XVIII

In leichtem Ostwind krängend fuhr die Shearwater etwa zehn Meilen vor der Küste Richtung Norden. Es war später Nachmittag. Die Sonne schickte wandernde Lichtsäulen durch die Wolkenlücken. Hero verglich die Richtung der Windfahne am Schiffsheck mit ihrem aktuellen Kurs. Er sah zu der feinen dunklen Linie im Westen hinüber.

«Du bist am Zug», sagte Richard.

Hero wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Schatrandsch-Spiel zu. Er rückte mit einem seiner Bauern vor. «Wir können von Glück reden, wenn wir Schottland erreichen, ohne vorher noch einmal an Land gehen zu müssen.»

Vallon hatte beschlossen, so lange auf See zu bleiben, wie sie vor normannischem Gebiet waren. Drogo hatte die Nachrichten von ihren Verbrechen mit Sicherheit in jeder Küstengarnison verbreitet. Alle gut geeigneten Landestellen stünden daher unter Beobachtung, und gewiss waren auch die Fischer dazu aufgefordert worden, jeden Hinweis oder jedes Gerücht über ihre Durchfahrt weiterzugeben.

Richard sah verständnislos auf.

«Wir können nicht näher als vierzig Grad am Wind segeln», erklärte Hero. Er formte mit seinen Händen einen Winkel. «Wir sind gar nicht so weit draußen. Wenn der Wind noch ein bisschen stärker nach Ost dreht, werden wir auf die Küste zugetrieben.»

«Wir brauchen nur noch drei Tage bis Schottland», sagte Richard. Er zog mit einem seiner Springer und lehnte sich zurück. «Du wieder.»

Hero hatte ein Gitter mit acht mal acht Feldern auf eine Planke geritzt und als Spielfiguren Kiesel unterschiedlicher Größe und Farbe gesammelt. Dies war für Richard erst die dritte Partie, aber er begriff schnell. Die ersten beiden Spiele hatte er verloren, aber irgendwie war es ihm gelungen, in dieser Partie schon zwei Bauern mehr zu schlagen. Hero beschloss, sich besser zu konzentrieren. Er begutachtete die Konstellation auf dem Brett und rückte dann mit einem Rukh vor, um Richards Feldherrn zu bedrohen.

Während Richard über seinen nächsten Zug nachdachte, musterte Hero die neuen Mitglieder der Mannschaft. «Werden sich die Männer bei uns eingliedern, was meinst du?»

Richard warf einen Blick über die Schulter. Garrick lehnte am Dollbord, hatte sein lahmes Bein hinter sich an die Planken gestützt und unterhielt sich mit Syth. Sie beschrieb mit vielen Gesten etwas, das ihn zum Lachen brachte und dazu, seine eigene Version davon mit den Händen in die Luft zu malen.

«Der alte Garrick ist ein anständiger Kerl», sagte Richard.

Hero lächelte. «Und was der essen kann! Wenn jeder so viel essen würde, hätten wir schon lange vor Schottland keine Verpflegung mehr.»

Richards Hand schwebte über dem Spielbrett. «Was Brant angeht, bin ich nicht so begeistert. Er ist ein Rüpel.»

Hero mochte Brant ebenfalls nicht. Jetzt zum Beispiel stand er mit Snorri auf dem Achterdeck, und sie kicherten über irgendetwas.

«Solange er seinen Beitrag leistet.»

«Er schielt nach Syth.»

«Wirklich?»

«Ich habe gestern Abend beim Essen gesehen, wie er sie angegafft hat.»

«Hoffentlich hat Vallon nichts davon mitbekommen.»

«Natürlich hat er. Vallon bekommt alles mit.»

Richard rückte mit einem seiner Elefanten diagonal über zwei Felder vor und erbeutete noch einen Bauern. Hero vergaß Brant. Er musste versuchen, das Spiel für sich zu retten. Nach langem Bedenken zog er mit einem Springer. Darauf rückte Richard augenblicklich mit einem Rukh vor.

«Schach.»

Hero murmelte etwas in sich hinein. Er griff nach seinem König, zog die Hand wieder zurück, streckte sie erneut aus.

«Das wird dir auch nicht helfen», sagte Richard.

«Da hat er recht», sagte Vallon und ging neben ihnen in die Hocke. «Wenn er mit seinem Springer so vorrückt und dann mit seinem Elefanten, hat er dich mattgesetzt.»

«Seid Ihr sicher?»

«Vollkommen sicher.»

Hero schubste seinen König um und lehnte sich verärgert zurück. «Es liegt an diesen primitiven Figuren. Da kann man ja eine nicht von der anderen unterscheiden. Ich habe mir nur mit ihnen beholfen, um Richard die Spielregeln beizubringen. Ich spiele erst wieder, wenn uns Raul einen Satz ordentliche Figuren geschnitzt hat.»

Vallon sah ihn vorwurfsvoll an, dann legte er beiden eine Hand auf die Schulter. «Ich muss euch um einen Gefallen bitten. Jetzt, wo wir tatsächlich aufgebrochen sind, wird es Zeit, dass wir unsere geschäftlichen Angelegenheiten ordentlich regeln. Wir brauchen einen Schatzmeister, um die Finanzen zu verwalten.»

«Ich habe nichts dagegen, die Buchführung zu machen», sagte Hero.

