XIV

Es folgten Tage der Arbeit und des Abwartens. Am dritten Abend blieb Raul bis zum Dunkelwerden an der Küste, doch Snorri tauchte nicht auf. Und auch am nächsten Tag nicht. Diese Nacht, die sie in ratloser Ungewissheit verbrachten, war der Tiefpunkt ihres Aufenthalts auf der Insel. Wayland war froh, dass er am nächsten Morgen Wache hatte und von der Insel kam. Der Wind hatte aufgefrischt und auf West gedreht, er fuhr raschelnd durchs Schilf und trieb Regenwolken über das weite Mündungsgebiet des Wash. Die Wolken wurden immer dichter, und der schimmernde Lichtstreifen am Horizont verblasste, bis das Meer und der Himmel in trübem Grau miteinander verschmolzen.

Dann wurde der Hund mit einem Ruck aufmerksam, setzte sich auf und starrte über den Fluss. Wayland rief das Tier in die Deckung zurück und legte einen Pfeil ein. Kurz darauf erschien Snorri am anderen Ufer und spähte herüber. Er trug neue Kleidung und hatte sich Haar und Bart scheren lassen. Als er den Eindruck hatte, dass niemand in der Nähe war, ging er ins Schilf zurück und kam mit zwei schwer beladenen Maultieren wieder heraus.

Wayland trat vor. «Wir haben gedacht, du hättest uns im Stich gelassen.»

«Gnade!», rief Snorri und schlug sich die Hand auf die Brust. «Mir ist fast das Herz stehengeblieben.»

Wayland setzte mit dem Stechkahn über. «Warum hast du so lange gebraucht?»

«Ich war von früh bis spät auf den Beinen, hier etwas bestellt, dort nachgefragt. Es hat allein vier Tage gedauert, bis das Holz geschliffen und die Eisenteile geschmiedet waren. In ganz Norwich gab es nicht genügend Wolle für das Segel. Ich musste aus Yarmouth noch ein paar Ellen kommen lassen.» Snorri schlug auf einen dicken Sattelkorb. «Das hier ist noch nicht mal ein Zehntel der Ladung. Ich musste zwei Karren mieten, um alles zu transportieren.» Er deutete hinter sich. «Sie sind dahinten.»

«Suchen die Normannen noch nach uns?»

Snorri kicherte. «Sagen wir es mal so. Ich wäre jetzt zehn Pfund reicher, wenn ich euch verraten hätte.»

«Warum hast du es dann nicht gemacht?»

«Sieh mich nicht so an, Meister Wayland. Snorris Wort ist so gut wie ein Pfandbrief.»

Unter dem Einsatz aller Männer, Maultiere und Boote dauerte es den gesamten restlichen Tag, alles ins Lager zu bringen. Vallon und Snorri gingen die Sachen Stück für Stück durch – Holzplanken, Segeltuch, Tauwerk, Nieten, Tongeschirr, Nägel, Rohleder, Felle, Pech, Talg, Kohle, Leinöl, Terpentin, Schmalz, Rosshaar, Leim, Dechseln, Ahlen, Bohrer, ein Amboss, ein Blasebalg, Zangen, Hämmer, Hobel, Sägen, Kessel, Zuber, Fässer, Nadeln, Garn, Säcke …

Im Anschluss besprachen die beiden den Arbeitsablauf. «Wer passt die neuen Planken ein?», fragte Vallon.

«Das ist geregelt. Morgen kommt ein Zimmermann her.»

«Wir brauchen noch mehr Leute. Es ist Kräfteverschwendung, dass Raul und Wayland Wache stehen müssen.»

Snorri warf einen Blick zu den Leuten aus dem Marschland hinüber. «Ich rede mit ihnen.»

Am nächsten Morgen brachten die vier Marschbewohner, die in dem Wasserlauf gruben, zwei weitere Männer mit. Der Zimmermann war ein hochaufgeschossener, schlaksiger Kerl mit dem sanftmütigen Gesichtsausdruck eines Heiligen. Der Späher war ein kleiner, krummbeiniger Mann mit tiefliegenden Augen. «Er ist Vogelfänger», erläuterte Snorri. «Kennt die Marschen genauso gut wie ich. An dem kann sich keiner vorbeischleichen.»

Snorri und der Zimmermann machten sich mit den Dechseln an die Arbeit. Sie bearbeiteten die Bretter so, dass sie in das Loch zwischen den Schiffsplanken eingefügt werden konnten. Die Planken waren nicht gleichbleibend dick, zwei Zoll an der Wasserlinie, und bis zum Dollbord verjüngten sie sich auf den halben Durchmesser. Raul sah den beiden zu und zuckte dabei einige Male merklich zusammen, bis Snorri ihm seine Dechsel zuwarf. «Versuch’s doch selbst, wenn du glaubst, du kannst es besser.»

Raul nahm die Dechsel. «Aus dem Weg, du hässlicher Heide.» Er stellte sich über eine Planke, machte eine paar Probeschwünge mit der Dechsel und begann dann so sauber Späne abzuschlagen, als hätte er einen Hobel in der Hand.

«Das machst du nich zum ersten Mal.»

Raul spuckte aus. «Ich hab schon fast alles gemacht. Und manches sogar zweimal. Und dreimal nachts mit deiner Schwester.»

