XXXIX

Einen friedlicheren Ort konnte man sich kaum denken. Hier an seinem Oberlauf war der Dnjepr weniger als zweihundert Schritt breit und bildete ein langgestrecktes Becken, aus dem hell plätschernde Wasserläufe abzweigten. An den seichten Stellen standen Elritzenschwärme im Wasser, und oft wechselten die kleinen Fische blitzartig die Richtung. Blaue und gelbe Libellen jagten über dem Wasser. Am Ende des Flussbeckens befand sich eine Furt, deren Ufer von ungewöhnlich großen Rindern aufgewühlt waren. Die Tiere hatten die Furt vor kurzem durchquert, und wenn ihre Spuren zum Maßstab genommen werden konnten, mussten die Viehhirten wohl an die zehn Fuß groß sein. Vallon füllte mit seinem gesamten Fuß nur die Hälfte der Spalthufenabdrücke aus.

Die Träger ließen die Boote ins Wasser gleiten, dann kam Ivanko auf Vallon zu und erklärte, ihre Arbeit sei getan. Richard gab ihren Lohn aus, und die Männer reckten die Hälse über die Schultern der vor ihnen Stehenden, um mitzurechnen.

Vallons Leute lagen im Gras und genossen die Wärme. Ein paar hatten sich einen Oberarm über die Augen gelegt und dösten.

Vallon klatschte in die Hände. «Die Boote müssen beladen werden.»

Hero schlug die Augen auf. «Können wir nicht zuerst etwas essen?»

«Nein. Ich will so schnell wie möglich hier weg.»

Wulfstan kam vom Ufer herauf. «An unserem Boot ist eine Planke gesprungen. Wir müssen im Wald an einen Felsen gestoßen sein. Der Sprung muss kalfatert werden.»

«Verflucht», sagte Vallon. Die Träger zündeten ein Kochfeuer an. Wenn sie irgendetwas von einem Verrat gewusst hätten, dann wären sie nach der Bezahlung so schnell wie möglich verschwunden. «Bring das Boot so schnell es geht in Ordnung. Die Übrigen können etwas essen. Ihr zwei», sagte er und meinte Tostig und Olaf. «Nehmt das Kanu und haltet am anderen Ufer Wache. Zieht nicht so lange Gesichter. Wir heben euch etwas zu essen auf.»

Hero stellte sich neben Vallon. Er grinste von einem Ohr bis zum anderen. «Wenigstens können wir jetzt den Traum erleben, bis ans Ziel unserer Reise zu kommen.»

«Wir haben noch einen langen Weg vor uns.»

Richard wachte gähnend auf. «Wenn wir auf dem Fluss sind, schlafe ich vier Tage am Stück. Weckt mich, wenn wir in Kiew sind.»

Die Wikinger machten Feuer, um Pech zu schmelzen. Über den Pechtopf hängten die Reisenden einen Kessel mit Brühe. Vallon konnte seine Unruhe nicht abschütteln, Wayland hatte ihn mit seinem Misstrauen angesteckt. Oleg musste den Dnjepr schon zwei Tage zuvor erreicht haben. Inzwischen konnte er weiter flussab einen Hinterhalt gelegt haben.

Sie aßen noch, als Wulfstan berichtete, seine Männer hätten das Boot repariert. «Aufbruch!», rief Vallon. «Das Brot schmeckt auf dem Fluss genauso gut. Wo ist der Mann mit dem Horn? Ah, da bist du ja. Ruf Wayland und Syth.»

Sie knieten hinter einer Linde, die der Wind gefällt hatte. Sechzig oder siebzig Schritt entfernt stand ein einsamer schwarzer Bulle mit einer hellen Zeichnung, die über den gesamten Rücken lief. Er war größer als ein Mensch, länger als ein Karren, und sein Schädel war mit leierförmigen Hörnern bewaffnet. Hinter ihm, am anderen Ende der Lichtung, grasten fünf Jungbullen. Eine Herde rötlichbrauner Kühe und Kälber stromerte in dem sonnenscheckigen Wald dahinter herum. Die Tiere sahen aus, als stammten sie aus einer uralten Zeit. Zitronenfalter, die über die Lichtung schwärmten, verzauberten den Anblick noch mehr. Hunderte umflatterten den alten Bullen, angezogen von der Wärme, die von seinem Fell aufstieg. Der schlachtenerprobte Patriarch sah aus wie von gelben Blüten übersät.