Vallon drückte ihm die Schulter. «Ich hatte überlegt, dass vielleicht Richard diese Aufgabe übernehmen könnte. Du hast doch gesagt, dass er gut mit Zahlen umgehen kann.»

Hero reagierte auf den Wink. «O ja, das kann er. Er versteht sogar das Konzept der Zahl Null.»

Ein gequältes Lächeln zog über Vallons Gesicht. Auf ihrer Reise durch Frankreich hatte Hero lange und hart daran gearbeitet, ihn von den geradezu magischen Eigenschaften der Null zu überzeugen. Vallon aber verstand nicht, welchen Wert eine Zahl haben sollte, die keine Zahl war, nur ein Symbol für das Nichts.

«Ich möchte nur ein Liste mit unseren Geschäften. Wie viel wir ausgeben, einnehmen und schulden, und zwar in einer Tabelle, die jeden Tag auf den neuesten Stand gebracht wird. Richard, schaffst du das, was meinst du?» Richard wurde rot vor Freude. «Ich werde mein Bestes tun.» Bisher hatte Vallon nicht erkennen lassen, dass er Richard irgendetwas zutraute.

«Ausgezeichnet», sagte Vallon. Er erhob sich. «Eins noch. Die Englischsprecher sind in der Mehrheit. Wir werden monatelang kein Französisch mehr hören. Wenn wir mit den Nordmännern Handel treiben wollen, sollten wir besser ihre Sprache lernen. Wayland hat sich einverstanden erklärt, uns zu unterrichten.»

«Wayland?»

«Sonst kann es hier keiner. Außerdem wird es ihn von dem Mädchen ablenken.»

Hero und Richard wechselten einen Blick. Seit dem Morgen, an dem Wayland und Raul an Land gegangen waren, um Leute zu suchen, war das Thema Syth in schweigendem Einverständnis gemieden worden.

«Habt Ihr Euch damit abgefunden, dass sie dabei ist?», fragte Hero.

«Ich kann ihr keine mangelnde Einsatzbereitschaft vorwerfen. Sie kocht gut, hält Ordnung und sorgt für ein bisschen gute Stimmung.» Vallon zuckte mit den Schultern. «Wir werden sehen.»

Heros Blick musste zu Brant hinübergewandert sein.

Vallon fing den Blick auf. «Ich habe vor, ihn auszuzahlen, sobald wir in Schottland sind. Er wird Syth nicht belästigen, solange sie von dem Hund beschützt wird. Sogar ich mache lieber einen Bogen um diese Bestie.»

Zwei Tage später war Brant tot und erfüllte damit Aikens Prophezeiung sogar vor der Zeit.

Er hatte Glück gehabt, dass er nicht schon am Tag zuvor nördlich des Tyne getötet worden war. Die Sonne war hinterm Horizont versunken und hatte die Küstenlinie als purpurroten Umriss hervortreten lassen. Hero und die anderen Schüler saßen im Halbkreis um Wayland auf dem Vorderdeck und lernten Nordisch. Syth war im Laderaum und kochte das Abendessen. Ein bedrohliches Knurren von unten zerstörte die friedliche Stimmung. Wayland sprang auf und rannte ins Heck, die anderen eilten ihm nach. Dort stand Brant mit dem Rücken zur Wand in einer Ecke und schwenkte in dem lächerlichen Versuch, den Hund zu vertreiben, einen Schöpfeimer vor sich hin und her. Wayland musste dem Tier einen Befehl gegeben haben, denn es drehte ab und sprang mit langen Sätzen auf das vordere Halbdeck. Erst da sah Hero Syth, die bei der Kohlenpfanne kauerte.

Vallon hielt Wayland am Arm fest, als er in den Laderaum hinunterspringen wollte. Er flüsterte ihm etwas ins Ohr und hielt ihn so fest gepackt, dass beide Männer schwankten. Was er auch gesagt haben mochte, es genügte, um Wayland übers Deck weggehen zu lassen, wobei er mörderische Blicke über die Schulter zurückwarf.

Vallon tat so, als sei er erstaunt, den Rest der Mannschaft beim Zuschauen zu erwischen. «Habt ihr nichts Besseres zu tun?»

Als Vallon in den Laderaum stieg, frohlockte Snorri. «Ich hab ja gesagt, dass dieses Weibsbild für Ärger sorgt.»

Wenig später kehrte Vallon zum Unterricht zurück. Er benahm sich, als sei nicht das Geringste vorgefallen.

«Wo waren wir stehengeblieben?»

Am nächsten Tag drohte sie ein regnerischer Ostwind an die Küste zu treiben. Nur durch unausgesetztes Rudern gelang es ihnen, Abstand zum Ufer zu halten. Auf der Seeseite brandete das Wasser mit weißer aufschäumender Gischt an Inselchen und Riffe. Eine gewaltige Ruine dominierte die Küste im Westen.

«Das ist Bamburgh», sagte Richard. «Einst war es die Festung der northumbrischen Könige. Mein Vater hat mir gesagt, dass die Normannen sie wieder aufbauen wollen.»

«Hat jemand gesehen, ob die Festung bemannt ist?», fragte Vallon.

Heros Augen waren zu stark vom Salzwasser verklebt, um klar sehen zu können.

«Da ist ein Gerüst auf einem der Wälle», sagte Wayland.