Um die Bretter der Krümmung der Querträger anzupassen, mussten sie in einer Holzkammer in Dampf erhitzt werden, bis sie sich biegen ließen. Heros Aufgabe dabei war, das Feuer unter dem Kessel in Gang zu halten, aus dem der Wasserdampf aufstieg. Nachdem sie die Bretter passend für das Loch zurechtgesägt hatten, schrägten die Zimmerleute die Enden ab, damit diese genau mit den vorhandenen Planken zusammengefügt werden konnten. Als die Plankenenden bündig abschlossen, verbanden sie die Hölzer mit Nieten und Metallplatten, die zuvor über einem Kohlefeuer rotglühend erhitzt und mit einer Mischung aus Teer, Leinöl und Terpentin überzogen worden waren. Richard kümmerte sich um den Kessel, in dem die Mischung siedete, und hatte außerdem die Aufgabe, die Planken mit dem Wasserschutz zu bestreichen.

Wayland nähte die Webstücke zu einem Segel zusammen. Jedes Webstück maß etwa sechs mal fünf Fuß, und dreißig davon ergaben ein Segel. Es dauerte nicht lange, bis er von der Nadel Blasen an den Fingern hatte.

Als es dämmerte, überprüfte Vallon, welche Fortschritte sie an diesem Tag gemacht hatten. Erst ein Plankengang war instand gesetzt. Hero hatte das Feuer ausgehen lassen, und Richard hatte die Teermischung für die Metallteile nicht nur einmal, sondern gleich zweimal in Brand gesetzt. Und Wayland hatte erst vier Webstücke zusammengenäht, obgleich seine Finger brannten wie Feuer.

«Ihr könnt nicht erwarten, dass alles gleich am ersten Tag klappt», sagte Snorri. «Morgen bringen die Marschenleute ein paar Näherinnen mit.»

Drei tauchten auf – zwei Frauen mittleren Alters und ein Mädchen mit Silberblick und der Figur einer Fruchtbarkeitsgöttin. Während sie arbeitete, sah das Mädchen immer wieder verstohlen zu Wayland hinüber und dehnte sich aufreizend.

Als Raul vorbeikam, bemerkte er die schamlosen Interessenbekundungen des Mädchens. Er grinste. «Soll ich Wache schieben, solange ihr zwei euch ein bisschen näher kennenlernt?»

Wayland errötete.

«Du hattest noch nie ein Mädchen, stimmt’s?»

Wayland hielt den Kopf gesenkt und nähte weiter.

«Und betrunken hab ich dich auch noch nie gesehen. Oder fluchen hören. Du bist der reinste Mönch.»

«Es gibt Schlimmeres.»

Raul ging neben Wayland in die Hocke. «Ich sag dir, was mit den Mönchen nicht stimmt. Jeden Tag ihres Lebens meiden sie die Schänken und Hurenhäuser, und dann, ohne je richtig gelebt zu haben, sterben sie, damit es in Ewigkeit genauso langweilig weitergeht. Was daran ist so verlockend?»

«Raul», rief Vallon. «Mach dich wieder an die Arbeit.»

Raul zwinkerte Wayland zu. «Lebe heute, das ist mein Motto. Weil es nämlich sein kann, dass dich morgen schon der Tod ins Ohr zwickt und zu dir sagt: ‹Komm, mein Jungchen. Zeit zu gehen.›»

An diesem Tag stellten sie zwei weitere Plankengänge fertig und nähten zehn Webstücke zusammen. Nach drei weiteren Tagen war der Schiffsrumpf repariert. Das Ruder lag bereit und musste nur noch eingehängt werden, das Segel war nahezu fertig, und die Marschenleute hatten den Wasserlauf vertieft.

Nach einer Woche saßen sie beim Essen um ein Lagerfeuer aus Treibholz, aus dem Flammen in allen Regenbogenfarben aufloderten. Raul spann höchst zweifelhaftes Seemannsgarn über Schlachten in fremden Ländern. Snorri erzählte noch einmal die Saga von seinem getöteten Befehlshaber, Harald Hardrade, dem «Donnerkeil aus dem Norden», der während seiner Verbannung aus Norwegen zuerst für die Russen und anschließend für die Byzantiner gekämpft hatte, um dann nach Norwegen zurückzukehren und seinen Anspruch auf den Thron durchzusetzen, und der mit einem Pfeil im Bauch auf dem Schlachtfeld von Stamford Bridge gestorben war.

Als Snorri geendet hatte, legte sich friedliches Schweigen über die Runde. Das Feuer knackte, und der fleckige Mond stand hoch über ihnen.

«Hero», sagte Vallon, «warum erzählst du uns nicht die Geschichte vom Priesterkönig Johannes und seinem sagenhaften Reich?»

Alle sahen erwartungsvoll auf.

«Ihr macht Euch über mich lustig», brummte Hero.

«Los», drängte Richard. «Bitte erzähl sie uns.»

Hero zuckte mit den Schultern und begann scheinbar gleichgültig zu sprechen. «Priester Johannes ist der Herrscher und Hohepriester eines Reiches, das an den Paradiesgarten angrenzt, in dem Adam erschaffen wurde. Mehr als siebzig Könige zahlen ihm Tribut. Wenn er in den Krieg zieht, reitet er auf einem Elefanten und trägt ein goldenes Kreuz von zwanzig Fuß Höhe. Zu seinen Untertanen gehört eine Königin, die über hunderttausend Frauen befielt, die so tapfer kämpfen wie Männer. Diese Kriegerinnen werden Amazonen genannt, weil sie sich die rechte Brust abgenommen haben, um den Bogen leichter spannen zu können. Einmal im Jahr erlauben sie den Männern aus dem Nachbarland einen Besuch, um ihre Lust zu befriedigen. Wenn ein Mann die zugestandene Zeit für seinen Besuch überschreitet, wird er getötet.»

