tau vibrierte unter der Belastung. Dann schien sein Magen oben bleiben zu wollen, während sie den Wassertrichter hinunterjagten. Die Wikinger hatten das Tau zu früh losgelassen, und das Boot raste durch das brodelnde Wasser auf die hochsteigende Welle an der Wand der Schlucht zu. Nur das Glück rettete sie. Gerade als Vallon dachte, die Woge würde sie kentern lassen, kippte die Welle um und trieb sie zurück. Er spürte, wie das Boot an dem Bugtau herumgezogen wurde. Es krängte und Wasser lief hinein. Dann richtete sich das Boot wieder auf, und sie waren auf der anderen Seite der Felsbank in ruhigem Wasser.

Wayland half ihm beim Aussteigen. «Alles in Ordnung?»

«Bestens», sagte er und wischte sich mit der Hand übers Gesicht. «Allerbestens.»

Er erinnerte sich später kaum daran, wie die Wikinger den Wasserfall hinuntergekommen waren, nur daran, dass sie gesungen hatten, als sie die schäumenden Wogen hinabrasten, und dass Wulfstan ganz gelassen neben ihn auf die Felsbank getreten war und gesagt hatte: «Ich würde die zwei Pfund Silber gleich jetzt nehmen, wenn es nicht zu viele Umstände macht.»

Zwischen den Stromschnellen lag der Strom so ruhig da wie Moiréseide. Sterne blinkten am Himmel, und ein heller Schimmer lag über den Felskuppen im Osten, wo sich bald der Mond zeigen würde.

Richard legte sich in die Riemen. «Ich bin froh, dass Ihr Drogos grausamen Vorschlag abgelehnt habt.»

«Ich hätte die Sklaven zurückgelassen, wenn Wulfstan nicht mit seinem Plan gekommen wäre. Die Kumanen hätten sie nicht getötet. Sie hätten sie einfach zu ihren Sklaven gemacht. Und besser einen Nomaden zum Herrn als die Perversen in Konstantinopel.»

Richard warf den bleichen Gestalten über die Schulter einen Blick zu. «So eine empfindliche Fracht. Es macht mich ganz traurig, wenn ich daran denke, was ihnen bevorsteht.»

Sie ruderten durch die Nacht, gurgelnd umströmte sie der Fluss. Dann tauchte der Mond auf, beinahe an seinem höchsten Stand. Sein kupfernes Licht hob die Umrisse der Schlucht hervor und tauchte Felsnasen und Spalten, die tief genug waren für eine ganze Armee lauernder Feinde, in schwarze Schatten.

Hero behielt die Klippen im Blick. «Glaubst du, dass uns die Kumanen verfolgen?»

«Nein», sagte Wayland. «Sie können nicht am oberen Rand der Klippen entlang, weil die Abbruchkante zu stark zerklüftet ist. Sie können uns nur auf der Spur bleiben, wenn sie uns von einzelnen Klippenvorsprüngen aus beobachten. Sie wissen nicht, dass wir sie entdeckt haben, also sind sie vermutlich nicht besonders vorsichtig. Aber ich habe die ganze Zeit Ausschau gehalten und keinen einzigen Reiter gesehen.»

Vallon nickte. «Wenn es nur vier waren, müssen mindestens zwei nach Süden geritten sein, um eine Kampftruppe zu holen. Die beiden, die zurückgeblieben sind, hätten den anderen wahrscheinlich Nachricht von unserer Abfahrt geben müssen.»

Wulfstan wippte auf die Zehenspitzen und musterte den Verlauf des Flusses vor ihnen. «Wir kommen zur nächsten Stromschnelle.»

Alle wandten die Köpfe.

«Da ist sie», sagte Wulfstan.

Vallon machte in der Dunkelheit einen unregelmäßigen Streifen aus. Der Fluss saugte und gluckste. Schnell glitt das Boot durch riffeliges Wasser. Das ferne Tosen vertiefte sich zu einem tiefen Grollen, das von den Wänden der Schlucht zurückgeworfen wurde.

«Die Gellende», sagte Hero.

«Rückwärts rudern», befahl Wayland. «Wir warten, bis die beiden Galeeren durch sind.»

Die erste Galeere fuhr in die Stromschnelle. Ihr Heck hob sich wie der Bürzel einer tauchenden Ente, bevor sie gierend in die Gischt hinabfuhr. Sie kam sicher durch. Die zweite folgte, ebenfalls problemlos.