«Also, falls dort irgendwer ist, haben sie uns gesehen. Weiterrudern.»

Auch mit sechs Mann an den Riemen mussten sie schwer ums Vorwärtskommen kämpfen. Sie hatten die Festung kurz nach der Mittagszeit zum ersten Mal gesehen, und sie war am späten Nachmittag immer noch hinter ihnen in Sicht.

Plötzlich rief Raul: «Schiff auf Steuerbord!»

Ein Fischerboot mit vier Mann Besatzung tauchte aus dem Nieselregen auf und kreuzte achtern den Kurs der Shearwater beinahe in Rufweite. Vallon und ein paar andere hoben die Hand. Die Mannschaft des anderen Schiffs starrte in ihre Richtung, und keiner der Männer rührte auch nur einen Finger zum Gruß.

«Das gefällt mir nicht», sagte Raul.

Der Wind blähte die Segel des Fischerbootes, es glitt schnell aufs Land zu und verschwand in der Mündung einer Lagune. Die Shearwater kroch weiter. Direkt vor ihnen formte sich ein unbestimmter dunkler Streifen langsam zu einer niedrigen Landzunge, die eine Meile weit in die See ragte.

«Dort kommen wir nicht rum», sagte Raul.

Vallon tauchte den Riemen ein. «Nicht lockerlassen. Wir versuchen vor dem Dunkelwerden in den Windschatten zu kommen.»

Sie kämpften sich weiter und wurden immer langsamer, je näher sie der Landzunge kamen.

«Wir haben uns in einem Brandungsrückstrom verfangen», rief Raul. «Er schiebt uns zurück.»

Vallon fand keine Lösung für das Problem. Unterhalb der Klippen, beinahe an der Spitze der Landzunge, war das Meer glatt wie ein Zinnteller. Weiter zum Festland hin ritten Schaumkronen auf den Wellenkämmen. Er deutete auf die Landzunge. «Möglicherweise ist es auch eine Insel.»

«Das macht keinen Unterschied», rief Raul. «Bei dieser Flut kommen wir nicht hin.»

Vallon knurrte verärgert. «Anker setzen. Wir warten auf den Gezeitenwechsel.»

Der Anker glitt über den sandigen Meeresboden und verfing sich dann an irgendetwas. Die Shearwater lag vor einem langgestreckten, einsamen Strand, hinter dem sich hohe Dünen türmten. Vallon gab Befehle aus. «Raul, Brant, ihr rudert Wayland ans Ufer.» Dann drehte er sich zu dem Falkner um. «Du läufst am Strand entlang und stellst fest, wie es da vorne weitergeht.»

«Können wir auch an Land gehen?», fragte Hero. Nach vier Tagen auf See sehnte er sich nach festem Boden unter den Füßen.

Vallon warf einen Blick zurück auf die Einbuchtung, in der das Fischerboot verschwunden war. «Wir sind hier nicht sicher. Ihr haltet auf den Dünen Wache. Und ihr rührt euch keinen Schritt weiter weg.»

Hero betrat einen Strand, von dem das Wasser alle menschlichen Spuren getilgt hatte, mit Ausnahme der verwitterten Rippen eines halb im Sand begrabenen Schiffswracks. Zusammen mit Richard kletterte er auf eine steile Düne. Oben auf dem Plateau wuchs Strandhafer. Eine Miniaturwüste zog sich landeinwärts. Einige Dünen schienen parallel zur vorherrschenden Windrichtung zu stehen, andere lagen so ungeordnet wie die kabbeligen Wellen, durch die sie manchmal fuhren. Als er aufs Meer zurückblickte, sah Hero, wie die ankernde Knarr der Strömung trotzte. Wayland und sein Hund waren winzige Umrisse, die den Strand entlangrannten. Die Sonne wirkte hinter dem wolkenverhangenen Himmel wie eine weißliche Hautblase. Hero lief ein Schauer über den Rücken.

Er war am Rand der Erschöpfung. Sie alle waren es. Ihnen war nie richtig warm, ihre Kleidung war nie richtig trocken, und sie schliefen in keiner Nacht durch. Sie hatten alle frischen Lebensmittel gegessen und lebten nun von altbackenem Brot, Salzheringen und Brei. Sogar das Trinkwasser war so knapp geworden, dass Vallon eine Rationierung angeordnet hatte. Hero hatte festgestellt, dass Kratzer und kleine Schnitte in der Haut langsamer heilten als gewöhnlich.

Neben ihm erklang ein Seufzer Richards wie ein Echo auf seinen Trübsinn.

«Man darf den Mut nicht verlieren», sagte Hero. «Bald sind wir in schottischen Gewässern.»

«So viel Zeit und so viel Anstrengung, und trotzdem sind wir wieder dort, wo wir angefangen haben. Wenn ich ein gutes Pferd hätte, könnte ich morgen bei Tagesanbruch zu Hause sein.» Richards Mund zuckte. «Stell dir mal vor, was mich für ein Empfang erwarten würde.»

Hero wurde noch klarer, wie viel Richard geopfert hatte. «Tut es dir jetzt leid, dass du mit uns gekommen bist?»

