XIII

Der Sonnenuntergang vergoldete die Spitzen der Schilfhalme, als Snorri den letzten aus der Flüchtlingsgruppe auf die Insel stakte. Die Hochstimmung war von Niedergeschlagenheit abgelöst worden. Es schien Vallon, als wären sie in einer Sackgasse und nicht in einem sicheren Versteck gelandet. All ihre Hoffnungen ruhten auf einem angeschlagenen Schiff und einem verkrüppelten Mann. Auch wenn das Schiff noch zu retten war, konnte sich Vallon nicht vorstellen, wie es aus dem Marschland manövriert werden sollte. Und falls es ihnen tatsächlich gelang, die Küste zu erreichen, mussten sie für das Schiff immer noch eine Mannschaft finden. Ganz gleich, worüber Vallon nachdachte, er sah überall nur Probleme. Ihre Unterkunft bestand aus einem halbverrotteten Schuppen, es gab kein Holz zum Feuermachen und kein frisches Wasser bis auf das bisschen, das sie selbst mitgebracht hatten. Und ihr einziges Transportmittel, seit sie die Pferde und Maultiere hinter Snorris Hütte angebunden hatten, war der Stechkahn.

Während Raul und Richard die Tarnung wegzogen, prahlte Snorri mit den Besonderheiten des Schiffes.

Die Knarr war ein robustes Arbeitstier, maß von Steven zu Steven fünfzig Fuß und mehr als dreißig in der Breite. Der mittschiffs gelegene Laderaum fasste fünfzehn Tonnen Fracht, und zwei kleine Halbdecks an seinen Enden konnten bei schlechtem Wetter zum Kochen und Unterkriechen genutzt werden. Umgedreht über dem Laderaum war das etwa fünfzehn Fuß lange Beiboot befestigt. Dreizehn überlappende Planken bildeten die Seiten der Shearwater. Im obersten Plankengang waren acht Ruderlöcher – zwei an jeder Seite des Vorder- und Hinterdecks. Snorri zeigte Vallon das Seitenruder, das er aus der Halterung an der Steuerbordseite genommen hatte, und den Kiefernmast, der ausgebaut auf einem Gerüst lag. Die schwersten Beschädigungen befanden sich am Rumpf auf der Steuerbordseite, wo das Plankenholz auf eine Länge von etwa zwölf Fuß eingedrückt war. Um die Knarr in ihr Versteck zu rudern, hatte Snorri ihren Tiefgang verringert, indem er an der Mündung des Wasserlaufs Tonnen von Steinballast ausgeladen hatte.

All das erklärte Snorri in einer Mischung aus verstümmeltem Englisch und verunstaltetem Französisch.

«Wo hast du dein Französisch gelernt?», fragte Vallon.

Snorri rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. «Auf dem Markt von Norwich. Normannen sind meine besten Kunden.»

Vallon und Raul wechselten einen Blick.

Als es dunkel wurde, schliefen Richard und Wayland bald ein. Vallon aber ging noch einmal prüfend über das Schiff. Die Shearwater war solider, als er zuerst gedacht hatte.

Snorri stand katzbuckelnd vor ihm. «Was denkt Ihr, Hauptmann?»

«Wo bekommst du das Holz und das andere Material?»

«Norwich, Hauptmann. Gibt nichts Nähergelegenes für das, was wir brauchen.»

«Wie lange dauert es, bis sie seetüchtig ist?»

«Drei Wochen, wennse schön und tadellos sein soll.»

«Du hast fünf Tage.»

Vallon wartete Snorris Antwort nicht ab. Er ging die Strecke zwischen dem Schiff und dem Fluss ab. Neunzig Schritt. Dann schaute er auf den verschlammten Wasserlauf zurück.

«Wir brauchen einen Monat, um sie auszugraben.»

«Hab ich auch schon drüber nachgegrübelt. Ich kenn ein paar kräftige Kerle, die gern schuften, wennse ordentlich bezahlt werden.»

«Können sie den Mund halten?»

«Oh, ganz bestimmt, Hauptmann. Die Leute aus den Marschen sin so verschlossen wie Austern.»