Wulfstan schniefte und spuckte aus. «Verflucht noch mal.»

Richard stieß ein hysterisches Lachen aus.

Dann fuhren auch sie in das schäumende Wasser, und eine brodelnde Flut erfasste sie. Kippelnd wurden sie durch weiß brechende Schaumkronen getrieben. Eine Welle klatschte Vallon ins Gesicht.

«Fels voraus!», brüllte Wulfstan.

«Wohin sollen wir steuern?»

«Links! Nein! Rechts!»

Ihre Anstrengungen waren lächerlich im Vergleich zur Gewalt der Strömung. Vallon sah die Wellen um den Felsblock strudeln. Sie würden auflaufen. Er wappnete sich für den Aufprall. Die Erschütterung warf ihn von der Ruderbank, aber das Boot hatte den Felsen nur gestreift. Dann lagen die Ausläufer der Stromschnelle hinter ihnen, und das Wasser wurde wieder ruhig.

Der Fluss verlangsamte sich, bis er nahezu stillstand. Der Mond hing über der Schlucht. Sie ruderten zwischen einer Inselkette hindurch auf ein Donnergrollen zu, und als sie die letzte Insel hinter sich hatten, sahen sie vor sich Gischt wie Nebel über dem Fluss hängen.

«Das ist die große», sagte Hero. «Die Unersättliche. Sie ist eine halbe Meile lang.»

«Wir verlieren den Anschluss, wenn wir warten, bis die Galeeren durch sind», rief Wulfstan. «Wir lassen der zweiten ein Stück Vorsprung, und dann fahren wir selbst los.»

Die Stromschnelle war so lang und steil, dass die erste Galeere schon abwärts außer Sicht war, als sie auf den Trichter zuglitten. Vallon sah, wie Syth ihre Hand unter Waylands Finger schob. Und Hero nahm eine Hand vom Ruder und legte sie auf Richards. Vallon hatte solche Gesten schon oft vor dem Beginn einer Schlacht gesehen, und er stieß seinen Kriegsruf aus.

«Seid stark! Was immer geschieht, wir werden zusammen sein. Und wenn nicht hier, dann in der anderen Welt.»

«Hier oder in der anderen Welt!», riefen alle. Dann ruderten sie in den Katarakt.

Das Boot kippte in starker Schräglage nach vorn. Weiße Gischtzähne schnappten nach ihnen. Sie wurden mit solch heftigen Stößen über die Kataraktstufen getrieben, dass es ihnen die Luft aus den Lungen presste. Ein Schlag nach dem anderen traf sie. Unglaublicherweise schaffte es Wulfstan, im Bug stehen zu bleiben, von wo aus er Anweisungen brüllte, die sie kaum hören konnten. Spritzwasser hüllte sie ein. Sie rauschten in eine Wassermulde zwischen zwei Felsstufen und wurde von einem Strudel erfasst, der das Boot auf der Stelle um sich selbst kreisen ließ. Das Ersatzboot, das sie im Schlepptau hatten, glitt an ihnen vorbei und begann, sie heckwärts nach vorn zu ziehen.

Wayland packte Vallon an der Schulter. «Das Ersatzboot wird uns rammen!»

Vallon sah es auf sie zuschlingern. Es war nicht genügend Platz, dass es vorbeikommen konnte. Wulfstan reagierte blitzschnell, zog ein Messer und durchtrennte das Schlepptau. Das Ersatzboot tanzte über die Wellenkämme und trug in seinem Laderaum eines der Pferde und das Kanu mit sich fort. Das Pferd in ihrem eigenen Boot schlug panisch gegen die Seitenplanken aus. Sie fuhren rückwärts. Mühsam kämpften sie sich mit dem Bug wieder herum, und während sie noch dabei waren, drehte sich das Ersatzboot aus der Hauptfahrrinne und raste zwischen Felsen abwärts. Mit einem scharfen Knacken prallte es gegen einen Felsen. Eine hoch aufschießende Welle traf es von der Seite, und als die Gischt verflog, war das Boot verschwunden. Sie konnten jetzt den Scheitelpunkt der Stromschnelle sehen. Ihr Boot war halb überflutet, das zweite Boot nur einige Schritt weit hinter ihnen. Weitere Stöße und noch mehr Desorientierung, ein Kreischen, als sie einen Felsen streiften, und dann schossen sie mit einem letzten Schlag aus der Stromschnelle wie einen Korken aus der Flasche.

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