«Wage bloß nicht, auf ihn zu schießen», flüsterte Syth.

Wayland schüttelte lächelnd den Kopf.

Während der Bulle graste, schob sich langsam seine Rute hervor.

«Meine Güte», sagte Syth.

Wayland hüstelte in seine Faust.

«Wayland.»

«Schsch. Du erschreckst sie.»

Syth warf einen Blick auf den Auerochsen, dann spitzte sie ihre Lippen und blies Wayland sanft ins Ohr.

Seine Kiefer arbeiteten.

«Way-land.»

«Was?»

Sie rollte sich auf den Rücken und breitete mit geschlossenen Augen die Arme aus.

Er schaute auf sie herunter, dann zog ein Grinsen über sein Gesicht, und er legte sich neben sie. Seine Hand fuhr unter ihr Gewand.

«Wayland, das sind keine Hundewelpen.»

«Sie fühlen sich einfach wundervoll an.»

Sie legte ihm die Hand um den Nacken. «Ich wünschte, wir hätten in Nowgorod zusammen sein können, als wir schöne Kleider und saubere Betten hatten.»

Wayland liebkoste ihr Ohr. «Adam und Eva hatten auch keine Kleider oder ein Bett.»

«Ich wette, Eva hätte gern welche gehabt.»

«Was? Sie soll sich nach edlen Gewändern gesehnt haben, nur um sich von Adam ausziehen zu lassen?»

«Du kannst reden! Du lebst gern im Wald. Aber ein Liebesnest mit Krabbelgetier zu teilen ist nicht gerade meine Vorstellung von der Seligkeit.»

Wayland beugte sich über sie. «Du wirst schöne Kleider haben, das verspreche ich dir. Und wir leben in einem prachtvollen Haus, du wirst schon sehen.»

Sie lächelte. Ihre Haut schimmerte unter der Dreckschicht, und in ihren Augen spiegelte sich der Himmel.

«Raul hat gesagt, du wärst eine Nixe. Er sagte, du könntest dich in Wasser verwandeln.»

Sie tastete nach seinem Gürtel. «Ich kann noch viel mehr als das. Ich kann dich in Wasser verwandeln.»

Als das Horn geblasen wurde, waren sie so ineinander versunken, dass sie es nicht hörten. Doch Wayland musste eine Vibration gespürt haben, denn er löste seine Lippen von ihren und stemmte sich auf die Unterarme.

Syth öffnete die Augen. Ihr Blick war fast entrückt. «Hör nicht auf.» Sie schlang ihre Beine fester um ihn. «Nicht aufhören.»

Vallon stapfte am Ufer auf und ab und warf ungeduldige Blicke zu der Weide hinauf. Da drang ein langgezogener Schrei über den Fluss, und die beiden Isländer rannten vom Waldrand zu dem Kanu. Vallon legte stöhnend den Kopf in die Hände. Dann sah er wieder auf. «Alles in die Boote. Haltet die Waffen bereit.»

Als Tostig und Olaf in das Kanu sprangen und sich vom Ufer abstießen, tauchten zwischen den Bäumen hinter ihnen Reiter auf. In gemächlichem Passgang ritten sie den Abhang herunter, als wären sie auf einer Landpartie. Ihr Anführer winkte zum Gruß, kein bisschen überrascht davon, auf bewaffnete Männer zu treffen. Er ritt ans Wasser.

«Die Träger laufen weg!», rief Richard.

Ivanko und seine Männer hasteten die Wiese hinauf und warfen dabei ängstliche Blicke über die Schulter.

Drogo beobachtete, wie sich die Reiter am anderen Ufer aufreihten. «Wir können weg sein, bevor sie hier drüben sind.»

«Nicht ohne Wayland und Syth. Weiß Gott, was sie aufhält. Das Warnsignal soll geblasen werden!»

Er fluchte. Die beiden waren nicht da, und die Zeit wurde immer knapper. Die fremden Reiter tasteten sich durch die Furt, das Wasser stand ihren Pferden schon bis zu den Bäuchen. Alle waren bewaffnet, die meisten trugen auch Bögen. Eine zusammengewürfelte Hundemeute paddelte hinter den Pferden her.

«Vielleicht ist es nur eine Jagdgesellschaft», sagte Richard.

Vallon trat einen Erdklumpen vor sich her. «Die den Fluss ganz zufällig an genau der Stelle überquert, an der wir ablegen wollen?»