«Wir brauchen auch ein paar Boote, um uns bewegen zu können. Und ich will die Pferde hier haben.»

«Überlasst das nur Snorri, Hauptmann.» Er entblößte seine grässlichen Zähne. «Übers Entgelt un andre Einzelheiten ham wir noch nich gesprochen.»

Vallon musterte erneut das Schiff. «Überschlagen wir die Reparaturkosten.»

Als sie zu den anderen zurückkamen, hing ein praller Frühlingsmond über den Marschen. Gänse zogen in langen Ketten vor seinem Angesicht vorbei und stießen Schreie aus, die an das Kläffen von Jagdhunden erinnerten. Snorri drückte sich erwartungsvoll ums Lagerfeuer.

«Also, meine Herren, s’wär vielleicht Zeit, dem alten Snorri zu erklärn, was ihr vorhabt.»

«Setz dich», sagte Vallon.

Mit einem verhaltenen Grinsen ließ sich Snorri beim Feuer nieder.

«Die Normannen machen Jagd auf uns», sagte Vallon.

«Wusst ich beim ersten Blick auf Wayland, dass ihr zwielichtige Gestalten seid. Ich kann die Normannen genauso wenig ausstehn wie ihr, un es geht mir hinten vorbei, vor was ihr abhaut, aber eins will ich schon wissen, un zwar, wohin ihr wollt.»

«Island. Es ist eine Handelsreise. Wir sind auf Falken aus.»

Snorris Grinsen veränderte sich nicht. Die anderen hörten auf zu essen und wechselten Blicke. Dann sprang Snorri auf. «Ich geh nich nach Island.»

Vallon klopfte auf den Kasten mit dem Silber. «Wir bezahlen dich gut.» Er nahm eine Handvoll Münzen aus dem Kasten und ließ sie langsam zurückrieseln. «Ein Honorar oder einen Anteil am Gewinn. Du hast die Wahl.»

Snorri fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. «Was für Waren verkauft ihr?»

«Alles, was der Markt verlangt. Darüber weißt du besser Bescheid als ich.»

«Mit Bauholz liegt man da oben nie falsch. Die ham keine Wälder in Island.»

«Und abgesehen von Falken, was gibt es dort noch für Tauschwaren?»

«Wollwaren un Daunen, Walfleisch un Dorsch. Un sie holen Walrosszahn un weiße Bärenfelle aus den Siedlungen in Grönland.»

«Snorri, für mich klingt das so, als könntest du mit dieser Reise ein für alle Mal aussorgen.»

Snorri schnalzte mit der Zunge. «Was is mein Anteil?»

«Ein Fünftel.»

«Ein Fünftel», wiederholte Snorri. «Ein Fünftel.» Er ließ sich in die Hocke nieder. «Wo holt ihr die Waren?»

Vallon ließ sich von Raul ein Stück rauchgeschwärztes Hammelbein geben. «Wir richten uns nach dem jeweiligen Ort. In Island tauschen wir Bauholz gegen Walrosszahn, und das verkaufen wir dann wieder in Russland.»

«Russland!»

Vallon kaute auf dem zähen Fleisch herum. «Und noch weiter. Die Falken sind für Anatolien bestimmt.»

«Wo ist das?»

«Östlich von Konstantinopel.»

Snorri fuhr entsetzt zurück. «Östlich von Miklagard! Das is unmöglich.»

Vallon zuckte mit den Schultern. «Das ist ausschließlich unser Problem. Du bringst uns nach Island, und damit ist deine Aufgabe erledigt.»

Snorri sah ihn beunruhigt an. «Darüber muss ich schlafen», sagte er und stand auf.

Auch Vallon erhob sich und legte Snorri den Arm um die Schultern. «Ich brauche deine Antwort heute Abend. Morgen will ich, dass du nach Norwich gehst und das Material für die Reparatur kaufst. Du kannst doch jetzt einen kleinen Spaziergang machen und dir alles überlegen.»

Snorri verschwand in der Dunkelheit. Sie hörten, wie er anfing, Selbstgespräche zu führen.

«Ich dachte, wir segeln nach Norwegen», sagte Richard.

