XLI

Es wurde dunkel, als sie bei dem Treffpunkt in Vitichev ankamen. Vallon musterte den Ort von der Flussmitte aus. Unter dem trüben Himmel wirkte die mit Lattenzäunen eingefriedete Siedlung düster und abweisend. Dutzende von Schiffen lagen dicht an dicht auf einem Dock, manche halb überschwemmt, andere wurden gerade ausgeschlachtet. Zwei kleine Galeeren, die schon bessere Tage gesehen hatten, ankerten am Kai und hatten je drei Pferde an Bord. Fyodors Sklaven und Soldaten warteten am Ufer. In der aufziehenden Dämmerung wirkten die Gesichter der Sklaven fahl wie Leichentücher. Fyodor winkte zu ihnen hinüber. Die einzigen anderen Menschen in Sichtweite waren vier Gestalten, die zusammen mit einem Reiter am Ende des Kais standen.

«Hero und ich gehen zu Fyodor», bestimmte Vallon.

Sie stiegen an einer Leiter den Kai hinauf. Die Sklaven gehörten zu einem erstaunlich bleichgesichtigen Volk, und ihr Haar war weiß wie Schwanengefieder. Alle waren Kinder, das älteste kaum halbwüchsig, die jüngsten allenfalls vier oder fünf Jahre alt. Sie hockten in kleinen Gruppen zusammen, hatten die Arme vor der Brust gekreuzt, wurden von bösem Husten geschüttelt und starrten die Fremden ohne jegliche Neugier oder Hoffnung an. Die Soldaten waren beinahe ebenso teilnahmslos. Sie machten einen liederlichen, unwilligen Eindruck, als wären sie gegen ihren Willen zum Dienst gezwungen worden, ihre Kleidung war schäbig, ihre Waffen waren von schlechter Qualität.

«Das nennt Ihr Soldaten?», sagte Vallon angewidert. «Ich dachte, es handelt sich um eine wertvolle Fracht.»

«Willkommen, willkommen», rief Fyodor. «Willkommen.»

«Wie seid Ihr an diese Kinder gekommen?», fragte ihn Hero.

«Meine Mittelsmänner haben sie ihren Eltern abgekauft.»

«Ihre Eltern haben sie verkauft?»

Fyodor zog die Mundwinkel nach unten. «Die letzte Ernte ist sehr schlecht ausgefallen. Sie wären verhungert, wenn ich sie nicht gerettet hätte.»

«Sie sehen aber trotzdem sehr verhungert aus.»

Fyodor machte eine wegwerfende Handbewegung. «Wenn ich ihnen noch mehr zu essen geben würde, stünden meine Ausgaben in keinem angemessenen Verhältnis mehr zu meinen Einnahmen.»

Hero verzog vor Abscheu das Gesicht. «Wozu werden sie eingesetzt werden?»

«Als Engel.»

«Als Engel?»

«Sehen sie etwa nicht genau danach aus? Die meisten der Jungen werden am kaiserlichen Hof als Eunuchen dienen. Die Mädchen …» Fyodor hob die Augenbrauen und zog die Schultern hoch.

Vallon sah zu der Gruppe am Ende des Kais hinüber. «Wer ist der Reiter?»

Fyodor gab vor, die Männer noch nicht bemerkt zu haben. «Ach ja. Das ist ein sehr wichtiger Mann in Kiew.»

«Was tut er hier?»

Fyodor schien über seine Antwort nachdenken zu müssen. «Ihm gehören die Schiffe.»

«Und die Sklaven bestimmt auch», erklärte Vallon Hero. «Wir haben uns etwas vorlügen lassen. Sag dem fetten Heuchler, er soll die Schiffe beladen.»

Fyodor versetzte einem der Soldaten einen Stoß, der daraufhin begann, die Sklaven auf die Galeeren zu treiben. Dann nahm der Händler Hero an den Händen und sah ihm bedauernd in die Augen. «Ihr habt mein ganzes Mitgefühl. Dieser Anführer, den Ihr da habt, ist ein grausamer Mann.»

Sie ließen die Stadt hinter sich und orientierten sich an den nächtlich-hellen Uferstreifen, die an angelaufenes Silber erinnerten. Sie schliefen in den Booten und wachten wie zerschlagen wieder auf. Drei Tage hatten nicht genügt, um die Energiereserven wieder aufzufüllen, die sie auf ihrer dreimonatigen Reise verbraucht hatten.

Noch vor der Mittagszeit kamen sie an der Einmündung des Nebenflusses vorbei, der ostwärts nach Perejaslaw führte, der letzten Stadt auf dem Gebiet des Kiewer Rus. Unterhalb des Zusammenflusses lagen keine Städte mehr, nur noch einzelne Gehöfte und karge Felder, die dem trockenen Kiefernwald abgerungen worden waren. Danach verging Nacht für Nacht, ohne dass auf dem Fluss ein von anderen Menschen verursachtes Geräusch zu hören war, und ihre Lagerfeuer bildeten die einzigen Lichtinseln in der Dunkelheit.

Der trübgelbe Strom trug sie durch die Steppe. Merkwürdige Felsmonumente, in denen einst Einsiedler gewohnt hatten, erhoben sich am westlichen Ufer. Am flachen Ostufer säumte dichtes Schilfrohr weites, verlassenes Grasland und Sanddünen. Rus besaß keine klar definierte Südgrenze, sagten die Lotsen. Sie verschob sich abhängig von den Routen der Reiternomaden.

Wayland hatte zwei Dutzend Tauben und Hühner als Futter für die Falken gekauft. Er musste diesen Vorrat früher anbrechen, als er gehofft hatte, denn die meisten Wildvögel waren in den Süden gezogen. Inzwischen konnte er sich glücklich schätzen, wenn er täglich einen Vogel schoss.

Als er eines Morgens mit leeren Händen zurückkehrte, ging er auf die Falkenkäfige zu, die am Ufer standen. Mit einem Mal blieb er wie angewurzelt stehen.

Das hatte Vallon mitbekommen. «Was ist?»

Wayland stürzte das letzte Stück auf die Käfige zu. Bei zweien stand die Türklappe einen Spaltbreit offen. Er öffnete das Türchen ganz. Leer. Er überprüfte den anderen Käfig. Leer. Fassungslos kniete er sich vor die Käfige. «Sie sind weg.» Er drehte sich um. «Zwei von den Falken sind verschwunden.»

Die anderen hasteten zu ihm. «Bist du sicher, dass du die Käfige richtig zugemacht hast?», fragte Vallon.

Wayland starrte ihn nur an, und Syth antwortete. «Natürlich sind wir sicher. Wir sehen sogar jeden Abend noch einmal nach.»

«Und heute morgen? Hast du da auch nachgesehen?»

«Es war noch dunkel, als wir auf die Jagd gegangen sind.»