Hero blickte auf. Die anderen sahen ihn mit offenen Mündern an.

«Die Reichtümer», sagte Vallon. «Vergiss die Reichtümer nicht.»

Hero lächelte. «Priester Johannes lebt in einem Palast mit einem Dach aus Elfenbein und kristallenen Fenstern. Über den Giebeln hängen Goldäpfel, in die Karfunkelsteine eingesetzt sind, sodass das Gold bei Tag und die Karfunkelsteine bei Nacht leuchten. Er speist an einem Tisch aus Smaragd, der auf Beinen aus Elfenbein ruht, und er schläft in einem Bett aus Saphir. Die Edelsteine stammen aus einem Fluss, der von sieben Tagen nur drei Tage fließt. Und die Juwelen sind so groß und kommen in solchen Mengen vor, dass auch die einfachen Leute von Tellern essen, die aus Topas und Beryll geschnitten wurden. Priester Johannes heißt alle Fremden und Pilger willkommen und überhäuft sie mit Schätzen, bevor sie weiterziehen.»

Raul ließ sich auf den Rücken fallen und trommelte mit den Fersen auf den Boden.

«Das einzige Problem dabei ist», sagte Vallon, «dass niemand den Weg zu diesem Königreich kennt.»

Raul rollte sich hoch und schlug Wayland aufs Bein. «Wie wär’s, wenn du und ich es suchen gehen?»

Wayland schüttelte den Kopf und sah lächelnd ins Feuer. Auch wenn er sich im Hintergrund hielt und wenig sprach, fühlte er sich nicht ausgeschlossen. Und mit der Zeit hatte er ein bisher ungekanntes Gefühl entwickelt – das Gefühl der Zugehörigkeit.

Am nächsten Morgen rieb er gerade Talg ins Segeltuch, um es winddicht zu machen, als der Hund die Ohren aufstellte und zum Wasser lief. Wayland folgte ihm und lauschte auf ungewöhnliche Geräusche. Gleich darauf stakte der Vogler heran.

Wayland begriff, dass sie entdeckt worden waren. «Soldaten?»

«Ja. Acht. Sie kommen mit dem Boot aus Richtung Lynn.»

Die anderen kamen hinzu, und Wayland erklärte, was los war.

«Das sehen wir uns am besten einmal genau an», sagte Vallon. «Wayland, du gehst mit dem Vogler. Raul, hol deine Armbrust.»

Der Vogler führte sie bis dicht ans offene Meer und hob die Hand. Wayland vernahm schwache Stimmen. Er gab Vallon und Raul ein Zeichen. Zu dritt stiegen sie aus dem Boot und wateten durchs Schilf, wobei sie einen Bogen um die Stimmen schlugen. Vallon und Raul bewegten sich zu schwerfällig. Wayland bedeutete ihnen stehen zu bleiben und schlich geduckt alleine weiter.

Vorsichtig teilte er mit den Händen das Schilf. Das Schiff ankerte vor der Mündung des Wasserlaufs. Drei Soldaten waren mit der Besatzung an Bord geblieben. Vier standen bei Snorris Hütte. Und ein fünfter musterte das Marschland und versuchte sich zu orientieren, während ihm ein stämmiger, bärtiger Mann eine Richtung anzeigte und ihm offenbar den Weg erklärte.

Wayland zog sich wieder zurück. «Sie wissen, dass wir hier sind. Sie werden von dem Mann geführt, der Hero und Richard hergebracht hat.»

Vallon nahm seinen Nasenrücken zwischen Daumen und Zeigefinger. «Das Schiff ist bisher nur ein Gerücht. Wayland hat es vor … wann war das? … neun oder zehn Tagen entdeckt. Seitdem hat uns niemand hier gesehen. Sie können nicht sicher sein, dass wir in den Marschen sind.» Raul schniefte und spuckte aus. «Bei allem Respekt, Hauptmann, Euer Arsch erregt ganz schön viel Aufmerksamkeit. Morgen rücken sie hier mit einer Armee an.»

Vallon tauchte eine Hand ins Wasser. «Wann ist der Höchststand der Flut?»

«Kurz vor Mitternacht», sagte Wayland.

«Bis dahin haben wir das Schiff nicht fertig. Also müssen wir es bei der nächsten Flut versuchen. Wayland, du bleibst als Wache hier. Wenn es dunkel wird, erstattest du uns Bericht.»

«Sie könnten einen Boten über Land zurückschicken und über Nacht hier warten», sagte Raul. «Wenn sie das tun, müssen wir uns unseren Weg aufs Meer freikämpfen.»

Vallon fuhr sich durchs Haar. Er warf einen Blick auf den Ring, dann hielt er Wayland und Raul den Stein hin. Die Zukunft sah düster aus.

Eine gute Weile, bevor es dunkel wurde, kehrten die Soldaten auf das Schiff zurück und ruderten vom Ufer weg. Als die Ruder auf dem schwarzen Wasser nur noch ein dunkler Pulsschlag waren, zog die Mannschaft das Segel auf, und das Schiff steuerte nach Süden. Wayland eilte zur Insel zurück.