Als die beiden Isländer mit dem Kanu bei ihnen waren, hatte der russische Reiterzug die Mitte des Flusses erreicht. An der Spitze ritt ein rotgesichtiger, gedrungener Mann, dessen Schädel bis auf eine Schläfenlocke kahlrasiert war. Er trug eine ärmellose Bärenfellweste über einem Leinenkittel, und seine Füße steckten in grünen Ziegenlederschuhen. Er lehnte sich zurück, als sich sein Pferd die Uferschräge hinaufarbeitete. Dann ließ er die Zügel locker, kreuzte die Unterarme auf dem Hals des Tiers, grinste in die steinernen Mienen der Männer vor ihm, und verbeugte sich übertrieben vor den Damen. Von einem seiner Ohren hing eine große Perle herab, die in filigrane Silbertropfen eingefasst war. «Ich grüße euch, Brüder und Schwestern. Was haben wir denn hier? Einen Händlerzug. Ich kann es kaum glauben. Warum seid ihr denn so spät im Jahr auf Fahrt?»

«Du sprichst Nordisch.»

«Aber gewiss. Ich besuche häufig den Handelsplatz der Waräger in Gnezdovo bei Smolensk. Es erstaunt mich, dass ihr nicht dort entlanggereist seid. Der Weg ist viel einfacher als der, den ihr euch ausgesucht habt. Oder habt ihr euch verirrt? Habt ihr denn keinen Führer?» Er legte dich Hand auf sein Herz. «Mein Name ist Gleb Malinin.»

«Was führt dich hierher?»

«Wir jagen Tur. Wie nennt ihr sie? Auerochsen.» Er deutete auf die Hufspuren. «Sie müssen gestern Abend über den Fluss gekommen sein. Ich wollte schon immer einen Trinkbecher aus dem Horn eines Auerochsen haben.»

«Wir sind schon eine Weile hier und haben keinen einzigen Auerochsen gesehen. Du wirst schnell weiterreiten müssen, wenn du sie noch einholen willst.»

Gleb warf einen anerkennenden Blick auf die Wiese. «Ihr habt euch eine gute Stelle ausgesucht. Das ist saftiges Gras. Wir sitzen schon seit heute morgen in den Sätteln und könnten eine Rast vertragen.» Er klopfte sich auf die tropfnassen Hosen. «Wenn es euch nichts ausmacht, essen wir hier etwas.»

Er drückte seinem Pferd die Fersen in die Flanken, und seine Leute ritten ihm grinsend nach. Etwa hundert Schritt entfernt saßen sie ab und banden ihre Pferde und Hunde an einen Baumstamm, den der Fluss bei einem Hochwasser auf die Wiese geschwemmt hatte. Ein paar von ihnen begannen, tote Zweige für ein Lagerfeuer abzubrechen. Als Gleb seine Anordnungen erteilt hatte, schlenderte er in Vallons Richtung zurück.

«Sie sind doppelt so viele wie wir», sagte Drogo. «Am besten schlagen wir zuerst zu.»

«Beherrsch dich lieber. Er könnte schließlich auch die Wahrheit sagen.»

Gleb lächelte Vallon an. «Das Essen ist schnell fertig. Bitte teile Brot und Salz mit uns.»

«Danke, aber wir haben schon gegessen. Ich will noch vor Sonnenuntergang ein gutes Stück den Fluss hinunter. Du hättest diese Wiese leer vorgefunden, wenn alle meine Leute schon zurück wären. Ich habe zehn Männer zum Jagen in den Wald geschickt. Du hast wahrscheinlich das Hornsignal gehört, mit dem wir sie zurückgerufen haben.»

Gleb sah höflich zum Wald hinüber und ließ seinen Blick dann über den kleinen Bootskonvoi wandern. «Dreißig Männer in diesen kleinen Booten. Mein Freund, ich mache mir Sorgen um dich. Du wirst nie in Kiew ankommen, wenn die Boote so schwer beladen sind.»

Vallon ballte die Fäuste an den Oberschenkeln. Wo zum Teufel waren Wayland und Syth?

Sie lagen sich im Halbschlaf in den Armen, und Syth drehte eine Locke von Wayland um ihren Zeigefinger. Über ihnen jagten sich zwei Eichhörnchen im Geäst einer Kiefer. Sie vollführten irrwitzige Sprünge und stoppten dann urplötzlich, als würde sie ein Magnet an die Äste bannen.