Wayland stand auf. «Jemand hat sie über Nacht freigelassen.» Sein Blick fiel auf Drogo und Fulk, und sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. «Du warst es!» Er rannte auf die beiden zu. «Du hast sie freigelassen!»

Drogo zog sein Schwert. «Schieb mir nicht die Schuld an deiner Schludrigkeit in die Schuhe.»

Schwert oder nicht Schwert, Wayland hätte sich auf Drogo gestürzt, wenn Vallon ihn nicht festgehalten hätte. «Wir stellen später fest, wer die Schuld trägt. Welche Falken haben wir verloren?»

Keuchend und verzweifelt un sich blickend sagte Wayland: «Den Gerfalken und einen der Nestlinge – den Schreier.» Er lachte bitter auf. «Drogo wusste, wie viel mir der Gerfalke bedeutet, und er hat sich ständig über das Spektakel beschwert, das der Nestling macht.»

«Können wir irgendetwas tun?»

Wayland starrte über den Fluss und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. In dem Röhricht auf der anderen Uferseite gab es Wildvögel. Wenn die Falken hungrig wurden, wäre das die nächstliegende Jagdgelegenheit für sie. Aber die Chancen, sie in diesem Gewirr aus Marschland und Buchten zu finden, gingen gegen null. Er drehte sich zu der verlassenen Steppe um. Ein steter Südwestwind trug Staub mit sich und ließ die Horizontlinie verschwimmen. Wayland rang um Gelassenheit.

«Gezähmte Falken kehren oft zu der Stelle zurück, an der sie freigelassen wurden. Ich bleibe mit einem Lebendköder in der Nähe. Schickt jeden, den Ihr entbehren könnt, in die Steppe. Wenn sie einen Falken sehen, müssen sie so schnell wie möglich zurückreiten.»

«Wir nehmen alle Pferde, und ein paar Leute gehen zu Fuß los, um an den Flussufern zu suchen.»

«Wenn wir ihn bis heute Mittag nicht gefunden haben, bedeutet das, dass er die Gegend verlassen hat.» Wayland sprach nur von dem Gerfalken. Der Nestling hatte die Freiheit nie kennengelernt und war ohnehin zu schwach, um in der freien Natur zu überleben. Er hatte sich entweder meilenweit vom Wind forttragen lassen oder war irgendwo im Grasland niedergegangen, als leichte Beute für Wölfe und Schakale.

Wayland und Syth ritten mit einem Käfig, in den sie zwei lebendige Tauben gesetzt hatten, in die Steppe. Etwa eine Meile vom Fluss entfernt hielten sie an und beobachteten die sieben Reiter, die sich in fächerförmiger Ordnung immer weiter entfernten. Bald waren sie allein, die Reiter im unendlichen Grasmeer verschwunden. Jedes Mal, wenn Wayland an den Gerfalken dachte, spürte er seinen Verlust wie einen Schlag in die Magengrube.

Die Wartezeit, bis der erste Wikinger wiederkam, zog sich elend lange hin. «Kein einziges Lebewesen gesehen», vermeldete er.

Die anderen kehrten mit ebenso entmutigenden Nachrichten zurück.

Als Letzter kam Vallon. «Ich habe mir einen Augenblick lang Hoffnungen gemacht, als ein großer Vogel über mir vorbeigezogen ist. Aber er war zu dunkel, um einer von deinen Falken gewesen zu sein. Ich glaube, es war ein Adler.»

Wayland straffte die Zügel. «Ich suche ihn.»

«Inzwischen könnte er hundert Meilen weit geflogen sein. Wir wissen nicht einmal, auf welcher Seite des Flusses er ist. Und wenn du ihn durch irgendein Wunder findest, kannst du ihn nicht einmal zu dir locken. Er ist nicht auf das Federspiel dressiert.»

«Ich habe ihn wild gefangen, oder etwa nicht? Wenn ich ihn finde, dann locke ich ihn auch an.»

Vallon richtete den Blick in die Ferne. «Die Steppe ist grenzenlos, der Horizont scheint immerzu vor einem zurückzuweichen. Achte darauf, dass du dich nicht zu weit vom Fluss entfernst. Außerdem sind hier vor kurzem Nomaden vorbeigeritten. Ich habe die Spuren ihrer Schafe gesehen und bin an einem ihrer Lager vorbeigekommen. Sei unbedingt beim Dunkelwerden zurück. Wir haben immer noch genügend Falken, um die Forderung des Emirs zu erfüllen.»

«Das wäre nicht passiert, wenn Ihr Drogo in Nowgorod zurückgelassen hättet.»

«Spar dir die Anschuldigungen, bis du wieder zurück bist.»

«Ich komme mit», sagte Syth.

Fast hätte er ihre Begleitung abgelehnt. Einen verschwundenen Falken zu suchen war eine lange, anstrengende und nervenzehrende Aufgabe.

«Nimm sie mit», sagte Vallon. «Und nimm auch ein Schwert mit. Es ist eine ziemlich gottverlassene Gegend da draußen.»

Sie ritten quer zum Wind los.

Syth galoppierte neben Wayland. «Woher weißt du, wo du suchen musst?»

Wayland hatte nur eine einzige schwache Hoffnung. In England hatte er oft nach verschwundenen Falken gesucht und etwas entdeckt, das der Lehre, mit der Olbecs Falkner hausieren ging, völlig widersprach. Dieser Mann, alt und phantasielos, bestand darauf, dass verlorene Falken immer mit dem Wind flogen. Das mochte für junge, schwache Vögel gelten, aber Wayland hatte nur mit selbstbewussten, kräftigen Falken gearbeitet, und wenn sie ihm entflogen, hatte er sie gewöhnlich in Gegenwindrichtung zu der Stelle gefunden, an der sie verschwunden waren. Und das war auch sehr gut nachvollziehbar. Ein gesunder Falke, der jagen will, fliegt gegen den Wind, um Höhe zu gewinnen. Wenn er in ausreichende Höhe aufgestiegen ist, kreist er normalerweise quer zum Wind und hält sich mit minimaler Anstrengung in der Luft.

Während des Rittes hielt Wayland nach Anzeichen für die Nähe eines Falken Ausschau. Zu Hause in England verrieten aufragende Felsen häufig, wo sich das Tier niedergelassen hatte, und manchmal zeigten lärmende Krähen oder Elstern in einem Baum an, auf dem ein Falke seine Beute fraß. Auf der flachen Steppe jedoch war kein solcher Hinweis zu sehen, nur die endlosen Weiten des Graslands, über das der Wind hinwegstrich, und gelegentlich ein Busch oder Krüppelbaum. Einmal scheuchten sie einen Hasen auf, und einmal überraschten sie eine Gazellenherde, die sofort flüchtete wie ein Wolkenschatten. Vögel sah Wayland nur wenige, und sie waren nichts Besonderes. Das langgezogene V eines späten Zugs von Kranichen nach Süden. Ein Rabe, der sie mit seinem Krächzen narren wollte.