«Der Plan hat sich geändert. Es ist jetzt April. Die Handelsflotte aus Island wird Norwegen erst im Spätsommer erreichen. Und es ist nicht sicher, dass sie Gerfalken dabeihaben, ganz zu schweigen von weißen. Aber selbst wenn, müssten wir ein Vermögen für sie bezahlen. Wir haben den ganzen Sommer vor uns. Wir können in aller Ruhe nach Island segeln. Wayland kann die Falken aus dem Nest holen oder die schönsten Exemplare einfangen. Sie werden uns keinen Penny kosten.»

Wayland nickte.

«Und noch eins. Drogo weiß, was wir vorhaben. Unsere Vergehen sind schwer genug, um inzwischen dem König vorgetragen worden zu sein. England muss irgendwelche politischen Beziehungen mit Norwegen unterhalten. Ich will mir nicht die nächsten vier Monate Sorgen darüber machen, dass ich verhaftet werden könnte. In Island sind wir für die Normannen außer Reichweite.»

«Klingt sinnvoll», sagte Raul.

«Ich will mit Snorri nirgendwo hinsegeln», sagte Richard. «Er hat ein ekelhaftes Benehmen, mir wird schon beim bloßen Gedanken daran schlecht.»

«Sch», kam es von Wayland. «Da kommt er.»

Snorri baute sich vor Vallon auf. «Hauptmann, ich hab hin und her überlegt, und ich fahr nich nach Island. Sechs Jahre bin ich jetzt weg, un ich träume jeden Tag von zu Hause. Ich sag Euch, was ich mache. Ich bringe Euch für zwanzig Pfund zu den Orkney-Inseln. Das sin norwegische Inseln, Hauptmann, die liegen kurz vor der schottischen Nordküste. Da könnt Ihr Euch ein Schiff nach Island nehmen.»

«Wie viele Tage dauert die Überfahrt?»

«Hängt vom Wind ab. Wenigstens eine Woche und noch mal so lange, bis Ihr in Island seid.»

«Zwanzig Pfund für eine Woche Überfahrt? Du bekommst schon zwölf Pfund für die Reparatur. Ich bezahle dir noch fünf Pfund.»

«Nein, nein. Es ist mein Schiff, und ich lege das Fahrgeld fest.»

«Du findest aber keine anderen Passagiere für diesen alten Trümmerhaufen.»

«Genau, und Ihr findet kein anderes Schiff. Ihr könnt’s Euch gar nicht leisten zu verhandeln.»

«Ich verhandle nicht. Dein Schiff ist unsere einzige Möglichkeit, hier wegzukommen, und ich lasse nicht zu, dass du uns mit deiner Geldgier im Weg stehst.»

«Zieht ihm eins über den Schädel, und versenkt ihn im Moor», sagte Raul.

«Halt du dich zurück», schnauzte Snorri Raul an. «Ich hab nich gesagt, dass ich nich über den Preis mit mir reden lass. Was sagt Ihr zu fünfzehn Pfund?», wandte er sich wieder an Vallon.

Vallon schwieg.

«Zwölf?»

«Sieben, und ich gebe noch die Heuer für die Mannschaft dazu. Das ist mein letztes Wort.»

Snorri verzog das Gesicht. «Ihr verhandelt hart. Wie viele von euch sind Seeleute?»

Nur Raul hob die Hand.

«Ist das alles? In der Gegend hier gibt’s keine Männer mit Erfahrung auf dem offenen Meer.»

«Du bist der Schiffsmeister. Die Mannschaft zu finden ist deine Angelegenheit.»

«Kann sein, dass ich ein paar Männer in Humberside kriege. Aber bis dorthin müssen wir auch erst mal kommen.»

«Das schaffen wir schon. Wayland ist stark und sehr geschickt. Und für Richard und Hero finden wir auch eine Aufgabe.»

Snorri scharrte mit dem Fuß auf dem Boden. Dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. «Also, die Herren, morgen geht’s früh los, und ich geh jetzt erst mal schlafen.» Damit verschwand er in seiner Hütte.

«Es ist eine Belohnung auf uns ausgesetzt», sagte Richard. «Traut Ihr ihm?»