«Wach auf.»

Wayland stützte sich auf die Arme und spähte über den Baumstamm. «Die Auerochsen sind weg.»

Syth schüttelte sich vor unterdrücktem Lachen. «Ich frage mich, wovor sie sich erschreckt haben.»

Wayland lehnte sich gegen den Stamm, und Syth legte ihren Kopf in seinen Schoß.

Sie seufzte. «Caitlin ist wunderschön, findest du nicht auch?»

«Nicht halb so schön wie du.»

Syth tippte ihm an die Nasenspitze. Wieder seufzte sie. «Was würde ich für ihre großartigen Locken geben.»

Wayland richtete sich etwas auf. «Warum redest du immerzu von ihr? Man wird überhaupt nicht klug aus ihr. Du magst sie doch bestimmt nicht.»

«Sie ist nicht so schlecht, wenn man sie erst einmal kennengelernt hat.»

«Sie macht nur Ärger. Ich verstehe nicht, warum Vallon sie mitkommen lässt.»

«Sie ist in ihn verliebt.»

Wayland fuhr auf. «In Vallon? Aber sie hat versucht, ihn umzubringen!»

«Liebe und Hass liegen nicht so weit auseinander, wie du vielleicht denkst.»

«Wer hat dir denn das erzählt?»

«Niemand. Aber manchmal, wenn du deine Launen hast oder mich wegen der Falken vernachlässigst, werde ich böse auf dich, und dann begehre ich dich am meisten.»

«Caitlin wird bei Vallon überhaupt nichts erreichen. Nach der Erfahrung mit seiner Frau glaube ich nicht, dass es noch einmal einer gelingt, zu seinem Herzen vorzudringen.»

«Sei nicht so sicher. Er ist nicht so schrecklich, wie ich zuerst dachte, und mit der Liebe weiß man nie.»

Drei drängende Töne ließen sie auseinanderfahren. «Das ist der Alarm!» Wayland sprang auf und suchte seinen Schuh. Ein Dorn bohrte sich in seine Fußsohle. «Mist!» Er packte Syth an der Hand und zog sie hinter sich her. Sie stemmte sich dagegen.

«Wir werden in die Auerochsenherde hineinlaufen.»

Wayland starrte in Richtung Fluss. Er war weniger als eine Meile entfernt. Sein Blick zuckte auf der Suche nach einem anderen Weg herum. «Wir verlieren zu viel Zeit, wenn wir um sie herumgehen.» Er nahm Syth fest an der Hand und eilte geradeaus.

«Wayland!»

«Wir treiben sie vor uns her. Ich weiß nicht, was am Fluss passiert, aber ein Ablenkungsmanöver nutzt vielleicht sogar etwas. Du bleibst auf der rechten Seite hinter mir. Wenn du mich rufen hörst, dann schrei, so laut du kannst, und hör nicht auf damit. Und schlag mit einem Stock gegen die Bäume. Mach so viel Aufruhr wie möglich.»

«Und was ist, wenn sie uns angreifen?»

«Dann klettern wir auf einen Baum.»

Sobald Syth ihre Position eingenommen hatte, rannte er über die Lichtung und in den Wald. Die Auerochsen hatten tiefe Hufabdrücke und beträchtliche Dunghaufen hinterlassen. Der Wind stand in Gegenrichtung, und so konnte sich Wayland schnell vorwärtsbewegen. Die Spuren führten in einen dichtbewachsenen Jungwald, in dem man nicht weiter als dreißig Fuß freie Sicht hatte. Er drehte sich um und bedeutete Syth, dass sie bleiben sollte, wo sie war. Vorsichtig ging er weiter. Trotz ihrer Größe waren die Auerochsen zwischen den engstehenden Bäumen hindurchgezogen. Wayland war mitten in dem Dickicht, als das Warnsignal erneut vom Fluss herüberhallte. Es musste ernst sein.

