XXXI

Die Feuer waren schwache, rötliche Flecken in der Dunkelheit, als Vallon die Frauen und die alten Leute zum Ufer begleitete. Selbst von dort aus konnte er die Shearwater kaum erkennen, die nur ein paar Fuß entfernt vertäut war.

«Garrick?»

«Hier, Herr.»

Vallon half den Leuten im Dunkeln an Bord. Einmal schloss sich seine Hand um einen weichen, straffen Frauenarm.

«Lass los», zischte Caitlin. «Ich brauche deine Hilfe nicht.»

Vallon hielt sie weiter fest. «Aber ich bin dir für deine sehr dankbar.»

Sie musste sich umgedreht haben. Ihr Atem strich über sein Gesicht, und er roch ihren nach Duftöl riechenden Schweiß. Dann legte sie ihm die Hand um den Nacken und zog ihn dicht zu sich heran.

«Vallon, bring Helgi sicher zurück.»

Dann war sie weg, nur ihr Geruch und das Gefühl ihrer Hand im Nacken blieben. Garricks leise Worte holten ihn in die Wirklichkeit zurück.

«Alle an Bord, Herr.»

Vallon trat zurück. «Wie ist der Gezeitenstand?»

«Die Flut steigt noch.»

«Dann beeil dich.»

«Woher wissen wir, wann es sicher ist, zurückzukommen?»

«Das bekommst du schon mit.»

Vallon lauschte auf plätschernde Ruder, die ihre Flucht verraten würden. Doch er hörte nur ein paarmal leise die Ruderblätter eintauchen, dann verschmolz das Geräusch mit dem Rauschen des Flusses.

«Es gefällt mir nicht, dass wir die Shearwater nicht mehr in Sichtweite haben», murmelte Raul. «Wenn es nicht so läuft, wie wir es uns vorstellen, könnten Drogo und Helgi versuchen, uns das Schiff abzunehmen.»

«Wir können uns nicht um alle Risiken gleichzeitig kümmern.»

Vallon ging zum Lager zurück, zündete eine Fackel an und tat so, als würde er die Verteidigungsanlagen begutachten. Es regnete immer noch. Dann setzte er sich an eines der Lagerfeuer und wartete. Drogo und Helgi hatten sich weggeschlichen, um die isländischen Kämpfer auszusuchen und die Pferde zu satteln. Vallon starrte in die Glut, in die pulsierenden Flammen, aus deren wechselnder Gestalt er möglicherweise sein Schicksal hätte herauslesen können, wenn er es verstanden hätte, sie zu deuten.

«Raul und seine Männer warten beim Fluss», murmelte Wayland.

Vallon rieb sich die Augen. «Ich muss mich schämen. Du hast mich beim Dösen erwischt, während ich euch alle herumgescheucht habe.» Er schüttelte den Kopf. Er konnte nicht das Geringste sehen. Es war so dunkel, dass er fast das Gleichgewicht verlor, als er aufstand. «Nehmt meinen Arm», sagte Wayland.

Er führte Vallon zum Ufer. Nur das Gurgeln der Wasserwirbel sagte Vallon, dass er am Fluss war.

«Alle da?»

«Ja», antwortete Raul. «Und alles ins Beiboot gepackt.»

«Wie wirst du die Mischung in Brand setzen?»

«Jeder von uns hat eine abgeschirmte Lampe und eine Fackel dabei.»

«Die Gezeiten unterstützen uns. Ihr braucht nicht zu rudern, um zu ihrem Lager zu kommen.»

«Hauptsache, wir sehen es überhaupt.»

«Kommt her», sagte Vallon.

Er umarmte einen nach dem anderen und wünschte ihnen Glück. Auch den drei Isländern. Dann verschmolzen die sechs mit der Finsternis, stiegen in das unsichtbare Boot und glitten auf dem unsichtbaren Fluss davon.

Wie ein Blinder tappte Vallon ins Lager zurück. Die Feuer waren zu Asche heruntergebrannt. Vallon legte für die Späher der Wikinger neue Holzscheite auf, dann ging er zu Drogo und den Übrigen, die den Angriff aus dem Hinterhalt durchführen sollten. Insgesamt waren sie vierzehn – neun Fußsoldaten und fünf Reiter.

«Bereit?»

«Die Nacht ist so dunkel wie ein Kellerloch.»

«Aber nicht für Wayland. Gehen wir.»

Sie wandten dieselbe Methode an wie bei der Flucht aus Olbecs Burg. Jeder Mann hielt sich an einem Knotenstrick fest, und Wayland an der Spitze suchte den Weg. Der Hund trabte voraus und stellte sicher, dass niemand diesen Weg kreuzte. Die Nachhut wurde von den Pferden gebildet, deren Hufe mit Segeltuch umwickelt worden waren. Sie kamen nur sehr langsam voran, und die Stimmung war gereizt. Die Männer stolperten über Zweige und verfluchten die Sumpflöcher und blutsaugenden Insekten, bis Vallon über ihr Gelärm so aufgebracht war, dass er sich an dem Strick entlangtastete und ihnen drohte, den nächsten Tölpel umzubringen, der auf die Natur schimpfte.