«Nein, aber ich glaube, er braucht noch eine Weile, bis er einen Plan ausgebrütet hat. Raul, du gehst morgen mit ihm zur Küste und behältst ihn im Auge. Du wechselst dich mit Wayland ab.»

Mit dem Abend war es kühl geworden. Ein schneidender Ostwind fuhr durchs Schilf. Raul legte noch ein Stück Treibholz aufs Feuer. Alle betrachteten gedankenversunken die im Wind zuckenden Flammen. Hero überlief ein Schauer, der nichts mit der Kälte zu tun hatte.

«Du hast ja Gänsehaut.»

«Ich habe an die Überfahrt gedacht. Wir werden tagelang kein Land sehen.»

Raul nagte an einem Knochen. «Es ist gar nicht so schlimm, wenn man das Kotzen erst mal hinter sich hat.»

Vallon stocherte mit einem Zweig im Feuer herum. Der Wind trug Funken davon. «Wo bist du gesegelt?»

«Auf einem baltischen Sklavenschiff.»

«Bist du auch einmal in Russland an Land gegangen?»

«Wir haben ein paarmal das Küstenland überfallen. Da wohnen lauter Heiden. Ziehen einem bei lebendigem Leib die Haut ab, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen.»

Richard setzte sich empört auf. «Heiden oder nicht, der Sklavenhandel ist ein unwürdiges Geschäft.»

Raul sah ihn unter halbgeschlossenen Lidern heraus an. «Kann sein, lohnt sich aber.» Er deutete mit dem Knochen auf Vallon. «Wo wir gerade davon sprechen, Ihr habt nicht gesagt, was für uns dabei herausspringt.»

«Wir müssen sparsam mit dem Geld umgehen, wenn wir noch ein anderes Schiff mieten und Handelswaren kaufen wollen.» Vallon sah, dass sich Rauls Miene verdüsterte. «Von jedem Gewinn, den wir machen, bekommen du und Wayland ein Zehntel.»

Raul verschluckte sich. «Ihr sagt also, ich und Wayland bekommen ein Zehntel.»

«Jeder von euch. Wenn ihr all die Risiken auf euch nehmt, verdient ihr auch einen ordentlichen Anteil am Gewinn.»

Raul sah Wayland überrascht an.

«Und warum hast du damit aufgehört?», fragte ihn der Falkner.

«Womit aufgehört?»

«Mit dem Sklavenhandel.»

Raul warf den Knochen ins Feuer. «Wir haben Schiffbruch erlitten. Deshalb.»

Snorri brach beim Hellwerden auf und verkündete, in drei Tagen sei er zurück. Vallon und Hero begannen Weidenruten und Binsen zu schneiden, um einen Unterschlupf zu bauen, während sich Wayland daranmachte, das Schilf an dem Wasserlauf abzumähen. Am späteren Vormittag ruderten vier Männer aus den Marschen auf die Insel zu, die zwei Boote mit Wasserfässern und Feuerholz im Schlepp hatten. Die Männer stiegen mit Schaufeln, Hippen und Hacken aus ihrem Boot. Sie grinsten scheu, vermieden es, irgendwem direkt in die Augen zu sehen, und wirkten wenig beeindruckt von der Knochenarbeit, die Vallon von ihnen verlangte.

Um die Mittagszeit nahm Wayland eines der übrigen Boote und machte sich auf den Weg, um Raul abzulösen. Er fand den Deutschen beim Wasserlauf, wo er im Dünengras saß und einen Messergriff schnitzte.

Wayland teilte mit ihm Brot und Käse. Raul schälte eine Zwiebel und aß sie, als wäre sie ein Apfel. Die ersten Schwalben waren zurückgekehrt und jagten übers Wasser. Eine Schar Kormorane zog Richtung Norden auf eine Wolkenbank zu. Es wehte ein frischer Ostwind, doch die Wolken schienen nicht näher zu kommen.

«Island», sagte Raul. «Ein langer Weg, um an ein paar Falken zu kommen.»

«An weiße, die nur Könige und Kaiser halten dürfen.»

«Dass es die überhaupt gibt, glaube ich erst, wenn ich einen sehe.»