Er kam zu einem Gewirr umgestürzter Bäume, kämpfte sich durch und erreichte ein unberührtes, tief verschattetes Waldstück. Er blieb stehen, damit sich sein Gehör an die neue Umgebung gewöhnen konnte. Goldgrüne Lichtspeere durchbohrten das Zwielicht, in dem er sich beinahe wie unter Wasser fühlte. Er spähte zwischen dunklen Ästen und Zweigen hindurch. Nichts. Das Hornsignal hatte die Auerochsen verscheucht, und inzwischen waren sie vermutlich schon eine Meile entfernt. Er wollte gerade den nächsten Schritt machen, als sich einer der tiefschwarzen Schatten bewegte. Wayland blinzelte, blinzelte noch einmal, und da nahm der riesenhafte Bulle keine vierzig Schritt entfernt aus dem Waldesdunkel heraus Form an. Das Tier hatte ihn wahrgenommen und sah mit zuckenden Ohren, die feuchten Nüstern geweitet, in seine Richtung. Wayland drehte sich um, Syth war nicht mehr in Sichtweite. Als Wayland den Bullen erneut ansah, graste das Tier wieder. Zwischen ihnen lag der Kadaver einer Rieseneiche. Sie war mit Moos gepolstert und mit Pilzen bewachsen, die aussahen wie übergroße Menschenohren. Er schlich darauf zu. Jahrelange Erfahrung in der Natur hatte ihn gelehrt, dass der Trick beim Anschleichen an die Beute darin bestand, sich nicht anzuschleichen. Man musste mit der Luft verschmelzen, zu einem Teil der Erde werden, aber niemals durfte man sich seiner selbst bewusst sein. In dem Augenblick, in dem man seinen Verstand einschaltete, spürte es die Beute.

Zehn Schritt vor der Eiche blieb Wayland stehen. Der Bulle graste weiter. Wayland ließ sich unendlich langsam auf den Boden sinken und schob sich auf dem Bauch zu dem Eichenstamm. Dort rollte er sich auf die Seite, spannte einen Pfeil in den Bogen und hob Zoll für Zoll den Kopf.

Der Bulle stand weniger als zwanzig Schritt entfernt, Lichtflecken und Schatten spielten auf seinem Rücken, und Wayland konnte die Narben alter Rangkämpfe auf seinen Schultern sehen. Wayland rührte sich nicht. Er war nichts weiter als ein Teil dieses Waldes, sein Gesicht ein blasses, nicht weiter bedrohliches Oval, genauso unbedeutend wie die Pilze, die auf dem Baum wuchsen. Doch der Bulle überprüfte seine Umgebung mit jedem Heben des Kopfes, und als er es das nächste Mal tat, stellte er fest, dass Waylands Gesicht noch nicht da gewesen war, als er zuvor in diese Richtung gesehen hatte. Ein tiefes Grollen dröhnte aus seiner Brust. Er stampfte mit den Vorderhufen auf. Im nächsten Augenblick würde er angreifen.

Wayland sprang auf und begann zu schreien. Der Auerochse schnaubte, drehte sich um, und galoppierte davon. Wayland setzte über den Baumstamm und schrie erneut. Vor sich hörte er donnernde Hufschläge und peitschend zurückschnellende Zweige. Hinter ihm stieß Syth schrilles Gekreisch aus.

Ohne zu warten, bis sie ihn eingeholt hatte, rannte er den Auerochsen nach. In welche Richtung sie liefen, hörte er an den Geräuschen, mit denen sie durch Wald und Unterholz brachen. Sie waren ein gutes Stück voraus, flüchteten panisch und unaufhaltsam, und er jagte ihnen mit dem schuldbewussten Rauschgefühl eines Mannes nach, der eine Lawine ausgelöst hat.

Gleb kehrte wieder ans Ufer zurück, und dieses Mal begleiteten ihn sechs von seinen Männern. Die übrigen lagen ums Feuer, doch Vallon konnte an ihrer Körperspannung ablesen, dass sie auf ein Signal zum Angriff warteten. Gleb blieb etwa zwanzig Schritt entfernt stehen. «Komm. Das Essen ist fertig. Es ist nicht viel – Schmorfleisch. Kwas.»

«Ich habe es dir doch gesagt. Wir haben schon gegessen.»

Verärgerung flackerte in Glebs Gesicht auf. «Es ist in meinem Land Sitte, dass man mit den Fremden, denen man unterwegs begegnet, das Brot bricht.»

«Gib einfach den Befehl», sagte Drogo.

Vallon hob ärgerlich das Kinn. «Haltet eure Waffen versteckt. Alle sollen in die Boote steigen.»

Gleb legte die Hand hinters Ohr. «He, Bruder, hast du mich nicht gehört? Ist dir die Gesellschaft von Russen nicht gut genug?»