Richard sah vor sich hin. «Nein. Weißt du, ich hätte die Geringschätzung meines Vaters ertragen können und auch die Schläge von Drogo, wenn Margaret mir nur ein bisschen Zuneigung gezeigt hätte. Aber auch die anspruchsloseste Pflanze vertrocknet in ausgedörrter Erde.» Er malte ein Muster in den Sand. «Das Einzige, was ich bedaure, ist das Blut, das vergossen worden ist. Ich hätte nie geglaubt, dass Drogo seine Wut mit dieser Gewalttätigkeit auslebt.» Mit einer schnellen Bewegung löschte er das Muster aus.

«An deinen Händen klebt kein Blut.»

«So wird es meine Familie aber nicht sehen. Ich werde niemals nach England zurückkehren können. Vielleicht kann ich ja mit dir nach Italien gehen. Ich habe darüber nachgedacht, ob ich in einen Orden eintreten soll. Glaubst du, sie würden mich nehmen?»

Hero lächelte. «Ich bin sicher, dass man dich in jedem Kloster mit offenen Armen aufnehmen würde.»

«Wenn ich mich im Schreiben übe, lassen sie mich vielleicht im Scriptorium arbeiten.»

«Den ganzen Tag zu schreiben kann eine arge Schinderei sein. Bald sieht man nicht mehr gut und hat einen krummen Rücken.»

«Aber denk nur, wie viel ich lernen würde.»

«Richard, wenn wir diese Reise überstehen, hast du mehr gelernt als jeder Schriftgelehrte.»

«He! Seid ihr zwei taub?»

Raul stand am Strand. Er hatte die Hände in die Seiten gestemmt. Wayland rannte über den Strand auf das Boot zu. Die Ebbe hatte eingesetzt, und die Shearwater zerrte nicht mehr so stark an ihrem Anker.

Raul kam keuchend die Düne herauf. «Vallon will, dass wir wieder an Bord kommen.» Er erreichte das Plateau und ließ seinen Blick umherwandern. «Wo ist Brant?»

Hero runzelte die Stirn. «Woher soll ich das wissen?»

«Ich dachte, er ist bei euch.»

«Wir haben ihn nicht mehr gesehen, seit wir an Land gegangen sind.»

Raul schlug sich an die Stirn. «Verdammt!»

«Wahrscheinlich hat er sich nur irgendwo aufs Ohr gelegt», sagte Hero. «Sollen wir uns nach ihm umsehen?»

Wütend blickte Raul um sich. «Aber macht schnell. Wenn er nicht aufgetaucht ist, bis Wayland da ist, gehen wir ohne ihn.»

Hero und Richard kletterten über die Dünen, stolperten die steilen, windzugewandten Hänge hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Jedes Mal, wenn Hero einen Dünengipfel erreicht hatte, rief er Brants Namen, und seine Stimme hallte merkwürdig gedämpft über den Sand.

«Sieh mal», sagte Richard und deutete auf einen Haufen Knochen in der nächsten Senke.

Hero stieß mit dem Fuß einen menschlichen Schädel an. Das kreideweiße Kranium war eingeschlagen worden. Nach der Anzahl der Knochen zu urteilen, die an dieser Stelle verstreut lagen, hatte dort ein Massaker stattgefunden. «Die Knochen sehen sehr alt aus», sagte er. «Ich frage mich, ob die Toten von dem Schiff stammen, dessen Wrack wir am Strand gesehen haben.»

Richard warf einen Blick über die Schulter. «Wir sollten besser zurückgehen.»

«Lass uns noch auf die nächste Düne steigen.»

Als sie oben waren, ließen sie ihren Blick über die menschenleere Gegend schweifen. Grashalme zitterten im Wind. Der Sand lief um ihre Füße zusammen. Möwen schwebten überall am Himmel. Ihre blaugrünen Umrisse wurden vom Wind zurückgetrieben, und ihre klagenden Rufe hallten übers Land.

«Wir vergeuden nur unsere Zeit», sagte Hero. «Brant ist desertiert.»

«Warte. Ich glaube, ich habe eine Stimme gehört.»

«Das waren nur die Möwen.»

«Nein. Hör doch.»

Hero hob lauschend den Kopf. «Das bildest du dir ein.»

«Da ist es wieder. Hör genau hin.»

«Da ist nichts. Lass uns gehen.»

Doch als sich Hero in den Wind drehte, glaubte er, in einiger Entfernung links von sich eine Bewegung gesehen zu haben. Dann sah er die Bewegung noch einmal und nahm an, es sei ein Tier, das einen Dünenabhang herunterkrabbelte. Doch dann blieb das Wesen stehen, und Hero erkannte Brant. Es waren zunächst nur sein Kopf und seine rudernden Arme zu sehen, dann hatte er sich die nächste Düne emporgearbeitet und warf einen verzweifelten Blick zurück, bevor er sich in die nächste Senke warf. Hero wusste, dass er um sein Leben lief, doch waren seine Bewegungen seltsam schleppend. Als Brant wieder auftauchte, war er nahe genug, dass man ihm das Entsetzen vom Gesicht ablesen konnte. Er musste sie bemerkt haben, denn er schien verzweifelt den Kopf zu schütteln, bevor er ins nächste Dünental abtauchte.

Er war immer noch außer Sicht, als die Schlachtrösser aus dem Sandmeer hinter ihm emporstiegen, die Schädel wie Hämmer auf- und niederschwingend, die Hufe furchenschlagend auf dem Dünenkamm.