Er hatte zusammen mit Drogo entschieden, wo der Hinterhalt gelegt werden sollte, nachdem Wayland vom Lager der Wikinger zurückgekehrt war. Es handelte sich um einen breiten Hügelkamm mit einem kahlen Einschnitt zwischen den Bäumen, und die Stelle lag auf dem direktesten Weg zwischen den feindlichen Lagern. Bei Tag hatte man von hier aus einen guten Blick auf den nächsten Hügelrücken und den Fluss zur Linken. Doch jetzt war der Fluss nicht zu erkennen, und auch keine Bäume, einfach gar nichts. Vallon hatte nur Waylands Wort, dass sie die richtige Stelle erreicht hatten.

«Stell fest, was die Wikinger machen. Wenn sie sich in Bewegung setzen, kommst du so schnell wie möglich zu uns zurück.»

Die Männer ließen sich an der Stelle nieder, wo sie standen, und wickelten sich gegen den Regen und die schwärmenden Blutsauger in Decken.

Drogo tastete sich bis zu Vallon. «Sie werden bei so miesem Wetter bestimmt nicht angreifen.»

«In diesem Fall haben wir nur eine schlaflose Nacht verloren.»

Doch Vallon wusste, dass das nicht stimmte. Er stellte sich vor, wie die Wikinger friedlich schliefen, während seine Kampftruppe immer erschöpfter und demoralisierter wurde. Wenn der Feind in dieser Nacht nicht kam, würde er am nächsten Tag Schwierigkeiten haben, seine Autorität durchzusetzen.

Es war unmöglich, in dieser Dunkelheit die Zeit zu schätzen. Die Stechmücken versteckten sich in seinem Haar und seinen Augenbrauen. In seinem Gesicht schwollen Beulen an. Die Männer murrten über die Quälerei.

«Dem Nächsten, der sich muckst, schneide ich die Zunge ab.»

Doch damit hinderte er sie nicht am Fluchen, als aus dem Nieselregen ein heftiger Schauer wurde. Vallon stand mit dem Rücken zum Wind. Er war bereit zuzugeben, dass sie sich die Nacht umsonst um die Ohren geschlagen hatten, und da hörte es auf zu regnen. Das geschah völlig übergangslos. Der Regen hörte einfach auf, und ein kühler Wind strich durch die Bäume.

Vallon drehte sich mit dem Gesicht in den Wind. «Es ist noch Zeit.»

Nach und nach verzog sich die dichte Bewölkung. Der Mond trat hervor, und er schien hell genug, um im Fluss Sandbänke aufschimmern und die Bäume auf dem nächsten Hügel als tintenschwarze Umrisse hervortreten zu lassen. Vallon hob die Hand. «Alle zu mir, Männer.»

Frierend rappelten sie sich auf und rieben sich über die Arme. Vallon lachte und klopfte dem einen oder anderen auf den Rücken. «Ein bisschen Bewegung wird euch allen guttun. Nichts bringt das Blut so in Wallung, wie das des Gegners zu vergießen.» Er sah sich um. «Drogo, bezieh mit den Reitern links zwischen den Bäumen Stellung.» Er deutete auf eine einzelne Fichte in der Hügelscharte. Ihre unteren Zweige hingen bis auf die Erde herab. «Infanterie auf die andere Seite. Ich werde die Falle von dort aus zuschnappen lassen. In dem Moment, in dem ich es tue, löse ich einen Pfeilhagel aus. Drogo, das ist das Signal für deine Abteilung, den Angriff zu starten. Wenn wir es richtig machen, wissen die Wikinger nicht, in welche Richtung sie sich zuerst wehren sollen.»

Einige der Isländer hatten Vallon nicht verstanden und sahen sich schulterzuckend an. Vallon wiederholte seine Befehle und wünschte sich, er würde besser Nordisch sprechen.

Drogo zog die Nase hoch. «Es überrascht mich, dass du es vorziehst, zu Fuß zu kämpfen.»

«Ohne einen erfahrenen Soldaten an ihrer Seite werden die Isländer den Angriff nicht durchführen.»

Drogo ging, um die Anordnungen weiterzugeben. Inzwischen hatte sich der Himmel weitgehend aufgeklart, und nur noch einzelne Wolken zogen über das indigoblaue Firmament. Beim Geräusch hastiger Schritte erstarrte Vallon.

«Da kommt Wayland.»

Das Geräusch wurde lauter. Vallon spähte angestrengt in den Wald. Da zischte jemand hinter ihm, und er fuhr herum. Das konnte nicht Wayland sein. Die Schritte kamen aus der falschen Richtung. Die Wikinger mussten entdeckt haben, dass das Lager verlassen war. Sie hatten einen Läufer losgeschickt, um ihren Anführer zu warnen.

Vallon hastete in Deckung. «Bleibt, wo ihr seid. Ich kümmere mich um ihn.»