Dort erwartete ihn hektische Betriebsamkeit. Sie hatten die Shearwater in dem Wasserlauf aufgerichtet. Ohne Ballast lag sie eher auf dem Wasser als darin, und sie wies eine bedenkliche Schlagseite auf. Snorri und der Zimmermann richteten das Ruder ein. Sie hatten den Mast an Bord gehievt und zum Aufrichten bereit gemacht. Seine Spitze ragte schräg aus dem Laderaum heraus. Raul und einer der Männer aus den Marschen banden Maultiere an Taue, die mit dem Vordersteven verbunden waren. Die Übrigen schleppten die Ladung aufs Schiff.

«Sie sind weg!», rief Wayland.

Vallon lachte heiser auf. «Vollmond und Springflut. Heute ist die Nacht der Nächte.»

«Braucht Ihr mich hier?»

«Nein. Du hältst besser weiter Wache, damit du uns warnen kannst, falls sie kommen.»

Wayland kehrte zur Küste zurück. Langsam wurde der Himmel nachtschwarz. Es war sehr still. Die Zeit verstrich. Wayland lauschte auf das Wellengeräusch des Meeres, das wie Atemzüge klang. Er schloss die Augen, und im Traum erschien ihm seine Schwester. Als er die Augen wieder öffnete, war sie immer noch da, bleich wie der Tod, in der Dunkelheit auf der anderen Seite des Flusses.

«Syth?»

Die Erscheinung verschwand. Wayland bekreuzigte sich. Er hatte kein menschliches Wesen gesehen, sondern einen Sumpfgeist oder ein Irrlicht.

In den frühen Morgenstunden zog Nebel auf. Als es hell wurde, konnte man keinen Pfeilschuss weit über das glatte Meer sehen. Am Vormittag lichtete sich die graue Nebeldecke manchmal ein wenig, und ein schwacher Schimmer zeigte an, wo die Sonne stand. Dann wurde ein neuer Schleier herangetrieben, und alles sank in trübes Halbdunkel zurück. Der Nebel trug sämtliche Geräusche sehr weit. Wayland hörte flussauf frustrierte Rufe. Er überprüfte den Wasserstand, und in seinem Magen bildete sich ein Knoten.

Als er ein Boot nahen hörte, sprang er auf. Raul tauchte aus dem klammen Nebel auf, Bart und Haar schlammverklebt. Er grinste Wayland an.

«Weißt du eigentlich, was du für ein Glück hast? Während du dir hier in aller Ruhe einen runterholst, schuften wir uns im Matsch den Arsch ab.»

«Bekommt ihr das Schiff nicht frei?»

Raul spuckte aus. «Hatten es um Mitternacht flott, sind fünfzig Schritt flussab gerudert und auf Grund gelaufen. Haben es frei bekommen und sind dann wieder steckengeblieben. Snorri meinte, wir würden zu viel Wasser ziehen, also hat uns Vallon alle aussteigen lassen, damit wir uns in die Seile hängen und das Schiff ziehen.»

«Sind die Leute aus den Marschen weg?»

«Alle bis auf den Zimmermann und den Vogler. Und die haben sich erst beteiligt, als der Hauptmann sein Schwert gezogen hat.»

«Wie weit seid ihr gekommen?»

«Ich würde sagen, nicht mal bis zur Hälfte der Strecke.» Raul wischte sich einen Tautropfen von der Nase. «Wie sieht es mit der Flut aus?»

«Bald erreicht sie den Höchststand.»

Raul spähte in Richtung der Küste. «Bei diesem Nebel kommen sie nicht mit dem Schiff. Und bei Flut können sie auch nicht durchs Marschland. Ich schätze, wir haben noch ein bisschen Zeit.»

Flussauf stieß jemand einen langgezogenen Schrei aus.

«Das ist Vallon. Du gehst besser zurück.»

Raul stieg in sein Boot. «Wayland?»

«Was?»

Raul stieß die Faust in die Luft. «Ein Vermögen oder ein Grab!»

Wayland beobachtete, wie der Wasserpegel stieg. Ein Schwarm Meerbarben schwamm in die Flussmündung und hielt sich mit langsamen Flossenbewegungen auf der Stelle. Schwappend stieg das Wasser. Es erreichte die Flutmarke und stieg weiter. Selbst Wayland spürte, wie die Mondkräfte sein Blut anzogen.

Dann blieb die Flut stehen. Treibgut kreiselte auf dem Stillwasser.

Wayland ging auf und ab, schlug sich ungeduldig auf den Oberschenkel, versuchte, das Schiff durch reine Willenskraft heranzuziehen. «Komm endlich.»

Dann setzte die Ebbe ein. Das Treibgut wurde Richtung Meer gezogen. Schmatzend und gluckernd lief das Wasser aus den Marschen ab. Wayland atmete tief durch. Die Normannen würden inzwischen eine Postenkette um die Marschen aufgestellt haben. Die Flüchtlinge würden sich trennen müssen, um eine Chance zu haben. Wayland wusste, dass er entkommen konnte, aber danach … Enttäuschung stieg in ihm auf.

Er ging von einem Ende einer Sandbank zum anderen. Die Salzmarschen waren überflutet, unter der Wasseroberfläche schwankte das Seegras wie die Haare einer ertrunkenen Menschenmenge. Wasservögel gackelten und quakten im Nebel. Dann begann der Hund zu zittern. Wayland ging neben ihm in die Hocke und legte ihm die Hand auf den Rücken.