Raul hob seine Armbrust und legte auf eine Robbe an, die sich im seichten Wasser sonnte. Wayland legte eine Hand auf die Waffe. Raul senkte die Armbrust. «Wenn du es bis nach Miklagard schaffst, was machst du dann mit deinem Anteil?»

Wayland zuckte mit den Schultern. Reichtum bedeutete ihm nichts. Seine Familie hatte im tiefsten Wald ebenso gut gelebt wie irgendein großer Herr auf seiner Burg. Alles, was er brauchte, konnte er kostenlos bekommen oder eintauschen.

«Wär keine schlechte Wahl, zu den Warägern zu gehen, wie Vallon.»

«Waräger?»

«Die kaiserliche Garde. Waren früher alles Wikinger, aber seit die Normannen eingefallen sind, haben auch viele Engländer bei ihnen angeheuert. Und zwar nicht nur einfache Leute. Da sind Lehnsmänner dabei und sogar ein oder zwei Grafen. Wenn du deine Zeit abgedient hast, gibt dir der Kaiser ein schönes Stück Land.»

«Willst du das machen?»

«Nein, das ist nichts für mich. Ich habe schon in genügend Kriegen gekämpft. Mein Plan steht fest. Ich eröffne ein Gasthaus, nehme mir eine Frau – vielleicht ein Sklavenmädchen aus Rus. Und ich kaufe meine Familie aus der Knechtschaft frei und versorge sie mit Land und ein paar Fischerbooten.»

«Wie groß ist denn deine Familie?»

«Vater ist bei dem Hochwasser umgekommen, das unseren Bauernhof zerstört hat. Mutter ist ein paar Monate später gestorben. Als ich von zu Hause weg bin, hatte ich drei jüngere Brüder und drei ältere Schwestern. Das war vor acht Jahren, also sind inzwischen vermutlich ein paar von ihnen gestorben. Aber einige leben bestimmt noch. Ich kann es kaum erwarten, ihre Gesichter zu sehen, wenn ich auftauche. Ich werde ein unglaubliches Fest geben.»

Wayland hatte Rauls Phantasien schon öfter gehört und ahnte, dass er sein Geld nur versaufen würde.

«Du hast mir nie etwas von deiner eigenen Familie erzählt.»

«Ein anderes Mal», sagte Wayland. Er betrachtete die Küstenlinie. Auf dem Wasser entdeckte er die Segel von zwei Fischerbooten auf der Fahrt nach Lynn.

«Nur eins macht mir Sorgen», sagte Raul.

«Und was?»

«Der Hauptmann. Man weiß nie, was er denkt, aber eins kann ich dir sagen, und zwar, dass er sich nicht in dieses Abenteuer gestürzt hat, um Gewinn zu machen. Wenn es so wäre, würde er unsereinem nicht so großzügige Anteile geben. Bei den meisten Befehlshabern, unter denen ich gedient habe, konnte man sich freuen, wenn man abgesehen von der Beute aus Plünderungen überhaupt ein bisschen Silber gesehen hat.»

«Wieso beschwerst du dich dann?»

«Wenn ich einem Mann Gott weiß wohin folge, weiß ich gern, warum er dorthin will.»

Ein Schwarm Watvögel landete an der Uferlinie. Dort trippelten sie mit so schnellen, hastigen Schritten weiter, dass ihre Beine an die Speichen eines rollenden Rades erinnerten.

«Dir muss doch auch aufgefallen sein, wie schlecht Vallon schläft», sagte Raul. «Ständig wälzt er sich herum, als würde ein Kobold auf seinen Schultern reiten.»

«Ich schlafe auch schlecht, wenn ich daran denke, was die Normannen gerne mit uns machen würden.»

«Das ist etwas anderes. Vallon ist zweifach vogelfrei – in Frankreich und in England. Ich habe gehört, wie Hero mit Richard darüber geredet hat.»

«Was hat er verbrochen?»

«Weiß ich nicht, aber es muss ziemlich ernst gewesen sein, wenn er so weit weg geflüchtet ist.»

Mit pfeifenden Rufen schwangen sich die Watvögel wieder in die Luft. Wayland verfolgte ihren Flug mit den Blicken.