Vallon spielte den Besorgten. «Ich befürchte, dass meinen fehlenden Männern etwas zugestoßen ist.»

Gleb ging auf die Lügengeschichte ein. «Sie sind zehn, hast du gesagt. Also genug, dass sie sich gegenseitig schützen können. Vergiss sie und iss mit uns. Vielleicht sind sie ja auch schon wieder da, bis wir fertig sind.»

«Eben fällt mir ein, dass es ein Missverständnis gegeben haben muss. Sie warten vermutlich weiter flussab auf uns.» Ein Blick über die Schulter zeigte Vallon, dass alle in die Boote gestiegen waren. «Wir beeilen uns lieber, damit wir schnell zu ihnen kommen. Es tut mir leid, dass ich deine Gastfreundschaft ablehnen muss.»

Gleb starrte auf den Boden, und als er den Kopf wieder hob, war seine Miene traurig geworden. «Aber da gibt es ein Problem. Du bist hier auf Polotsker Gebiet. Hast du die Erlaubnis, durch Prinz Vseslavs Land zu reisen?»

Vallon spielte auf Zeit. «Ich habe einen Geleitbrief von Herrn Vasili von Nowgorod.»

«Herrn Vasilis Geleitbriefe berechtigen dich nicht, dich in diesem Gebiet aufzuhalten. Es erstaunt mich, dass er dir keinen Führer mitgegeben hat.» Er sagte etwas auf Russisch, und seine Männer kicherten. Dann setzte er wieder eine ernste Miene auf. «Das Gesetz ist eindeutig. Eine Karawane, die ohne Erlaubnis in Vseslavs Gebiet eindringt, soll verhaftet werden, und ihre Waren unterliegen der Beschlagnahme.»

«Hören wir auf, uns etwas vorzuspielen», sagte Vallon. «Es war Vasili, der dich geschickt hat.»

Gleb grinste. «Und du hast keine zehn Leute im Wald. Nach Olegs Zählung können es nur zwei sein, und einer von den beiden ist nur ein Mädchen.» Er schüttelte mit gespieltem Bedauern den Kopf. «Du hättest auf Herrn Vasili hören und ihm die Falken verkaufen sollen. Ich erspare dir einen vergeudeten Tag. Ihr wärt niemals an den Stromschnellen und den Nomaden vorbeigekommen.»

Er wedelte mit der Hand, und seine Männer erhoben sich wie eine Kompanie, die aus einer Trance erlöst wird. Sie zogen ihre Schwerter, spannten ihre Bögen und rückten vor.

Auch Vallon zog sein Schwert und hörte hinter sich Stahl aus der Schwertscheide gleiten. «Eins sage ich dir. Du wirst nicht lange genug leben, um aus diesem Verrat Gewinn zu ziehen», drohte Vallon.

«Komm ins Boot!», rief Drogo.

Es war zu spät. Die Russen waren nur dreißig Schritt vor ihm und würden an den Booten sein, bevor sie tieferes Wasser erreicht hatten.

«Es hat keinen Zweck zu kämpfen», sagte Gleb. «Gib mir die Falken, und ich lasse dich deiner Wege gehen.»

Vallon zog sich rückwärts bis zum Ufer zurück. «Hero, bereite dich darauf vor, die Falken in den Fluss zu werfen.»

Gleb ließ seine Männer anhalten. «Sei kein Narr. Die Falken sind das Einzige, was euch retten kann.»

Vallon setzte einen Fuß in den Fluss. «Leinen los!»

Als Gleb die Hand hob, um den Befehl zum Angriff zu geben, begannen die Hunde zu kläffen und an ihren Leinen zu zerren. Ein Pferd wieherte und warf den Kopf zurück. Gleb warf einen Blick über die Schulter, dann sah er wieder Vallon an.

«Die Falken.»

«Für wie dumm hältst du mich?»

Der Ruf eines Russen schnitt Gleb das Wort ab. Die Pferde hatten angefangen, mit zurückgelegten Ohren zu wiehern und herumzutänzeln. Die Hunde jaulten und verbissen sich ineinander, während sie versuchten, sich loszureißen. Ein tiefes Muhen dröhnte aus dem Wald.

«Was in Dreiteufels…»

Zwischen den Bäumen brach eine brüllenden Auerochsenherde hervor. Angeführt wurde sie von einem gigantischen schwarzen Bullen, der geradezu über die Erde zu fliegen schien. Sie strömten die Wiese herab, wild entschlossen, die Furt zu erreichen. Gleb starrte Vallon fassungslos an, dann rief er einen Befehl und rannte zu den panischen Pferden.