«Sie sind auf dem Weg», sagte er, steckte zwei Finger in den Mund und pfiff schrill.

Kaum vernehmbar und in weiter Ferne hörte er einen Schrei. Er rannte zum Fluss und spähte stromauf. Der Nebel lag so dicht über dem Wasser, dass er nicht einmal das andere Ufer erkennen konnte. Er legte die Hände um den Mund. «Ho!»

Keine Antwort. Vielleicht war das Schiff wieder auf Grund gelaufen, und sie benötigten seine Hilfe. Er tauchte ins Schilf ein und folgte dem Flussufer. Nach etwa eine Viertelmeile hörte er unregelmäßiges Aufspritzen. Das Geräusch kam näher. Ein großer Umriss schälte sich aus dem Nebel. Die Shearwater.

Vallon beugte sich vom Bug herunter. «Wie nahe sind sie?»

«Nahe.»

Das Schiff glitt stetig dahin. Raul und der Zimmermann standen auf dem Vordeck und stießen es mit Ruderriemen vom Ufer ab, damit das Schiff nicht auflief. Snorri stand am Ruder, aber die Knarr hatte zu viel Freibord, um gesteuert zu werden, und drehte sich mit Heckschwüngen immer wieder schräg zum Wasserlauf, als die Ebbe sie flussab zog. Das Beiboot, das ans Heck angeseilt war, trieb in ihrem schlingernden Kielwasser wie ein widerspenstiger Gefolgsmann.

«Du musst aufspringen», rief Raul.

Wayland hielt mit der Knarr Schritt und wartete darauf, dass sie ihm nahe genug kam. Die Seiten des Schiffs waren höher als das Ufer, und er hatte nur ein paar Schritte Anlauf. Mit einem Knurren versuchte er sein Glück, kam mit einem Fuß auf dem Dollbord auf, wäre aber rücklings hinuntergestürzt, hätte ihn nicht Raul am Gewand gepackt. Der Hund sprang ohne Hilfe auf.

«Nimm einen Riemen», befahl Vallon. «Versucht uns in der Mitte der Fahrrinne zu halten.»

Mit der Ebbe trieben sie flussab. Vallon stand im Bug und kündigte besonders riskante Stellen an. «Ja, jetzt scheint es zu klappen. Hero, Richard, sitzt nicht herum. Helft den anderen.»

Die schilfbestandenen Ufer wichen weiter zurück, je näher sie der Mündung des Flusses kamen.

«Wir haben es beinahe geschafft.»

Sie kamen an Snorris Hütte vorbei und musterten den Strand. Er war menschenleer.

Die Ebbe zog sie hinaus Richtung Meer. «An die Riemen!», rief Vallon. Er rannte zum Heck und legte die Hand hinters Ohr, um besser zu hören.

«Wo bleiben sie denn?», fragte Raul keuchend.

«Vielleicht haben sie sich im Nebel verirrt», sagte Vallon. «Das Wasser steht noch ziemlich hoch, und ein paar von den Gräben sind tief genug, dass ein Pferd darin ertrinken kann.» Er wandte sich an Snorri. «Klar zum Aufrichten des Masts.»

Snorri deutete zum Fluss zurück. «Das können wir nicht.»

«Warum?»

«Es liegt am Ballast», sagte Raul. «Ohne Ballast wird uns der Mast zum Kentern bringen.»

«Wie viel brauchen wir?»

«Bei einem Schiff dieser Größe … zehn Tonnen mindestens.»

«Können wir Sand nehmen? Von einer der Sandbänke vor der Küste?»

Snorri fing an zu jammern. An den seichten Stellen gab es mehr Schlamm als Sand. Diesen Schlick aufs Schiff zu schaffen würde bedeuten, bis zur Hüfte durchs Wasser waten zu müssen. Und bei Ebbe drohten sie erneut auf Grund zu laufen.

«Kümmern wir uns später um den Ballast», sagte Raul und musterte besorgt die Küstenlinie.

«Später ist zu spät», sagte Vallon. «Die Normannen werden übers Meer und über Land kommen. Drogo wird jedes Schiff einsetzen, das er kriegen kann.» An Snorri gewandt, fragte er: «Wie viele Schiffe kann er bekommen?»

«Mindestens ein Dutzend.»

«Habt ihr das gehört? Der Nebel wird uns nicht mehr lange Deckung bieten. Wir müssen das Schiff klar zum Segeln machen.»

Die Erkenntnis, dass trotz all ihrer Mühsal immer noch Drogo die Oberhand hatte, ließ jeden verstummen.

Vallon ging ans Heck. «Wir müssen zurück.»

Raul machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch dann besann er sich eines Besseren.

Sie ruderten im Stehen, kamen zwei Schritt voran und wurden einen wieder zurückgetrieben. Die Shearwater lag so hoch auf dem Wasser, dass die Riemen nicht sehr tief ins Wasser tauchten und das Ruder nicht eingesetzt werden konnte. Das Schiff pendelte wie ein Blatt in einem Wasserstrudel.

«Das Beiboot», sagte Vallon. «Wir nehmen das Schiff ins Schlepptau.»