Wayland suchte mit seinen Blicken Hunderte Quadratmeilen Himmel ab. Der Wind täuschte ihn, gaukelte ihm vor, das Glöckchen des Falken gehört zu haben. Sie ritten auf jede kleine Anhöhe, und dort schwang Wayland das Federspiel an der Leine herum und rief nach dem Tier, bis er heiser wurde. Irgendwann setzte die Dämmerung ein, und Waylands schwache Hoffnung, den Falken zu finden, verwandelte sich in die unerträgliche Gewissheit, dass er ihn niemals wiedersehen würde.

Syth ritt blass vor Erschöpfung neben ihn. «Es wird dunkel. Wir kehren besser um.»

Wayland sah über die Schulter zurück und erkannte, dass er die Orientierung verloren hatte. «Wir schaffen es ohnehin nicht mehr bis zum Fluss, bevor es dunkel ist. Wir suchen weiter, solange es noch hell genug ist, um etwas zu erkennen.»

Sie sahen kaum noch den Boden vor sich, als Wayland in einer Senke anhielt, die etwas Schutz vor dem Wind bot. Er ließ Syth zurück, um Gehölz für ein Lagerfeuer zu suchen, stieg einen sanften Abhang hinauf und erreichte den Hügelkamm. Weit weg, aber nicht weit genug, hatte ein anderer Wanderer in dieser Wildnis ein Feuer entzündet. Seine Flammen waren das einzige Licht im gesamten Universum. Wayland konnte es nicht wagen, ihre Anwesenheit durch ein eigenes Feuer zu verraten. Er legte den Armvoll Äste ab, den er gesammelt hatte, und ging zurück zu Syth.

«Es war kein Feuerholz zu finden.»

Sie aßen trockenes Gebäck und kaltes Fleisch, dann zog Wayland eine Decke über sie und nahm Syth in die Arme, um sie zu wärmen. Sie zitterte.

«Er ist weg, oder?»

«Ja. Ein für alle Mal.»

«Was machen wir jetzt?»

Wayland bebte vor Zorn. «Ich bringe Drogo um.»

Syth hielt ihn ganz fest. «Überlass diese Sache Vallon.» Sie zögerte. «Ich meinte, was passiert mit uns, wenn wir keine vier Falken abliefern?»

Diese Überlegung hatte sich Wayland nie gestattet. «Ich weiß nicht.»

Syth begann zu weinen. «Das ist nicht gerecht. Nach all der Anstrengung, nach allem, was wir durchgemacht haben … das ist nicht gerecht.»

Wayland drückte sie an sich. «Schsch.» Er küsste sie auf die Stirn. «Wir haben immer noch uns.»

Lange nachdem Syth eingeschlafen war, lag Wayland noch wach und quälte sich mit Gedanken an den verlorenen Falken, fragte sich, wo er wohl war, ob er etwas zu fressen gefunden hatte. Dann stellte er sich vor, wie der Falke in die Arktis zurückflog, über den Wolken nach Norden, von den Sternen geleitet.

Über Nacht legte sich der Wind, die Wolken verzogen sich, und in der kalten Dunkelheit blinkten die Sterne. Als Wayland aufstand, war es noch nicht hell. Er stieg auf den Hügelkamm. Im Westen brannte immer noch das Lagerfeuer. Da kehrte er zu Syth zurück und rüttelte sie sanft an der Schulter. «Wach auf. Wir müssen weg.»

Sie richtete sich in seinen Armen auf, schlaff und biegsam wie ein Kind. «Warum hast du es auf einmal so eilig?»

«Wir sind mindestens zwanzig Meilen vom Fluss entfernt. Wenn wir jetzt nicht aufbrechen, kommen wir erst am Nachmittag hin.»

Wayland orientierte sich an den Sternen. Der vor ihm liegende, langsam grau werdende Himmel zeigte an, dass sie etwa in der richtigen Richtung unterwegs waren. Dann färbte sich der Horizont blutrot, und die Sonne hob sich über die frostige Steppe, an jedem Grashalm blitzten Eiskristalle, die bei der geringsten Berührung schmolzen. Immerzu suchte Wayland mit seinen Blicken den Himmel ab, und ebenso oft sah er kurz über die Schulter.

Die Sonne war schon recht hoch gestiegen, der Fluss noch nicht in Sicht, als mit einem schrillen Schrei ein Wildvogel vor den Hufen seines Pferdes aufflog. Wayland musste darum kämpfen, das Pferd unter Kontrolle zu behalten. Der Vogel flatterte panisch empor und gab damit Hunderten anderer Vögel das Signal, es ihm gleichzutun. Sie waren größer als Birkhühner, mit längeren Schwingen, die sie pfeilschnell und mit lautem Rauschen durch die Luft trugen. Wayland sah den Schwarm davonfliegen und hob in vager Hoffnung den Blick. Wenn der Falke irgendwo in den Höhen kreiste, würde er die Vögel noch aus meilenweiter Entfernung sehen und vielleicht näher kommen. Wayland verfolgte den Flug der Wildvögel und sah, wie sie sich jenseits eines Hügelkamms wieder niederließen.

Syth ritt an seine Seite. «Was waren das für Vögel?»

«Eine Trappenart.»

Er wartete. Der Himmel blieb leer. Er schüttelte den Kopf und ritt weiter.

Sie hatten den Hügelkamm beinahe erreicht, als Wayland am Himmel einen Lichtpunkt sah, der sofort wieder verschwand. Konzentriert blickte er weiter nach oben und hatte schon beinahe aufgegeben, als sich der Lichtpunkt erneut zeigte. Ein winziges Aufflackern, etwas heller als die unendliche Bläue.

«Was siehst du da?»

Wayland stieg ab und deutete nach oben. «Da ist ein Vogel, meilenweit entfernt und sehr hoch. Er zieht Kreise, und man sieht ihn nur an einem bestimmten Punkt in seinem …» Er unterbrach sich, gebannt von dem hellen Reflex.

«Kannst du ihn auch sehen? Er fliegt auf uns zu.»

Syth starrte in den Himmel. «Glaubst, dass er es ist?»

«Es ist ein Greifvogel, aber die Chancen, dass es der Falke ist, stehen …»

Immer noch kreiste der Vogel, jede Kehre brachte ihn näher zu ihnen. Er flog vor die Sonne, Wayland blinzelte, verlor ihn aus dem Blick und konnte ihn nicht mehr entdecken.

«Er ist weg.» Enttäuscht schlug er sich auf den Oberschenkel.

Syth hob die Hand. «Dort!»

Der Vogel schwebte in schnellem Gleitflug auf sie zu. Wayland erkannte den ankerförmigen Umriss, das silbrige Gefieder. «Er ist es! Hol die Tauben. Schnell!»