Raul stand auf und hängte sich seine Armbrust über die Schulter. «Ich sage nur, dass der Kobold, der Vallon reitet, uns allen die Richtung vorgibt.»

Wayland ging zum Strand hinunter. Eine kleine, winkelförmige Welle erregte seine Aufmerksamkeit. Ein Otter kam aus dem Wasser, schüttelte seinen Pelz, bis er in feuchten Spitzen hochstand, und hockte sich mit einem Fisch zwischen den Pfoten hin. Wayland kam bis auf sieben Schritt heran, bevor ihn das Tier bemerkte und ins Wasser zurücktauchte. Wayland hob den Fisch auf – ein hässliches, schiefes Wesen, das ihn an Snorri erinnerte. Der Otter kam an die Wasseroberfläche und beobachtete ihn, nur die schwarzen Augen und die bärtige Schnauze des Tiers waren zu sehen. Wayland warf ihm den Fisch zu, doch bevor er aufs Wasser traf, war der Otter schon wieder verschwunden.

Als er zurück auf die Düne gehen wollte, bemerkte er eine andere Bewegung. Eine Weihe glitt übers Schilf, das katzenartige Gesicht dem Boden zugewandt. Mit einem Mal scherte der Vogel aus, als sei er aus einem Traum erwacht. Ganz in der Nähe stiegen mit grellen Schreien zwei aufgescheuchte Schnepfen aus dem Schilf auf. Der Hund hatte nicht reagiert. Wayland befahl ihm, sich hinzulegen, ging ein Stück am Strand entlang und glitt ins Schilf.

Er trat vorsichtig auf, vermied jedes Geräusch, das lauter war als das im Wind raschelnde Schilf. So drang er ein Stück weit ins Marschland vor, beschrieb einen Halbkreis, und dann entdeckte er Syth. Sie stand geduckt mit dem Rücken zu ihm, hielt sich an einem Bündel Schilf fest, und beugte sich, ein Bein balancierend ausgestreckt, so weit aus dem Schilfbewuchs Richtung Strand heraus, wie sie es nur wagen konnte. Anscheinend hatte sie ihn beobachtet.

Ein breiter Graben lag zwischen ihnen. Wayland watete durch das knietiefe Wasser und war halb auf der anderen Seite, als irgendein Geräusch oder Instinkt sie dazu brachte, sich herumzudrehen. Sie schlug sich die Hand vor den Mund und sprang mit unglaublicher Schnelligkeit davon. Spritzend watete er aus dem Graben und rannte ihr nach. Wie ein Pfeil schnellte sie in dichtes Unterholz. Sie kannte die Marschen besser als er. Sie würde entkommen. Er wurde noch schneller, warf sich nach vorn und erwischte ihr Gewand in dem Moment, als sie einen Haken schlagen wollte. Der Stoff zerriss unter seiner Hand, und sie landete halbnackt im Morast. Er zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt, und warf ihr den zerlumpten Kittel hin. Sie griff danach und zog ihn bis zum Hals hoch. Keuchend starrten sie sich an.

«Warum spionierst du uns nach?»

Ihr Blick zuckte von rechts nach links.

«Hast du irgendwem erzählt, dass wir hier sind?»

Syth schüttelte den Kopf – ein einziges Mal, als müsse sie eine lästige Fliege vertreiben. Unter ihren großen Augen lagen dunkle Ringe, und ihre Knochen bewegten sich wie Schatten unter der Haut.

«Wann hast du zum letzten Mal etwas gegessen?»

Sie ließ den Kopf sinken und begann am ganzen Körper bebend zu schluchzen. Beim Anblick ihres zarten Rückgrats fühlte sich Wayland unbeholfen und ratlos. Und noch etwas spürte er – aufkeimende Lust. Der Hund kam spritzend durchs Schilf gelaufen, hielt vor Syth an und begann ihr die Tränen von den Wangen zu lecken. Sie schlang ihm die Arme um den Hals und vergrub ihr Gesicht in seinem Fell.

«Warte hier», sagte Wayland. «Ich bringe dir etwas zu essen.»