Also kletterten sie in das Beiboot – Vallon, Wayland, Raul und der Zimmermann. Vallon hob seinen Riemen. «Wir müssen sie erst auf Kurs bringen. Auf drei … Beidrehen. Noch einmal. Sie kommt. Und jetzt gleichmäßig rudern. So ist es richtig. Haltet euch in der Fahrrinne, sonst laufen wir womöglich auf Grund. Raul, du musst dir nicht den Hals verrenken. Die Normannen werden es dich wissen lassen, wenn sie da sind.»

Wayland ruderte so angestrengt, dass seine Schultergelenke schmerzten und ihm der Schweiß über die Brust rann. Dann bogen sie in die Flussmündung ein.

«Wir haben’s gleich. Legt euch noch mal richtig ins Zeug.»

Sie landeten und zogen das Schiff auf die Sandbank. Von den Normannen war immer noch nichts zu hören oder zu sehen. «Lass deinen Hund Wache halten», befahl Vallon Wayland. Dann hasteten sie zu ihrem Ballast. Snorri hatte die Steine damals auf einer Torfbank oberhalb der Flutlinie abgeladen. Mit den Jahren hatten Gras und Schilf den Steinhaufen überwuchert. Vallon grub mit beiden Händen und förderte einen Stein so glatt wie ein Ei und größer als ein Männerkopf zutage.

«Holt Schaufeln», sagte er zu Snorri. «Hero und Richard, ihr grabt die Steine aus. Und du», sprach er an den Zimmermann gewandt weiter, «gehst an Bord und gibst die Steine an Snorri weiter. Wir anderen werden tragen.» Er klatschte in die Hände. «Los geht’s.»

Wayland hob einen Stein hoch und rannte schwerfällig los. Gleich darauf war er zurück, um den nächsten Stein zu holen. Nach der fünften Runde hörte er auf zu zählen. Alle verfielen in einen bestialisch anstrengenden Rhythmus. Hin und zurück quälten sie sich, traten eine schlammige Furche in den Torfboden, stolperten und stießen ungeschickt aneinander. Raul baute aus einem Brett und einem Sack eine Art Schlitten und zerrte fünf oder sechs Steine auf einmal zum Schiff. Als er einmal an Wayland vorbeikam, grinste er wie irrer Gnom. «Wir sind im Vorhof der Hölle gelandet, was?»

Wayland wurde langsamer. Vor ihm rutschte Vallon im Morast aus, ließ aufkeuchend seinen Stein fallen und hielt sich die Rippen. Wayland wollte zu ihm hasten, doch Vallon, das Gesicht schmerzverzerrt, schüttelte den Kopf.

Als der Steinhaufen kleiner geworden war und die Shearwater merklich tiefer im Wasser lag, erlaubte sich Wayland den Gedanken, dass sie es möglicherweise tatsächlich schaffen würden, und es wurde ihm klar, dass ein unmöglich erscheinendes Vorhaben durchgeführt werden konnte, wenn man unter der Führung eines starken Willens zusammenarbeitete.

Es musste noch mehr als eine Tonne Ballast übrig sein, als der Hund vom Strand herantrabte und sich mit zurückgezogenen Lefzen und gesträubtem Nackenfell neben ihn setzte. Alle hielten inne. Wayland setzte seine Last ab. Von der Küste drang ein schwaches Rauschen zu ihnen herüber, wie Wellen, die sich an einem fernen Strand brachen. Wieder wurde es hörbar – das Geräusch Hunderter Wildvögel, die gleichzeitig aufgeschreckt emporflogen.

«Das sind sie», sagte Vallon. «Alle an Bord.»

Noch bevor Wayland beim Schiff war, stieg ein weiterer Vogelschwarm auf, wogte über sie hinweg und verbreitete ohrenbetäubendes Geschrei. Ein paar der Vögel gingen an seichten Wasserstellen in ihrer Nähe nieder.

«Hauptmann!», rief Raul.

Wayland sah den Vogler und den Zimmermann ins Schilf verschwinden. Snorri wollte ihnen nach. «Lasst sie», befahl Vallon.

Sie stakten sich hastig vom Ufer der Sandbank weg.

«Weiter, wir sind noch nicht außer Gefahr.»

Aber sie hatten keine Kraft mehr, legten die Riemen weg, und brachen stöhnend auf den Planken zusammen.

Raul hielt den Atem an. «Da kommen sie.»

Über sein hämmerndes Herz hinweg hörte Wayland das Geräusch von Reitern, die sich durch aufspritzendes Wasser kämpfen.

Vallon packte den Achtersteven. «Herr im Himmel! Da ist jemand am Strand. Sieht nach einem Mädchen aus.»

Wayland kam an Deck. Dort stand Syth am Wasser, die Hände wie zum Gebet gefaltet.

Vallon fuhr herum. «Rudert, verdammt.»

Wie ein Schlafwandler ging Wayland auf Vallon zu.

Vallon hob die Hand. «Geh zurück auf deinen Platz.»

Wayland aber sprang aufs Dollbord und ließ sich ins Wasser fallen. Die Kälte raubte ihm den Atem. Er strampelte und ging unter. Dann berührten seine Füße den Grund, und stehend ragte sein Kopf gerade eben aus dem Wasser. Da tauchte der Hund neben ihm auf. Wayland packte ihn am Nackenfell und bewegte sich halb schwimmend, halb watend aufs Ufer zu. Syth hatte sich nicht vom Fleck gerührt.

«Komm zu mir.»