Hastig band Syth den Korb los. Wayland ließ den Falken nicht aus den Augen. Er kam in großer Höhe in ihre Richtung, und Wayland stieß einen Ruf aus und fing an, das Federspiel kreisen zu lassen. Der Falke konnte es nicht einordnen und wurde weder langsamer, noch änderte er seinen Flugweg. Er glitt über sie hinweg und war schon beinahe außer Sicht, als er doch wieder eine Wende flog.

Wayland warf Syth einen ungeduldigen Blick zu. «Was machst du denn so lange?»

«Hier», sagte sie keuchend und gab ihm eine der Tauben. Wayland griff danach, ohne den Blick von dem Falken abzuwenden, der etwa eine halbe Meile westlich und ungefähr zweitausend Fuß hoch durch die Luft schwebte.

«Glaubst du, er weiß, dass wir es sind?», fragte Syth.

Wayland lachte vor Anspannung. «O ja. Das weiß er.» Mit zitternden Fingern tastete er in seiner Falknertasche herum und nahm eine leichte Schnur mit zwei Schlaufen an einem Ende heraus. «Binde das der anderen Taube ans Bein.»

«Was hast du vor?»

«Ich werfe eine Taube hoch, wenn er noch zu weit weg ist, um sie zu fangen. Damit erregen wir seine Aufmerksamkeit, und er kommt her. Und dann werfe ich die angebundene Taube hoch.»

Der Falke hielt sich nun etwa an derselben Stelle, kreiste träge, ließ sich manchmal bewegungslos von einer Brise tragen, die am Boden nicht zu spüren war. Wayland rief nach ihm, hielt die Taube hoch und ließ sie mit den Flügeln schlagen. Der Falke flog näher heran.

Wayland konnte schwer abschätzen, wie weit entfernt der Vogel noch war. Er senkte den Blick, um etwas zu finden, das er als Maßstab nehmen konnte, und atmete tief ein, bevor er wieder zum Himmel hinaufsah.

Der richtige Moment war entscheidend. Wenn er die Taube zu früh losließ, würde der Falke nicht darauf reagieren, weil er wusste, dass er sie nicht erreichen konnte. Und wenn er die Taube zu spät losließ, würde der Falke sie möglicherweise schnappen und mit seiner Beute unwiderruflich verschwinden.

Der Falke kam noch näher, hielt sich aber in derselben Höhe. Er war noch etwa eine Viertelmeile entfernt, als Wayland die Taube hochwarf. Sie flog mit kräftigem Flügelschlag geradeaus, und Wayland sah den Falken rasend schnell niederstoßen. Schon glaubte er, zu lange gewartet zu haben. Flügelrauschend zog der Falke über sie hinweg, und Wayland musste seine Augen vor dem blendenden Sonnenlicht beschirmen, um ihn im Blick behalten zu können. Eine halbe Meile entfernt schwenkte der Falke ab, stieg mit einer Kehre in den Himmel auf, und schwebte dann reglos an einer Stelle wie ein Stern, der tagsüber leuchtet.

Wayland streckte die Hand aus. «Schnell! Gib mir die andere Taube!»

«Ich versuche es ja. Ich kriege die Schlingen nicht …» Mit einem Schrei brach Syth ab. Wayland hörte ein Flattern, und als er entsetzt herumwirbelte, sah er die Taube hochfliegen. Sie war nicht angebunden. Mit einem Blick nach oben stellte er fest, dass der Falke den Köder nicht einmal bemerkt hatte.

Erschrocken sah ihn Syth an. «Sei nicht böse. Meine Hände waren kalt, und die Taube hat sich gewehrt und … Oh, Wayland, es tut mir so leid!»

Wayland war zu fassungslos, um sich zu ärgern. Verstört sah er, dass der Falke zurückflog und über ihnen schwebte, weil er nur darauf wartete, bedient zu werden. Die perfekte Position. Waylands Blick zuckte Richtung Osten.

«Wir können es immer noch schaffen!», rief er und rannte zu seinem Pferd.

«Wie?», schrie Syth.

Er sprang in den Sattel. «Die Trappen. Los, komm mit.»

Sie galoppierten zu dem Hügelkamm, über den die Trappen geflogen waren. Die Tücke dieser Wildnis aus endlosen, weiten Ebenen bestand darin, dass es keine Landmarken gab, an denen man sich orientieren konnte. Wenn man auch nur eine kurze Strecke in irgendeine Richtung zurücklegte, stellte man beim Umdrehen fest, dass die Stelle, die man sich ganz genau hatte merken wollen, unauffindbar mit der Landschaft verschmolzen war.

Wayland versuchte, beim Reiten den Falken nicht ganz aus dem Blick zu verlieren. Er schien ihm zu folgen, aber so etwas wusste man nie genau. Als sie den Hügelkamm erreicht hatten, sprang er vom Pferd und gab Syth die Zügel. «Pass auf den Falken auf. Lass ihn nicht aus den Augen. Gib Bescheid, wenn er weiter wegfliegt.»

Er musterte das Gelände, und sein Mut sank. Flache Steppe mit kniehohem Gras, so weit das Auge reichte. Beim ersten Mal war er schon mitten in dem Trappenschwarm gewesen, als die Vögel aufflogen, und wenn sein Pferd nicht beinahe auf eines der Tiere getreten wäre, dann hätte er zwischen den am Boden sitzenden Vögeln hindurchreiten können, ohne überhaupt zu bemerken, dass sie da waren.

Er watete durch das Gras. Als er die Trappen zuletzt gesehen hatte, waren sie anscheinend dabei gewesen, sich wieder niederzulassen, aber Wildvögel landeten gewöhnlich weiter weg, als man erwartete, und dann liefen sie noch ein Stück auf dem Boden, um Fressfeinde irrezuführen, die sie beobachteten. Wayland sah zum Himmel auf. Der Falke kreiste im Suchflug über ihm. Sein bedrohlicher Umriss würde die Trappen dazu bringen, wie festgeschmiedet im Gras sitzen zu bleiben. Wayland streifte weiter herum, spähte in alle Richtungen. Wenn er nur den Hund dabeihätte.

Dann begann er herumzurennen, weil er hoffte, die Trappen so aufscheuchen zu können. Zuerst lief er methodisch im Geviert, doch je länger nichts passierte, desto zufälliger und verzweifelter wurde seine Laufstrecke. Dann hörte er Syth rufen, und er sah, dass der Falke Höhe gewonnen hatte und außer Sicht zu gleiten drohte. Schluchzend vor Enttäuschung fiel Wayland auf die Knie und musterte das Gras in Augenhöhe, und der Falke über ihm war kaum noch auszumachen.

Da sah Wayland eine kurze Bewegung. Links von ihm. Er ließ seinen Blick zu der Stelle wandern. Da war es wieder – eine Trappe hob den Kopf. Er musste mitten in dem Schwarm sitzen.