«Lauf!»

Mit kreisenden Armen rasten sie den Dünenhang hinunter. Die normannischen Reiter schwärmten auseinander, gaben sich Handzeichen, und die Hufe ihrer Pferde wirbelten durch das Gewirr der Dünen.

Als er den nächsten Hang hinunterrutschte, zerriss Richard seinen Schuh und stürmte mit halb herunterhängender Schuhsohle weiter. Sie erreichten eine weitere Dünenkuppe und riskierten einen Blick zurück. Ein merkwürdiger Zufall wollte es, dass gerade in diesem Moment sämtliche Normannen in den Senken verborgen waren. Dann plötzlich, wie Marionetten, die an ihren Fäden heraufgezogen werden, tauchten sie wieder auf, peitschten ihre Pferde, lehnten sich in den Sätteln zurück, um den nächsten Galopp den Dünenhang hinunter auszugleichen. Richards Atem kam in pfeifenden Stößen, und Hero war so am Ende, dass er den letzten Hang auf allen vieren hinaufkroch.

Raul und Wayland warteten am Boot. Hero stieß einen atemlosen Ruf aus, und die beiden sahen auf, im ersten Augenblick ohne großes Interesse, doch dann setzten sie sich sofort in Bewegung. Hero sprang einfach hinunter, stolperte beim Aufkommen und rollte sich überschlagend zum Strand hinunter. Vor ihm drehte sich alles, als er zu Wayland aufsah und keuchte: «Normannen. Machen Jagd auf Brant.»

Wayland zerrte sie über den Strand. Raul schob das Boot ins Wasser. Zusammen halfen sie ihnen ins Boot. Sie schnappten sich die Riemen. Als sich Hero umdrehte, sah er Brant auf den letzten Dünenkamm taumeln. Er schlug sich die Hände vors Gesicht, als er erkannte, dass sich das Boot vom Strand entfernte. Ein Speer flog an ihm vorbei, und Brant ließ sich von der Dünenkuppe fallen.

«Wir können ihn nicht einfach zurücklassen», schrie Hero.

«Er ist derjenige, der sich unerlaubt entfernt hat», sagte Raul, ohne den Rudertakt zu ändern.

Brant überschlug sich die Düne hinunter. Als er wieder auf die Beine kam, schien er verwirrt und hinkte zuerst ein Stück den Strand entlang, bevor er sich in Richtung des Bootes umdrehte. In seinem rechten Oberschenkel steckte ein Pfeil, und er zog das Bein nach. Er war halb über den Strand, als die ersten Normannen auf die Dünenkuppe ritten. Sie sahen, dass er nicht entkommen konnte, und hielten an, um auf den Rest ihrer Truppe zu warten. Mehr als zwanzig Reiter hatten sich auf der Kuppe versammelt, bis Brant das Wasser erreicht hatte. Dort stand er mit ausgebreiteten Armen und stieß in verzweifelter Erbitterung einen grauenvollen Schrei aus.

Einige Normannen stiegen aus den Sätteln, ließen die Pferde auf der Düne, und kamen zu Fuß zum Strand herunter. Andere führten ihre Tiere seitwärts über den Hang, während die kühneren Reiter ihren Pferden die Sporen gaben, bis sie schließlich auf den Hinterbacken die Düne herabrutschten. Ein Soldat spannte seinen Bogen und zielte auf Brant, aber ein Offizier brachte ihn mit einem Ruf dazu, den Bogen zu senken.

Raul nahm seine Armbrust. «Hört auf zu rudern!»

«Er ist ein toter Mann», sagte Wayland. «Du verschwendest deinen Bolzen.»

Raul schlug ihm mit dem Handrücken auf die Brust. «Hört auf zu rudern.»

Er kniete sich ins Boot und stützte sich mit einem Ellbogen auf der Ruderbank ab, um genauer zielen zu können.

Brant drehte sich nach seinen Verfolgern um und hob die Hände in einer so demütigen Geste, dass Hero vor Mitleid ächzte.

«Keiner gibt einen Laut von sich», befahl Raul.

Das Boot schaukelte auf und ab. Raul murmelte etwas und erstarrte in höchster Konzentration. Hero vernahm so etwas wie ein leises Explosionsgeräusch, als die aufgestaute Kraft der Armbrustsehne den Bolzen davonjagen ließ. Brant bog sich mit flatternden Armen hintenüber, torkelte ein paar Schritte seitwärts, und brach im seichten Wasser zusammen.

Raul ergriff wieder seinen Riemen. «Ich musste ihn töten. Er hätte ihnen unseren Kurs und unser Reiseziel verraten.»

Zwei Soldaten hasteten über den Strand, um den Körper aus dem Wasser zu ziehen. Die übrigen sammelten sich um ihren Anführer. Hero sah ihn Befehle erteilen. Die Truppe teilte sich. Ein halbes Dutzend Männer ritt wieder auf die Düne, die anderen galoppierten den Strand hinauf.

«Was haben sie vor?»

«Ich weiß nicht», sagte Raul, «aber sie haben die Verfolgung noch nicht aufgegeben.»

An Bord der Shearwater berichtete Wayland, dass die vermeintliche Landzunge eine Insel war, die eine flache Bucht voller Sandbänke und Untiefen vom Festland trennte.

«Gibt es eine Durchfahrt?»