Syth machte ein paar ängstliche Schritte. «Ich kann nicht schwimmen.»

Als Wayland schwankend ans Ufer stieg, sprengten die ersten Reiter aus dem Nebel wie Krieger aus der Unterwelt. Sie ritten einzeln und zu zweit in einem losen Verband, Männer und Pferde waren von oben bis unten mit Schlamm bespritzt. Eines der Pferde trat in einen Graben oder ein Loch und überschlug sich in einem hoch aufschießenden Wasserwirbel.

Wayland zauderte. Die ersten Soldaten galoppierten schon über die Sandbank, und er wusste, dass ihm nicht genügend Zeit blieb, um zusammen mit Syth das Schilf der Marschen zu erreichen.

«Wayland!»

Raul stand am Heck des Schiffs und ließ ein Tau über seinem Kopf kreisen. Vallon stand neben ihm und winkte aufgeregt. Da packte Wayland Syth und zog sie ins Meer.

Der Grund fiel sanft ab, und er war erst bis zur Hüfte im Wasser, als er lautes Aufspritzen hörte. Als er sich umdrehte, sah er, dass ihn vier oder fünf Reiter verfolgten. Er stapfte weiter, keuchend vor Anstrengung, und die Soldaten kamen näher. Er zog sein Messer und wollte sich gerade zum Kampf umdrehen, als der Grund unter seinen Füßen plötzlich steil abfiel und er versank.

Hustend kam er wieder hoch, sah einen Reiter mit einer Lanze auf ihn zielen und strampelte weiter ins tiefere Wasser. Sein Messer hatte er losgelassen, aber Syth hielt er immer noch fest gepackt. Er führte ihre Hand zum Halsband des Hundes. «Halt dich fest.»

Die Reiter hatten begriffen, dass Wayland in einen Priel gefallen war. Sie wichen nach rechts aus, tasteten sich an seinem Verlauf entlang, und sie waren schneller als Wayland. Schritt für Schritt holte der erste Reiter zu ihm auf, sein Pferd bis zur Brust im Wasser. Er hatte sein Schwert gezogen, wechselte nun damit in die linke Hand, verlagerte sein Gewicht auf den linken Steigbügel, und beugte sich, mit dem Schwert ausholend, vom Pferd. Er wirkte riesenhaft. Ohne festen Halt konnte Wayland nichts tun, um dem Hieb auszuweichen, und er wusste, dass er sterben würde. Alles schien sich zu verlangsamen. Der Soldat hatte sein Schwert erhoben und beugte sich vor, um genau zu treffen. Er blieb unglaublich lange in dieser Haltung, und dann beugte er sich sogar noch weiter vor, ließ sein Schwert fallen und stürzte vor Wayland ins Wasser. Gurgelnd kam er wieder an die Oberfläche, Blutblasen stiegen aus seinem Mund. Gleich darauf zog ihn das Gewicht seiner Rüstung in die Tiefe, und er war verschwunden. Sein Pferd hatte den Kontakt mit dem Boden verloren und schlug wild aus. Seine Panik sprang auf die anderen Pferde über. Eines von ihnen bäumte sich auf, drehte sich um sich selbst, und warf seinen Reiter ab.

Wayland sah sich nach Syth um. Sie klammerte sich immer noch an das Halsband des Hundes. Er schwamm ihnen hastig nach und hängte sich an den Schwanz des Tiers. Knurrend wandte der Hund den Kopf, man sah das Weiße in seinen Augen. Die Belastung war zu hoch für ihn.

«Weiter!»

Wayland versuchte dem Hund nachzuschwimmen, doch er bekam einen Krampf in den Beinen und begann unterzugehen. Das Wasser leckte schon an seinen Augen, und das Schiff ragte unerreichbar weit entfernt vor ihm auf.

«Wayland!»

Vallon warf ihm ein Seil zu. Wayland sah nicht, wo es aufs Wasser klatschte. Raul legte mit seiner Armbrust an, und da wurde Wayland klar, was den Soldaten getötet hatte.

«Wayland!»

Vallon hatte das Seil eingeholt und wirbelte es erneut über seinem Kopf. Wayland wusste, dass dies seine letzte Chance war, und er sah das Seil schlangengleich vom Schiff zucken und vor sich auf die Wasseroberfläche klatschen. Mit letzter Kraft schwamm er darauf zu, bekam es zu fassen, und schlang es sich ums Handgelenk. Vallon begann zu ziehen.

«Wartet!»

Das Seil wurde schlaff. Wayland rief den Hund. Das Tier drehte um und paddelte auf ihn zu, Syth hinter sich herschleppend. Wayland packte mit einer Hand das Hundehalsband und mit der anderen Syth. Ihre Augen waren geschlossen. Das Seil schnitt in sein Handgelenk, als Vallon es einzuholen begann. Nachdem sie ein Stück durch graues Wasser gezogen worden waren, stieg mit einem Mal der Schiffsrumpf wie eine dunkle Mauer vor ihm aus dem Wasser.

Raul zerrte ihn hoch und übers Dollbord. Wayland kam auf allen vieren auf und würgte, bis er das Gefühl hatte, sein Innerstes nach außen gekehrt zu haben. Raul rieb ihn ununterbrochen fluchend mit einem Stück Segeltuch ab.