Er schaute zum Himmel auf. Der Falke war nicht mehr zu sehen. Sosehr er es auch versuchte, er konnte ihn nicht mehr erkennen. Er stand auf, drehte sich zu Syth um, breitete die Arme aus und deutete dann zum Himmel hinauf. Auch sie breitete die Arme aus, um zu signalisieren, dass der Falke verschwunden war.

Enttäuscht vergrub Wayland das Gesicht in den Händen und taumelte einen Schritt nach rechts. Er trat beinahe auf eine unsichtbar im Gras kauernde Trappe. Der Vogel flog auf, und wieder erhob sich der große Schwarm mit lärmendem Flügelklatschen. Wayland sah ihn in der Ferne kleiner werden und stöhnte.

Doch da ließ ein winziges Geräusch seinen Nacken prickeln. Der Ton wurde lauter, ein langgezogenes, flehendes Seufzen, das sich in ein durchdringendes Rissgeräusch von solcher Schärfe verwandelte, dass man glauben konnte, das Himmelszelt würde zerrissen. Waylands Blick zuckte gerade noch rechtzeitig nach oben, um den weißen Falken mit einer Geschwindigkeit, die jede Entfernung auslöschte, wie einen Eiskometen niederstoßen zu sehen. Direkt über ihm breitete der Vogel die Schwingen wieder aus und stabilisierte sich in der Luft, um seinen Angriff genau auszurichten. Im einen Augenblick waren die Trappen eine Viertelmeile vor dem Falken, im nächsten jagte er schon mitten durch den Schwarm hindurch, sodass die Nachzügler panisch nach rechts und links flüchteten. Der Falke beachtete sie nicht. Er hatte seine Beute schon in dem Moment ausgewählt, in dem sie aufgeflogen war, und nichts konnte ihn davon ablenken.

Wayland war zu weit weg, um den Aufprall zu hören, mit dem der Falke auf sein Ziel traf. Die Trappe stürzte, einen Schwanz aus Innereien hinter sich herziehend, zur Erde. Der Falke schoss noch mehr als hundert Fuß weiter, bevor er wendete und niederfegte, um seine Beute endgültig zu töten.

Wayland gab Syth mit einer Geste zu verstehen, dass sie zurückbleiben sollte. Auch jetzt standen seine Chancen, den Falken wieder einzufangen, noch sehr schlecht. Wayland schätzte, dass der Beutevogel kaum mehr als zwei Pfund wog – leicht genug für den Falken, um problemlos mit ihm wegzufliegen.

Wayland rannte, bis er annahm, einigermaßen dicht an der Stelle zu sein, an der die Trappe getötet worden war. Dann schlich er behutsam weiter und formte dabei mit den Lippen unhörbare, alberne Selbstbeschwichtigungen. In dem hohen Gras sah er den Falken nicht, bis er nur noch fünfzehn Schritt von ihm entfernt war. Der Vogel rupfte seine Beute, nun aber sah er starr auf und ließ Wayland versteinern.

Eine falsche Bewegung, und der Falke wäre weg, und wenn er ihn einmal erschreckt hätte, wäre es nahezu unmöglich, erneut an ihn heranzukommen. Unendlich langsam ließ sich Wayland in die Hocke sinken und wartete ab, wobei er vorgab, seinen Blick überall hinwandern zu lassen, nur nicht zu dem Falken. Je länger das Tier auf seiner Beute sitzen blieb, desto günstiger standen Waylands Chancen. Er wartete, bis überall um den Falken die Federn seiner Beute im Gras hingen, dann legte er sich auf die Seite und schob sich unmerklich weiter vor. Der Falke rupfte der Trappe weiter die Federn aus und warf Wayland gelegentlich einen finsteren Blick zu. Wayland glaubte schon fast an das Unmögliche, als der Falke mit dem Rupfen aufhörte und etwas hinter ihm fixierte. Er drehte den Kopf und konnte es nicht glauben. Syth führte die Pferde auf ihn zu. «Zurück!», formte er unhörbar mit den Lippen. Sie sank in die Hocke und formte selbst eine lautlose Warnung, wobei sie mit einer Hand auf den Hügelkamm zeigte. Wayland gefror das Blut in den Adern. Das konnte nur eins bedeuten. Syth hatte Nomaden entdeckt, und das hieß, dass sie selbst ebenfalls gesehen worden war.

Nun war keine Zeit mehr für Vorsicht. Der Falke war mit dem Rupfen fertig und begann, mit dem Schnabel die Brust der Trappe aufzubrechen. So ruhig und gleichmäßig, wie er es nur vermochte, schob sich Wayland weiter auf ihn zu. Er war nur noch eine Armeslänge entfernt, als der Falke einen Warnruf ausstieß und sich zurücklehnte. Wayland griff nach der Trappe. Der Falke kämpfte, um mit ihr wegzufliegen, verlor sie aus den Fängen und zog sich ein paar Schritte zurück. Wayland wackelte mit der Beute. «Komm schon», flehte er.

Der Falke beäugte ihn misstrauisch. Syth schrie auf, schwenkte voller Angst die Arme.

Mit rasendem Herzen kroch Wayland vorwärts, hielt die Trappe dichter vor den Falken. Er reagierte nicht. Syth rief voller Verzweiflung erneut nach Wayland. Letzte Chance. Wayland schob die Trappe noch weiter vor. Den Blick auf Waylands Gesicht geheftet, schoss der Falke mit einer Kralle vor und packte die Beute. Dabei kam eines der Geschühriemchen in Reichweite. Wayland schloss die Finger um den Riemen, nahm ihn fest in die Hand, und stand mitsamt dem Falken und seiner Beute vom Boden auf.

Schreiend und flügelschlagend hing der Falke an seiner Faust. Syth hatte gesehen, dass er Erfolg gehabt hatte, und galoppierte auf ihn zu.

«Gib mir seinen Käfig!»

Sie drückte ihm den Käfig in die Hand, und er schob den Falken in sein Weidengefängnis. Dann schwang er sich auf sein Pferd.

«Wie viele sind es?»

«Drei.»

«Sehr nahe?»

Syth nickte heftig.

Wayland klatschte ihrem Pferd die Hand auf den Hintern und deutete nach vorn. «Ich hole dich ein.»

Er band den Käfig an seinem Sattel fest. Jammernder Protest stieg auf. Nach dieser groben Behandlung würde ihm der Falke vielleicht niemals mehr vertrauen. Wayland trieb sein Pferd zum Galopp an, der stechend kalte Wind fuhr ihm ins Gesicht. Er war weniger als eine halbe Meile weit gekommen, als die Nomaden auf der Kammlinie hinter ihm auftauchten.

Er trieb sein Pferd mit Peitschenschlägen an, um zu Syth aufzuholen. «Wie weit bis zum Fluss?», rief sie.