«Auf der anderen Seite ist eine enge Fahrrinne.»

«Dahin sind vermutlich die Reiter unterwegs», sagte Raul.

«Irgendwelche Schiffe in der Bucht?»

Wayland schüttelte den Kopf.

«Und was ist mit der Insel? Ist sie bewohnt?»

«Ich habe nur Ruinen gesehen.»

Vallon musterte die Dünen. Gegen das glühende Abendrot hoben sich die normannischen Soldaten als bedrohliche schwarze Silhouetten ab. Von der Abteilung, die über den Strand Richtung Norden geritten war, fehlte jede Spur. Die Gezeitenströmung war schwächer geworden, und der Wind hatte sich gelegt. «Wir sehen uns diese Bucht mal an», sagte Vallon.

Sie ruderten parallel zum Strand, die normannischen Reiter auf den Dünen hielten mit ihnen Schritt. Die Flüchtenden erreichten die Landspitze am Ende des Strandes. Die Bucht lag zum Teil als feuchter Schlick trocken und war in anderen Bereichen von Dutzenden Wasserläufen durchzogen, die in der zunehmenden Dunkelheit schimmerten. «Wenn wir hier durchfahren, laufen wir auf Grund», sagte Vallon. Er musterte die Insel und deutete auf ihre felsige Südspitze in kaum einer Meile Entfernung. «Wir ziehen uns in den Schutz der Klippen zurück.»

Es war vollständig dunkel, bevor sie im Windschatten der Insel angekommen waren. Vorsichtig fuhren sie weiter, und als sie das Geräusch von Wellen hörten, die saugend über Felsen liefen, warfen sie Anker. Hero versuchte in der Dunkelheit irgendetwas zu erkennen. Seehunde stöhnten auf ihren wasserumspülten Schlafplätzen, die Brandung donnerte an die Klippen der Landspitze.

«Soll ich an Land gehen und mich umsehen?», fragte Wayland Vallon.

«Warte damit lieber noch ein bisschen.»

In genau diesem Moment tauchte hoch über ihnen ein Licht auf.

«Die Normannen müssen über die Bucht auf die Insel gekommen sein», murmelte Raul.

«Die würden bestimmt keine Laterne schwenken. Keiner gibt einen Laut von sich.»

Hero beobachtete das Licht der Laterne, das in der schwarzen Nacht auf und nieder tanzte. Schließlich erreichte das Licht die Meereshöhe und verharrte. Dann erklang eine Stimme.

«Hat das jemand verstanden?»

«Hat englisch geklungen», sagte Wayland. «Englisch und noch eine Sprache.»

«Wir dürfen nicht antworten», zischte Raul. «Das können Strandräuber sein.»

Die Stimme rief erneut etwas, und die Laterne schwang herum wie ein Weihrauchfass.

«Er spricht Latein», sagte Hero. «Pace vobiscum. Friede sei mit euch. Venite in ripam. Nolite timere. Kommt an Land. Habt keine Angst.»

Raul spuckte aus. «Das machen wir ganz bestimmt nicht. Strandräuber versuchen mit allen möglichen Tricks, Seeleute in ihre Fänge zu bekommen.»

Vallon schnaubte. «Und wie viele Strandräuber kennst du, die Latein sprechen? Vielleicht ist ein Kloster auf der Insel. Hero, frag ihn, wer er ist.»

Hero legte die Hände um den Mund. «Quis es tu?»

Ein Lachen drang aus der Dunkelheit. «Bruder Cuthbert, erimetes sum

«Er sagt, er ist ein Einsiedlermönch.»

«Frag ihn, ob Normannen auf der Insel sind.»

Hero wandte sich an Wayland. «Du fragst. Ich glaube, Englisch ist seine Muttersprache.»

Wayland rief die Frage, und aus der Nacht kam die Antwort zurück. «Er sagt, es ist kein einziger Normanne da. Die Insel ist seit vielen Jahren verlassen. Er ist der Einzige, der noch hier lebt.»

Vallon tippte sich mit dem Zeigefinger an die Lippen. «Hero, du gehst mit Raul an Land und befragst den Mönch. Findet heraus, ob die Normannen auf die Insel kommen könnten. Und versucht, so viel wie möglich über diesen Küstenabschnitt zu erfahren.»

«Kann ich mitkommen?», fragte Richard.

«Ich denke schon. Aber bleibt nicht die ganze Nacht. Sagt dem Eremiten, er soll die Lampe ausblasen. Die Normannen könnten sie vom Festland aus sehen.»

Raul ruderte auf das Licht zu. Hero machte sich im Bug bereit und sprang auf einen Felsen, der mit glitschigem Seegras bewachsen war.

«Salvete amici», rief der Einsiedler. «Seid ihr Mönche? Haben euch meine Brüder geschickt?»

Er hatte sich die Kapuze seiner Mönchskutte über den Kopf gezogen, und sein Gesicht lag im Schatten des Lampenscheins.

«Macht das Licht aus», knurrte Raul.

«Aber die Nacht ist dunkel, und ihr kennt den Weg nicht.»

Mit einer schnellen Bewegung nahm ihm Raul die Lampe weg und erstickte die Flamme. «Ich folge Euch überhaupt nirgendwohin. Was ist das hier für ein Ort?»