Vallon überwachte die Arbeiten an der Vertiefung des Wasserlaufs, als Wayland auf die Insel kam. Stirnrunzelnd drehte er sich um. Wayland ging zu den Vorräten hinüber und nahm Brot, Gebäck, gebratenes Hammelfleisch, Käse – einfach alles, was ihm in die Hände fiel.

Vallon ging zu ihm hinüber. «Was machst du da? Du solltest Wache halten.»

«Der Hund schlägt an, wenn irgendjemand kommt.»

Wayland ging zum Boot zurück.

«Bleib stehen.»

Wayland blieb stehen. Er sah auf seine Füße hinunter, dann drehte er sich zu Vallon um.

«Ich brauche ein bisschen Geld.»

Die anderen hatten aufgehört zu arbeiten. Raul kam zu ihnen herüber.

«Ich kümmere mich um die Sache», sagte Vallon und wartete, bis Raul sich ein Stück entfernt hatte. «Wofür willst du das Geld haben? Es gibt nichts zu kaufen.»

«Ich brauche es ganz einfach.»

Vallon schien kurz in einen höchst interessanten Anblick hinter Waylands Kopf zu versinken. «Wenn du beschlossen hast, uns zu verlassen, werde ich dich nicht daran hindern. Aber du kannst nicht weg, bevor wir abgesegelt sind.»

«Ich will nicht weg. Ich will einfach … einfach …» Vallon erlebte zum ersten Mal, dass Wayland die Fassung verlor.

«Wie viel?»

«Was Ihr mir schuldet.»

Vallon sah ihm ernst ins Gesicht und ging dann zu dem Kasten mit dem Silber. Als er zurückkam, übergab er Wayland das Geld nicht sofort. «Ich hatte schon alle möglichen Kerle unter meinem Kommando – Diebe, Mörder, Vergewaltiger, jeden Abschaum, den man sich vorstellen kann.»

«So einer bin ich nicht.»

«Ich würde dich besser verstehen, wenn du so einer wärst. Hier», sagte er und gab Wayland ein paar Münzen. «Das ist mehr, als dir zusteht. Aber verlass deinen Posten nicht noch einmal ohne guten Grund.»

Wayland ging ein paar Schritte, dann blieb er stehen und drehte sich um. «Herr?» Es war das erste Mal, dass er Vallon mit diesem Titel ansprach.

«Ja.»

«Habt Ihr jemals einen Gerfalken gesehen – einen weißen?»

«Nein.»

«Aber es gibt sie?»

«Ich glaube schon. Bleib bei uns, und du wirst Wunderdinge sehen, die man sich nicht einmal erträumen kann.»

Wayland fand Syth zitternd an derselben Stelle, an der er sie zurückgelassen hatte. Der Hund hatte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt. Das Essen schien sie nicht zu interessieren. Stattdessen sah sie ihn mit rotgeäderten Augen an. «Ich habe diese Sachen mit Snorri nur gemacht, weil ich beinahe verhungert wäre. Aber er durfte ihn nie bei mir reinschieben.»

Wayland schloss kurz die Augen. Dann streckte er ihr das Geld hin. «Geh weg.»

«Wohin denn?»

«Weg. Hier ist es gefährlich.»

«Warum. Was hast du getan?»

«Wir haben ein paar Normannen getötet. Du darfst niemandem erzählen, dass du uns gesehen hast.»

Sie stand auf. Ihre Lippen bebten. «Lass mich bleiben. Ich koche und nähe für dich. Ich verdiene meinen Unterhalt.»

«Geh weg», rief er und scheuchte sie mit einer Geste von sich. «Und komm nicht wieder hierher.»

Sie wich zurück, raffte ihren zerrissenen Kittel zusammen. Er hob drohend seine Hand. Da drehte sie sich um und rannte mit fliegenden Füßen über den Strand, wurde kleiner und kleiner, bis ihre Gestalt in der Entfernung verschwand.

Als Wayland gehen wollte, folgte ihm der Hund nicht. Stattdessen blieb er liegen, den Kopf auf die Pfoten gebettet, mit hängenden Ohren.

«Keine Widerrede mehr», ermahnte ihn Wayland.

Загрузка...