«Ich weiß nicht. Zu weit.» Und selbst wenn sie vor den Nomaden am Fluss wären, würden sie meilenweit vom Lager entfernt hinkommen, weil sie in weiten Bögen durch die Steppe geritten waren. Jedes Mal, wenn er über die Schulter blickte, waren die Verfolger näher gekommen. Bei dieser Geschwindigkeit hätten die Nomaden sie innerhalb der nächsten Meile eingeholt. Sie waren bessere Reiter und saßen auf schnelleren Pferden, und wenn auch nur die Hälfte der Geschichten stimmte, die man sich über ihre Künste als Bogenschützen erzählte, dann hatten Wayland und Syth keinerlei Chance, sie im Galopp abzuwehren.

«Wir müssen uns Deckung suchen.»

«Wo?»

Er sah rechts eine niedrige Erhebung, möglicherweise war es ein Grabhügel, auf dem ein wenig Gebüsch wuchs. «Dort.»

Begleitet von den schrillen Schreien ihrer Verfolger, erreichten sie den Hügel. Wayland glitt sofort aus dem Sattel und machte die Zügel seines Pferdes an einem Busch fest. Syth tat das Gleiche. Er zog den Bogen von der Schulter und nahm eine Handvoll Pfeile aus dem Köcher. Syth machte sich hastig mit ihrem eigenen Bogen zu schaffen, die Nomaden waren noch etwa eine Achtelmeile entfernt.

Wayland zog Syth herunter. «Flach hinlegen.»

Die Nomaden schwärmten aus, einer nach links, einer nach rechts, und der dritte griff direkt an. Zwei waren noch jung, ungefähr in Waylands Alter oder ein wenig älter. Der dritte war fast noch ein Kind. Ihre Bögen, die doppelt geschwungen und mindestens zwei Fuß kürzer waren als Waylands eigene Waffe, eigneten sich besonders gut zur Benutzung auf dem Pferderücken. Wayland ging schwer atmend ein Stück hinter seinem Pferd in die Hocke. Der Angreifer, der von vorn kam, hielt Bogen und Zügel in einer Hand, den Pfeil locker mit dem Daumen eingeklemmt. Wayland achtete nicht auf die anderen beiden Nomaden und spannte seinen Bogen. Sein Ziel kam näher, und nun sah er die Augen des Nomaden, seine vom Wind geröteten Wangen. Er zielte auf den Bauch.

Der Nomade ließ die Zügel fahren und spannte den Bogen über dem Kopf. Dann senkte er ihn, und ließ den Pfeil in einem Augenblick abschnellen, in dem sein galoppierendes Pferd mit allen vier Hufen in der Luft war. Wayland schoss in beinahe demselben Moment. Er hörte einen Pfeil schwirren und treffen, und sein Pferd schrie und buckelte. Wayland dachte, er selbst hätte sein Ziel verfehlt, aber dann schlingerte der Nomade auf dem Pferderücken und griff sich an den Bogenarm. Der nächste Pfeil fuhr an Waylands Kopf vorbei, und er sah den Reiter auf der linken Seite schon den nächsten Pfeil in die Sehne spannen.

«Ich habe ihn getroffen», sagte er. «Der Pfeil muss seinen Arm glatt durchschossen haben.»

Der verwundete Nomade zog sich außer Schussweite zurück. Seine Begleiter ritten zu ihm, und sie steckten die Köpfe zusammen.

«Was werden sie jetzt machen?»

Wayland wischte sich über den Mund. «Sie haben uns festgenagelt. Das nächste Mal werden sie überlegter angreifen.»

Die Nomaden trennten sich, der Verletzte ritt nach Westen davon.

«Er holt Verstärkung», sagte Wayland.

Die beiden übrigen Nomaden hielten sich außer Schussweite. Das verwundete Pferd hatte aufgehört sich aufzubäumen und bot einen elenden Anblick. Ein Widerhaken steckte in seiner Hinterbacke.

Wayland sah zur Sonne hinauf. Die Mittagszeit war vorüber. Bis die Verstärkung ankam, wäre der Tag wohl schon weit fortgeschritten, aber auch die Dunkelheit würde ihnen kaum eine Atempause verschaffen. Flach wie ein Lineal lag die Steppe vor ihnen.

Ihre fatale Lage war auch Syth bewusst. «Wir können hier nicht bloß abwarten.»

«Doch, genau das müssen wir. Geduld ist möglicherweise unsere wirksamste Waffe.»

Sie lagen im Gebüsch, und die Sonne wanderte über den Himmel. Wayland erklärte, dass manche Nomaden zwar unglaublich gute Bogenschützen sein mochten, die imstande waren, eine Gans im Flug zu schießen, doch er selbst hatte seine Fertigkeiten unter viel härteren Bedingungen erlernt, als ihre beiden Belagerer sie je gekannt hatten. Sie hatten spielerisch und bei einem gelegentlichen Gefecht geübt, während sein tägliches Überleben von seinem Bogen abhing.

Das Nichtstun widersprach den eingefleischten Gewohnheiten der Nomaden. Sie hatten zwei Gegner vor sich, einer davon noch dazu eine Frau, und vielleicht träumten sie schon von der Bewunderung ihrer Gefährten, als sie sich zum Angriff entschlossen. Sie machten Ausfälle, schossen aus großer Entfernung, dann zogen sie sich wieder zurück. Das verwundete Pferd wurde noch einmal getroffen und lag nun kehlig atmend auf der Seite. Wayland ging dahinter in Deckung und ließ einige Pfeile ein gutes Stück vor den Angreifern in den Boden fahren. Syth kroch auf dem Bauch neben ihn.

«Was ist los? Ich habe dich schon schwierigere Ziele treffen sehen, die noch dazu weiter entfernt waren.»

«Bevor ich nicht sicher bin, dass ich einen töten kann, sollen sie denken, ich wäre kein ernstzunehmender Gegner. Sie sollen immer selbstbewusster werden und sich näher heranwagen. Bis dahin können sie ihre Pfeile vergeuden.»

Die Nomaden blieben in einiger Entfernung, ritten zum Schuss nur bis auf etwa zweihundert Schritt heran. Wayland wartete ab. Die Gegner hatten keine Schwerter, und er glaubte nicht, dass sie es auf einen Nahkampf ankommen lassen würden.

Ein Pfeil grub sich nur wenige Zoll vor Syths Gesicht in die Erde. «Wayland, wenn wir nicht bald etwas unternehmen, bekommen wir es mit der ganzen Horde zu tun.»

Er überprüfte noch einmal den Stand der Sonne. Wie schnell sie um diese Jahreszeit zum Horizont wanderte. Er vermutete, dass die Nomaden ihre Köcher inzwischen halb geleert haben mussten. Er selbst hatte noch achtzehn Pfeile übrig, und Syths Köcher war noch ganz gefüllt. Er suchte den Westen nach Reitern ab. Sie konnten nicht mehr weit sein.