Der Einsiedler lachte röchelnd. «Ihr müsst von weit her kommen. Das hier ist die heilige Insel Lindisfarne, der Ort, an dem das Christentum nach England gekommen ist.»

«Sie ist verlassen, habt Ihr gesagt.»

Ein weiteres hustendes Lachen. «Niemand hat auf Lindisfarne gelebt, seit die Wikinger vor zweihundert Jahren das Kloster zerstört haben.»

«Kann man über die Bucht segeln?»

«Nicht bei Ebbe, und auch nicht, wenn es dunkel ist.»

«Das ist alles, was wir wissen müssen», sagte Raul. «Gehen wir zurück.»

«Noch nicht», sagte Hero. «Ich möchte gern die Geschichte dieses Ortes erfahren.»

«Ich auch», sagte Richard.

«Also, ich bleibe genau hier auf diesem Fleck sitzen», sagte Raul. «Wenn ihr mich rufen hört, dann fragt euch nicht, warum, sondern nehmt die Beine in die Hand.»

Hero konnte gerade eben den Umriss des Einsiedlers erkennen. «Herr, bitte nehmt uns mit in Eure Unterkunft. Duc nos in cellam tuam, domine, quaeso

Bruder Cuthbert führte sie durch eine Felsrinne zwischen den Klippen hinauf und um Hindernisse herum, die in der Dunkelheit nicht zu sehen waren. Die Nacht war so pechschwarz, dass sich Richard an Heros Ärmel klammerte. Sie umrundeten Felsnasen, und schließlich blieb Cuthbert stehen.

«Wir sind da. Intrate. Kommt herein, kommt herein.»

Hero stellte fest, dass die Klause des Einsiedlers eine Erdhöhle war, die von einem Stück Segeltuch am Eingang vor den Unbilden des Wetters geschützt war. Als er seinen Kopf in die Höhle steckte, musste er würgen, solch ein Gestank empfing ihn. Es roch nach verwesenden Ratten unter einem feuchten Sack.

Richard schlug sich die Hand vor den Mund. «Urgh!»

«Sch. Denk an die Reinheit seiner Seele.»

Ein paar Kohlestücke glommen schwach vor sich hin. Hero und Richard setzten sich auf die eine Seite des Feuers, Cuthbert auf die andere.

«Ihr seid der erste Besuch, den ich seit Ostern empfange», sagte Cuthbert über das Feuer hinweg. «Wer von euch spricht so glänzendes Latein? Seid ihr auf einer Pilgerfahrt nach Lindisfarne gekommen?»

«Ja, in gewisser Hinsicht sind wir Pilger. Wir sind auf dem Weg in den hohen Norden.»

«Um das Wort Gottes zu verbreiten?»

«Nein, wir sind auf einer Handelsreise.»

Hero sprach auf Latein und musste für Richard übersetzen. Der junge Normanne fühlte sich unwohl.

«Bitte ihn darum, die Lampe anzuzünden.»

Cuthbert jedoch lehnte bedauernd ab. «Ich habe nur noch wenig Öl übrig. Dennoch gibt es Licht an diesem Ort – ein Licht, das hell genug ist, um auch die dunkelste Nacht zu erleuchten.»

«Erzählt uns von Eurer Insel», sagte Hero.

Cuthbert berichtete, wie Sankt Aidan im zwölften Jahrhundert das Christentum nach Northumbrien gebracht und das Kloster auf Lindisfarne gegründet hatte. Im Jahr der Klostergründung war auch Cuthberts heiliger Namenspatron geboren worden. Nach zehn Jahren Missionsarbeit hatte sich der heilige Cuthbert in eine Einsiedelei auf Inner Farne zurückgezogen – einer der seeumtosten Inseln, an denen sie vorbeigesegelt waren. Von Papst und König darum gebeten, erklärte sich der heilige Cuthbert zögernd bereit, zum zweiten Bischof von Lindisfarne zu werden, doch nach zwei Jahren ging er zum Sterben zurück in seine Einsiedelei. Elf Jahre später sollte Cuthberts Leichnam umgebettet werden, und die Mönche, die seinen Sarg öffneten, fanden ihn vollkommen unverwest vor. Die Nachricht von diesem Wunder zog ganze Pilgerscharen zum Schrein des heiligen Cuthbert. Dann aber plünderten die Wikinger das Kloster, und die überlebenden Brüder brachten den Leichnam Sankt Cuthberts aufs Festland und errichteten ihm im Kloster von Durham einen neuen Schrein.

Mehrere Male wurde Cuthbert bei seiner Erzählung von heftigen Hustenanfällen unterbrochen. Hero fand seine röchelnde Atmung genauso beunruhigend wie den Gestank in der Klause.

«Ihr seid krank», sagte er. «Ihr solltet ein Hospiz aufsuchen.»

«Wenn es für mich Heilung gibt, dann finde ich sie hier durch dieselbe göttliche Macht, die Cuthberts Fleisch nach seinem Tod vor dem Verfall bewahrt hat.»

«Was sagt er da?», flüsterte Richard.

Hero hatte aufgehört zu übersetzen. Er begann zu frieren. «Wenn die Reliquien des Heiligen Eure Leiden heilen können, solltet Ihr nach Durham gehen, wo sein Körper bestattet ist.»