«Syth», murmelte Wayland und richtete sich halb auf. Sie lag mit dem Gesicht nach unten ein paar Schritte neben ihm, und Hero saß rittlings auf ihr und versuchte das Wasser aus ihren Lungen zu pumpen. Benommen sah sich Wayland um. Er griff nach dem Dollbord und zog sich hoch.

«Bleib unten!», schrie Raul. «Sie können immer noch mit der Armbrust auf uns schießen.»

«Wo ist der Hund?»

«Wir haben ihn nicht zu fassen gekriegt.»

Der Hund paddelte achteraus im Wasser, blieb schon zurück. Bald wäre er nicht mehr zu retten. Stöhnend zog sich Wayland Handbreit für Handbreit am Dollbord entlang. Er lehnte sich aus dem Schiff, bekam den Hund aber nicht zu fassen.

Raul zerrte ihn zurück. «Das hat keinen Sinn. Wir müssen ihn zurücklassen.»

Wayland schob ihn weg. «Wo ist das Seil? Gib mir ein Seil.»

«Du verrückter Bastard!», schrie Raul. Er drückte Wayland mit beiden Armen auf die Planken. «Hauptmann, ich brauche Hilfe. Er will wieder vom Schiff springen.»

Vallon fluchte und hastete geduckt zu ihnen. «Hast du uns nicht schon genügend in Gefahr gebracht? Ich riskiere unser Leben nicht für einen Hund.» Wütend deutete er ans Ufer. «Sieh dir das an.»

Wayland sah eine Reihe Soldaten, die sich an der Wasserlinie auf ein Knie hinuntergelassen hatten und das Schiff mit ihren Armbrüsten beschossen. «Lasst mich los», sagte er heiser. «Ich gebe den Hund nicht auf.»

Raul packte ihn noch fester, dann ließ er ihn plötzlich los und schlug mit der Faust aufs Deck. «Verflucht!» Er sah Vallon an. «Ich mach’s. Haltet das Seil ordentlich fest, ich schwimme nämlich noch schlechter als Wayland.»

Er stieg übers Heck und sprang. Als er wieder auftauchte, war sein Gesicht so verzerrt, als sei er kurz vorm Ertrinken. Er strampelte wie ein verstümmelter Frosch. Wayland rief den Hund und bedeutete ihm, auf Raul zuzuschwimmen. Raul kam spritzend bei dem Tier an und schob nach einigen Fehlversuchen das Seil unter seinem Halsband hindurch. Vallon und Wayland zogen sie neben das Schiff und hievten Raul an Bord. Erst zu dritt gelang es ihnen schließlich, auch den Hund auf das Schiff zu zerren. Er trat um sich und bockte, bis er endlich halb erstickt an Deck war. Dort stand er mit gespreizten Beinen und hängendem Kopf, wie ein sterbendes Kalb, und dann erbrach er Meerwasser. Danach starrte er sein Erbrochenes an, schüttelte sich, schwankte mit unsicheren Schritten zu Wayland, leckte ihm kurz übers Gesicht und brach zusammen.

Wayland drückte Raul den Arm. «Das werde ich dir nie vergessen.»

Raul gab, immer noch um Atem ringend, zurück: «Und ich dir ganz bestimmt auch nicht!»

Wayland kroch zu Syth hinüber. Hero und Richard hatten wärmende Decken über sie gelegt und rieben ihr die Glieder.

«Ist sie tot?»

Hero sah ihn entsetzt an. «Nein. Ich glaube, es geht ihr bald wieder gut, wenn wir sie warm halten können.»

Wayland zog ihr die Decke vom Gesicht. Es war bläulich verfärbt und wächsern, und dieser Anblick rief alte Schrecken in ihm wach. Er schüttelte sie. «Syth, stirb nicht.»

Ihre Lider flatterten, ihre Lippen bewegten sich.

«Ich hole noch mehr Decken», sagte Hero.

Wayland drängte seinen kalten Körper an ihren. Er zitterte unkontrollierbar. Der Hund kroch neben sie. Wayland sah Armbrustbolzen in den Schiffsplanken stecken, und gleichzeitig nahm er die Schaukelbewegung des Schiffs auf den niedrigen Wellen wahr. Und dann war da noch eine Stimme in seinem Kopf, die nicht weggehen wollte – eine vertraute Stimme, die etwas rief, das nach Flüchen und Verwünschungen klang.

Er hob den Kopf. Niemand auf dem Schiff rührte sich, und abgesehen von der Stimme in seinem Kopf lag über allem unheilvolles Schweigen. Vallon stand im Bug und sah aufs Meer hinaus. Hero hatte sich wie eine schlaffe Puppe auf den Bauch geworfen. Auf Richards Gesicht lag ein fassungsloser Ausdruck. Da begegnete Raul Waylands Blick, und er spuckte kräftig aus.

Wayland griff nach dem Dollbord, und beim zweiten Versuch gelang es ihm, sich daran hochzuziehen. Die Normannen bewegten sich wie Schatten auf dem immer weiter in die Ferne rückenden Ufer. Wayland schüttelte den Kopf und bohrte sich den Finger ins Ohr.

Es war Drogos körperlose Stimme, die nicht verschwinden wollte.

«Ihr fahrt allesamt zur Hölle. Euer Anführer heißt nicht Vallon. Sein Name ist Guy de Crion. Er hat seine eigene Frau umgebracht und den Neffen des Herzogs von Aquitanien ermordet. Hört ihr mich? Ihr fahrt allesamt zur Hölle!»

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