Dann stand er auf und hielt seinen Bogen über den Kopf. Die Nomaden starrten ihn verwundert an. Er ahmte einen Bogenschuss nach, schlug sich auf die Brust, und deutete dann auf seine Angreifer.

Syth zog an seinem Bein. «Was machst du da?»

«Ich fordere sie zu einem Wettschießen heraus.»

«Und wenn sie dich töten?»

«Das werden sie nicht. Einer ist ein halbes Kind, das seinen Bogenarm erst noch entwickeln muss. Der andere ist ein durchschnittlicher Schütze, nur weiß er das selbst nicht. Er muss meinen Bogen im Vergleich zu seinem für eine ziemlich plumpe Waffe halten.»

Er ging mit langsamen Schritten auf die beiden Nomaden zu. Die Sonne warf seinen Schatten in ihre Richtung. Der Jüngere stieß einen Schrei aus und richtete sein Pferd für einen Angriff aus. Doch sein Gefährte rief ihn zurück. Sie beobachteten, wie Wayland näher kam. Als er noch etwa dreihundert Schritt entfernt war, blieb er stehen, breitete die Arme aus und lud die beiden so zum Schießen ein.

Der ältere Nomade nahm die Herausforderung an und schien sofort die Regeln zu verstehen. Er stieg vom Pferd und ließ seinen Begleiter die Zügel halten. Er verkürzte die Entfernung um noch etwa fünfzig Schritt, spannte seinen Bogen und schoss, anscheinend ohne zu zielen. Sein Pfeil flog niedrig und bohrte sich vierzig Schritt vor Wayland in den Boden. Der Nomade griff nach einem weiteren Pfeil, um noch einmal zu schießen, doch Wayland hob die Hand und deutete dann auf sich selbst. Ich bin dran.

Er schätzte das Zuggewicht des gegnerischen Bogens auf weniger als fünfzig Pfund, die Hälfte dessen, was seine eigene Waffe erforderte. Er wählte seinen leichtesten Pfeil aus, um die größtmögliche Reichweite zu erzielen. Es war windstill, also konnte er weiter als dreihundert Schritt schießen. Er hatte die Sonne im Rücken, und er schoss den Pfeil hoch in die Luft, sah den Nomaden den Kopf zurücklegen, um dem Flug zu folgen. Der Pfeil ging nicht weit hinter ihm nieder. «Das musst du erst mal besser machen», sagte Wayland. Er machte noch zehn Schritte in Richtung seines Gegners und breitete erneut die Arme aus.

Wieder flog der Pfeil des Nomaden zu kurz. Wayland blieb an derselben Stelle stehen, und sein nächster Pfeil grub sich knapp vor den Füßen seines Gegenübers in die Erde. Der Junge rief seinem Begleiter zu, er solle den Wettstreit abbrechen, und deutete nach Westen, um ihn daran zu erinnern, dass bald Verstärkung da sein würde.

Doch der ältere Nomade winkte nur ab. Er blies die Backen auf und griff nach dem nächsten Pfeil, entschlossen, das tödliche Spiel bis zum Ende durchzuhalten.

Noch zweimal schossen sie, die Entfernung zwischen ihnen betrug nun unter zweihundert Schritt. Als der Nomade zum fünften Mal den Bogen spannte, schrie Syth:

«Sie kommen!»

Wayland sah kurz über die Schulter. Etwa zwei Meilen entfernt waren vier schwarze Umrisse zu erkennen. Sein Gegner schoss, und sein Pfeil zog beinahe einen Scheitel durch Waylands Haar.

Der Junge stieß einen Ruf aus und deutete auf die Reiter. Sein Gefährte – Bruder, Cousin – schaute zu der anrückenden Verstärkung hinüber, dann drehte er sich wieder um und breitete in Erwartung des letzten Pfeils die Arme aus. Wayland legte seinen schwersten Pfeil ein und schätzte Entfernung und Wind ab – gute hundertachtzig Schritt und ein Hauch von Seitenwind. Er lehnte sich leicht vor und wieder zurück, richtete seine Gedanken konzentriert auf das Ziel aus, lehnte sich von dem Bogen weg, bis er beinahe in Sitzhaltung war und die Pfeilnock bis zu seinem Ohr zurückgezogen hatte, während die Spitze des Pfeils zum Himmel zeigte. Er hielt den Pfeil einen Moment lang so, bevor er ihn abschoss. In dem Augenblick, in dem er ihn abschnellen ließ, wusste er, dass er niemals einen genauer gezielten Pfeilschuss abgegeben hatte. Er beobachtete, wie der Pfeil zum Himmel hinaufjagte und sich dann mit einer Kurve wieder senkte. Von der Sonne geblendet, spähte der Nomade aufwärts. Er sah den Pfeil nicht kommen. Und dann fiel er um wie mit der Axt erschlagen, die lebenswichtigen Organe von der Schulter bis zur Taille durchstochen. Sein Begleiter schrie auf und ritt zu ihm, und Wayland rannte näher, um noch einen tödlichen Pfeil loszuschicken. Wenn es ihm gelang, sich eines der Pferde zu greifen, konnten Syth und er es noch vor den Nomaden an den Fluss schaffen.

Der Junge erriet seine Absicht, schwenkte ab und zog das Pferd des Toten am Zügel hinter sich her. Wayland rannte zu Syth zurück, band ihr überlebendes Pferd los, stieg auf und zog Syth hinter sich hinauf. Die Verstärkung war nur noch eine gute Meile hinter ihnen, nahe genug, dass sie ihr wildes Geheul über die Steppe klingen hörten.

Wayland trieb das Pferd zum Galopp an, doch mit so viel Gewicht auf dem Rücken fiel das Tier bald in einen angestrengten Trab. Der junge Nomade hielt sich seitlich von ihnen, jedoch außerhalb der Schussweite. Er hatte ohnehin keine Hand frei, weil er die Zügel des zweiten Pferdes halten musste, und begnügte sich damit, Drohungen zu brüllen. Wayland vermutete, dass er ihm einen langsamen und grausamen Tod versprach, sobald seine Leute sie eingeholt hätten.

Und das würden sie. Sie gewannen zusehends an Boden. Wayland klopfte Syth auf den Oberschenkel. «Du nimmst das Pferd, und ich versuche sie aufzuhalten.»

Sie schlug ihm auf die Schulter. «Das kannst du nicht!»

Sie hatte recht. «Dann ergib dich», sagte er. «Sie werden dich nicht töten.»

«Ich soll dich verlassen?»

Wayland zog heftig an den Zügeln, um das Pferd zum Stehen zu bringen. «Ja. Steig ab. Heb die Hände, und sie lassen Gnade walten.»

«Niemals!» Sie schlug nach ihm. «Wenn du stirbst, dann sterben wir alle beide.»