Cuthbert wurde erneut von würgendem Husten geschüttelt und schluckte Schleim hinunter. «Meine Ordensgemeinschaft hat mich ausgestoßen.»

Hero fasste sich an die Kehle. Er hatte solch einen quälenden Husten schon früher einmal gehört.

«Zündet Eure Lampe an. Wir haben Euch Geschenke mitgebracht. Auch Lampenöl.»

Cuthbert blies auf die glimmenden Kohlen und entzündete ein paar miteinander verdrehte Strohhalme daran. Die Flamme versengte ihm die Hand, als er den Fidibus an den Docht hielt, doch er zuckte nicht einmal zusammen. Schatten krochen an den Wänden hinauf. Cuthbert stellte die Lampe auf den Boden und hockte sich, den Kopf unter der Kapuze gesenkt, daneben. Hero nahm die Lampe auf.

«Zeigt uns Euer Gesicht.»

«Diesen Anblick will ich euch lieber ersparen.»

«Ich fürchte mich nicht davor. Ich weiß, woran Ihr leidet.»

Langsam hob Cuthbert den Kopf. Hero atmete heftig ein. Die Augen des Einsiedlers blinzelten klein zwischen schuppiger Haut voller Knötchen hervor. Die Hälfte der Nase war abgefault, von einem Infekt zersetzt, den er nicht einmal spüren konnte.

«Ein Aussätziger!», schrie Richard und sprang auf. «Wir haben mit einem Aussätzigen zusammengesessen!» Er hastete so entsetzt aus der Höhle, dass er den Windschutz von seinen Haken riss.

Cuthbert schaute Hero gequält an. «Hast du keine Angst?»

«Ich war Student der Medizin. Ich habe Leprahospize besucht.»

«Um zu heilen?»

«Es gibt keine Heilung.»

Cuthbert starrte an ihm vorbei. «Doch, es gibt eine. Ich war auf Lindisfarne Zeuge vieler Wunder.»

«Wie lange seid Ihr schon hier?»

«Das ist mein zweites Jahr. Die Fischer aus der Gegend bringen mir etwas zu essen an den Strand, und manchmal nehme ich mir Eier aus den Nestern der Seevögel. Der letzte Winter war streng, aber jetzt, wo der Sommer naht, werden wieder Pilger auf die Insel kommen. Manchmal kommen am Tag ein Dutzend und mehr über den Dammweg.»

«Dammweg?»

«Ach so. Du kennst ja die Insel nicht. Der Dammweg ist ein Pfad, der bei Ebbe freiliegt.»

«Ihr habt aber gesagt, niemand könnte nachts auf die Insel kommen.»

«Ich habe gesagt, niemand würde im Dunkeln hierhersegeln.»

Hero sah über die Schulter zum Eingang der Höhle. «Die Ebbe muss jetzt fast ihren niedrigsten Stand erreicht haben.»

«Aber wer sollte nachts über den Dammweg kommen?»

«Entschuldigt mich, ich muss gehen.» Hero stand auf. «Wir werden von den Normannen verfolgt. Sie werden bald hier sein. Ich rate Euch zu Eurem eigenen Besten, ihnen zu sagen, Ihr hättet uns nicht gesehen.» Dann fiel ihm das Bündel wieder ein, und er streckte es dem Einsiedler hin. «Das ist für Euch. Es ist nicht viel. Ein bisschen Brot und Fisch. Eine Decke. Etwas Lampenöl. Es tut mir leid, aber ich muss gehen.»

Cuthbert schickte Hero Segenswünsche nach, als dieser die Felsrinne hinunterstolperte. Am Ufer prallte er mit Raul und Richard zusammen. Der Deutsche lachte.

«Das wird dich lehren, nachts fremden Stimmen zu folgen.»

«Er hat mich mit seiner ekelhaften Spucke bespritzt!», schrie Richard.

«Ihr haltet jetzt beide den Mund!»

Schweigend ruderten sie zum Schiff zurück. Hero berichtete Vallon von dem Dammweg und von sonst nichts. Cuthbert war mit seiner Lampe wieder zum Strand hinuntergestiegen. Vallon ließ seinen Blick zum dunklen Himmel hinaufwandern.

«Der Wind wird ständig schwächer. Holt den Anker ein.»

Sie legten sich in die Riemen und nahmen Kurs auf die Landspitze. Cuthbert begleitete sie am Strand, als wolle er ihnen den Weg leuchten. Sie hatten die Spitze von Lindisfarne beinahe erreicht, als eine Reihe Fackeln sichtbar wurde, die sich vom Festland her in einer Prozession übers Meer hinwegzubewegen schien, als wären Gläubige auf dem Weg zur Mitternachtsmesse.

«Mein Ausbruch vorhin tut mir leid. Ich hoffe, du verzeihst mir», sagte Richard und legte Hero die Hand auf die Schulter. «Ich war einfach so erschrocken.»

Hero hob die Hand, und einen Moment lang verschränkten sich ihre Finger. «Natürlich verzeihe ich dir.» Dann stieß er ein tiefes Stöhnen aus. «Was war das nur für ein schrecklicher Tag.»

Schwach klang Cuthberts Stimme übers Wasser zu ihnen.

«Was hat er gesagt?», fragte Richard.

Hero schluckte seine Tränen hinunter. «Benedicti sitis peregrini. Seid gesegnet, ihr Pilger.»

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