«Rudern!»

Vallons Boot hatte schon vom Ufer abgelegt. Richard und Hero zogen ihn an Bord, und als er sich umdrehte, sah er, dass die Auerochsen die Hälfte der abschüssigen Wiese hinter sich hatten, während die Russen immer noch damit beschäftigt waren, ihre Pferde loszubinden. Einige begriffen, dass sie es nicht rechtzeitig schaffen würden, und begannen, zu Fuß zu flüchten. Anderen gelang es, ihr Pferd loszubinden, doch sie konnten nicht mehr aufsteigen. Zwei Männer hielten Glebs Pferd lange genug fest, damit er in den Sattel kam, doch die Auerochsen waren schon fast bei ihnen. Ein Russe stellte sich ihnen armeschwenkend in den Weg – ein sinnloser Versuch, die Herde umzulenken. Er wurde wie eine Kegelfigur niedergetrampelt. Glebs Pferd drehte sich und bäumte sich auf. Er schlug mit der Peitsche auf das Tier ein und nahm die Zügel kürzer. Einer seiner Füße war aus dem Steigbügel gerutscht. Der schwarze Bulle hielt geradewegs auf Ross und Reiter zu und rammte sein Horn durch Glebs Oberschenkel bis tief in den Pferdeleib hinein. Dann hob er Pferd und Reiter vom Boden und schleuderte sie zur Seite wie Puppenkörper. Vallon sah einen Mann vom Pferd springen, nur um vor den Hufen einer Auerochsen-Kuh zu landen, die ihn einfach zur Seite fegte, wo er mit verdrehten Gliedern liegen blieb. Ein Jungbulle kam mit wilden Sprüngen die Wiese herunter und zerschmetterte einem Mann mit dem Hinterhuf das Gesicht. Es herrschte vollkommenes Durcheinander. Brüllende Auerochsen, wiehernde Pferde, schreiende Männer, kläffende Hunde.

Der alte Bulle rannte in vollem Galopp in den Fluss und teilte das Wasser in zwei hohe Wellen, die sich wie Flügel zu seinen Seiten türmten. Beinahe die gesamte Herde folgte ihm, und einige Tiere preschten gefährlich nahe an den Booten ins Wasser und ließen Gischt auf die Insassen regnen.

«Rudert ans andere Ufer!», schrie Vallon.

«Was ist mit Wayland?»

«Macht euch um den keine Sorgen. Er ist derjenige, der diesen Sturm entfacht hat.»

Bis die Ruderer ihren Rhythmus gefunden hatten, saßen einige der Russen wieder in den Sätteln und nahmen die Verfolgung auf. Vom Pferderücken aus versuchten sie, Vallons Boote mit Pfeilen zu treffen. Ein paar Männer galoppierten zum Ende der Wiese, um besser zielen zu können, wenn die Boote vorbeikämen. Jeder Ruderschlag brachte die Boote weiter über den Fluss, und als sie auf der Höhe der Bogenschützen ankamen, war die Reichweite der Pfeile zu kurz. Am Ende der Wiese stand dichter Schilf bis ans Flussufer, sodass eine Verfolgung sehr schwierig war. Langsam wurden die Rufe hinter ihnen schwächer.

«Rudern einstellen», befahl Vallon. «Das Horn blasen.»

Dreimal ertönten die Klänge, bis am Ufer zwei hastende Gestalten auftauchten. Vallon fuhr zu ihnen hinüber. Wayland und Syth wateten ins Wasser und kletterten an Bord. Ihre Kleider waren verdreckt und zerrissen, ihre Haut von Gestrüpp zerkratzt und blasig von Nesseln. Sie setzten sich nebeneinander und rangen keuchend um Atem.

«Wo zum Teufel wart ihr? Warum seid ihr beim ersten Signal nicht gekommen?»

«Ich habe es nicht gehört», sagte Wayland.

«Nicht gehört? Was hast du denn getrieben?»

Syth biss sich auf die Faust, um ihr Lachen zu unterdrücken. Vallon und Hero wechselten einen Blick, nur ihre Augen bewegten sich, dann kamen sie gleichzeitig zu derselben Schlussfolgerung und starrten in die Ferne, als hätten sie dort soeben etwas unglaublich Interessantes entdeckt.

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