Sie hatten keine Zeit mehr zum Streiten. Die Nomaden waren so nahe, dass Wayland die Hufschläge ihrer Pferde hören konnte. Er ritt auf einen Erhebung, und plötzlich hatte er den Fluss vor sich, aber auch einen weiteren Trupp Reiter.

«Noch mehr von ihnen!», rief Syth.

«Nein, das ist Vallon!»

Sieben Reiter preschten im kurzen Galopp nebeneinander auf sie zu. Wayland schrie und peitschte auf sein strauchelndes Pferd ein. Seine verzweifelte Anstrengung trieb die entgegenkommenden Reiter zu mehr Schnelligkeit an. Sie begannen zu galoppieren und waren von den Flüchtenden gleich weit entfernt wie die Nomaden, als sie über den Hügelkamm ritten. Vallon zog sein Schwert, und seine Truppe stürmte vor. Neun gegen fünf, einer davon noch ein sehr junges Bürschchen, das gerade gesehen hatte, wie zwei seiner Gefährten von einem fremden Bogenschützen besiegt worden waren. Die Nomaden zogen sich in sichere Entfernung zurück, und die Retter kamen bei Wayland und Syth an.

Vallon hielt sein Pferd an und schüttelte den Kopf. «Ihr zwei lasst es wirklich drauf ankommen. Die Falken zu verlieren ist schon schlimm genug, aber wenn wir euch auch noch verloren hätten …»

«Wir haben den Falken eingefangen!», rief Syth.

Wayland strich über den Weidenkorb. «Hier ist er.»

Vallon starrte sie an. «Das müsst ihr uns erzählen, sobald wir im Lager sind.» Er warf einen prüfenden Blick zu den Nomaden hinüber. «Stellen sie eine Gefahr dar?»

«Es sind gute Bogenschützen», sagte Wayland, «aber keine Soldaten. Sie haben keine Schwerter. Ich glaube, eigentlich sind sie Hirten.»

Vallon nickte. «Geordneter Rückzug», rief er. «Kein Vorstoß, solange sie nicht selbst angreifen.»

Die Nomaden beschatteten sie den gesamten Weg bis zum Lager. Die Sonne war untergegangen, der Himmel war in leuchtendes Kobaltblau getaucht und von diffusen Wolkenbändern durchzogen. Vallon ritt zwischen den verängstigten Russen hindurch, die zum Wachdienst bestellt worden waren, und hob den Zeigefinger. «Drogo.»

Der Normanne gab sich lässig, schlenderte langsam auf Vallon zu. Fulk neben ihm hatte die Hand am Schwertknauf.

Vallon sah vom Pferd auf ihn hinunter. «Wayland behauptet, du hast die Falken freigelassen.»

«Er ist ein Lügner. Ist dir das Wort eines Bauern mehr wert als meins?»

«In Waylands Fall, ja. Du hast geschworen, unser Vorhaben nicht zu gefährden.»

«Das habe ich auch nicht. Beweise mir das Gegenteil.»

«Du bist der Einzige, der ein Motiv dafür hat, die Falken freizulassen. Ohne sie können wir deinen Bruder nicht auslösen.» Er hob das Kinn. «Wayland, wiederhole deine Anklage. Und Drogo, ich werde nicht urteilen. Ich lasse eine Jury entscheiden.»

Drogo spuckte aus. «Männer, die sich aushalten lassen.»

Vallon beugte sich zu ihm hinunter. «Und was bist du?»

Drogo verzog den Mund und knurrte: «Wenn du so sicher bist, dass Waylands Anschuldigung richtig ist, warum beweist du sie dann nicht im Zweikampf?»

«Du hast die Falken wie ein Dieb in der Nacht freigelassen. Ich werde einen solchen Verrat nicht mit einem Gottesurteil adeln.»

«Weil du weißt, dass ich dich besiegen würde.»

Vallon sah Wayland an. «Wiederhole deine Anklage.»

Drogo ging auf Wayland zu. «Sei lieber vorsichtig, bevor du mit haltlosen Beschuldigungen um dich wirfst. Denk erst mal über deine eigenen Interessen nach, bevor du meinen schadest.»

Vallon hob die Hand. «Wayland, mach den Mund auf.»

Alle hatten sich um sie geschart, um die Untersuchung mitzuverfolgen. Wayland sah sich mit gehetztem Blick um. «Ich kann nicht sicher sein, dass es Drogo war.»

Vallon fuhr erstaunt herum. «Als du den Verlust entdeckt hast, hattest du noch keine Zweifel.»

«Ich war sehr aufgeregt. Ich habe ohne Beweis Behauptungen aufgestellt.»

Vallon stieg vom Pferd. «Und was sagst du damit? Dass der Verlust deiner eigenen Nachlässigkeit zuzuschreiben ist.»

«Ich war müde, als ich die Falkenkäfige für die Nacht abgedeckt habe.»

Vallons Augen verengte sich zu Schlitzen. «Wayland, ich habe dich schon krank und vollkommen erschöpft erlebt, aber um die Falken hast du dich immer gekümmert.»

«Vielleicht hat Syth vergessen, die Käfige zu versperren.»

Sie riss die Augen auf. «Wayland!»

Vallon trat dicht vor ihn. «Jetzt schiebst du die Schuld also deiner gewissenhaften Helferin zu.» Er stieß Wayland so hart vor die Brust, dass er einen Schritt zurücktaumelte. «Du solltest dich schämen.» Mit ärgerlich hochgerecktem Kinn wandte er sich ab. «Drogo, wenn noch einmal ein Falke unter verdächtigen Umständen verschwindet oder stirbt, warte ich nicht, bis dich ein anderer verdächtigt. Ich mache dich verantwortlich, und ich sage dir auch gleich, wie mein Urteil lauten wird. Ich werde mit dir das Gleiche machen wie du mit den Falken. Ich werde dich und Fulk ausstoßen, damit ihr euer Glück in der Wildnis versuchen könnt.»

Mit einem zornigen Blick auf Wayland ging er davon.

Syths Finger krallten sich in Waylands Arm. «Wie konntest du nur? Du weißt, dass ich es nicht war.»

«Es tut mir leid.»

«Aber? Warum?»

Wayland stöhnte. «Ich musste meine Anschuldigung zurücknehmen. Drogo weiß etwas, das meine eigene Stellung gefährden könnte.»

«Was denn?»

«Das kann ich dir nicht sagen.»

«Aber du hast versprochen, mir alles zu erzählen.»

«Und das habe ich auch. Alles, bis auf das.» Er machte ein paar Schritte vorwärts. «Syth, komm zurück. Bitte, hör mir zu.»

Aber sie war fortgelaufen, und es war dunkel geworden. Das Glöckchen des weißen Falken war aus dem Käfig heraus zu hören, und draußen in der Steppe stimmten die Nomaden die Totenklage an für ihren verlorenen Gefährten.

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