Ein Mann lief auf den Hügelkamm, sprang über einen umgestürzten Baumstamm, und rannte weiter. Vallon trat ihm einfach nur mit gezogenem Schwert in den Weg, und der Wikinger rammte sich mit seinem Schwung Vallons Schwert selbst ins Herz. Er sank tot in die Knie, und Vallon stemmte sich mit dem Fuß an seiner Schulter ab, um sein Schwert herauszuziehen. Noch während er dabei war, tauchte eine weitere Gestalt auf dem Hügelkamm auf. Der Mann sah Vallon, kam mit rudernden Armen zum Stehen, und wandte sich zur Flucht.

«Ihm nach!»

Ein halbes Dutzend Isländer sprang aus den Verstecken. Der Wikinger schlug einen Haken und tauchte zwischen den Bäumen ab.

«Lasst ihn nicht entkommen!»

Die Verfolger setzten ihm nach. Vallon hörte sie durch den Wald brechen, dann wurden die Geräusche schwächer, und schließlich war nur noch der Wind zu hören, der durchs Geäst seufzte, und Vallons eigener heftiger Herzschlag.

«Wir hätten die Stellung nach hinten absichern sollen», sagte Drogo.

Vallon stampfte auf. «Die Männer hätten wachsamer sein müssen.»

Er hockte über sein Schwert gebeugt auf den Fersen, als die Verfolger keuchend und kopfschüttelnd zurückkamen. Als der letzte eintraf und bestätigte, dass der Wikinger entkommen war, erhob sich Vallon seufzend und rieb sich über die juckende Augenbraue. Drogo stand müßig daneben. Vallon ließ die Arme sinken.

«Wir gehen besser ins Lager zurück», sagte Drogo. «Die beiden anderen Späher versuchen wahrscheinlich, es zu plündern.»

«Du gehst. Ich warte auf Wayland.»

Die Isländer setzten sich gerade in Marsch, als Vallon auf dem nächsten Hügelrücken eine Bewegung wahrnahm. «Wartet.»

Ein Schatten bewegte sich zwischen den Bäumen. Vallon verlor ihn aus dem Blick, dann entdeckte er ihn auf dem Hang wieder. Es waren zwei Schatten, die sich lautlos gleitend von dem Hügel herunter bewegten.

«Das sind Wayland und sein Hund.»

Vallon wartete bei dem kahlen Hügeleinschnitt. Wayland hastete den Hügel herauf. Keuchend erreichte er Vallon und starrte fassungslos den Kampftrupp an. «Was steht ihr hier so herum? Die Wikinger sind nicht weit hinter mir.»

Vallon fuhr sich mit der Hand übers Kinn. «Der Hinterhalt ist entdeckt worden. Die Späher haben bemerkt, dass wir nicht mehr im Lager sind, und sie haben zwei Männer losgeschickt, um Alarm zu schlagen. Einen haben wir erledigt, aber der andere ist durchgekommen.»

«Nein, ist er nicht.»

Es dauerte einen Moment, bis Vallon begriff. «Du hast ihn getötet?»

«Der Hund hat ihn erwischt.» Wayland schob Vallon von der Hügelkuppe zurück. «Wir müssen uns verstecken. Sie sind jeden Augenblick da!»

Da überwand Vallon seine Überraschung. «Schnell! Zurück auf eure Positionen.» Er zog Wayland neben sich zu Boden. Gemeinsam spähten sie von der Hügelkuppe in die Richtung, aus der die Wikinger kommen würden. «Hat Raul mit dir Kontakt aufgenommen?»

«Nein. Er war noch nicht bei dem Lager angekommen, als ich weg bin.»

«Verdammt! Mit wie vielen haben wir es zu tun?»

«Sechzehn.»

Vallon sah sich nach Drogo um. Er lag eine Armeslänge entfernt neben ihm auf dem Boden und stützte sich auf die Ellbogen. «Hast du das gehört?»

«Sie sind sechzehn. Wir sind vierzehn. Du wirst es vielleicht noch bereuen, dass du den Trupp zum Feuerlegen geschickt hast.»

«Die Pferde gleichen es aus.»

Der Hund fiepte. Wayland spannte sich an. «Da sind sie. Kommen gerade über den Hügelkamm.»

Vallon machte eine Kolonne aus, die sich zwischen den Bäumen hindurchbewegte. Dann stieg sie den gegenüberliegenden Hang hinunter, verschwand in der dunklen Senke und tauchte wieder auf, als sie dem Hinterhalt auf Vallons Hügel entgegenstieg. Das Mondlicht blitzte auf Äxten und Speerspitzen.

Vallon packte Drogo am Arm. «Richte deinen Angriff auf Thorfinn aus. Ich gebe das Zeichen. Wir werden nicht angreifen, bevor wir sie mit ausgestrecktem Arm berühren können. Also beherrsch dich. Und sorg dafür, dass Helgis Temperament nicht mit ihm durchgeht.»

«Verstanden. Und jetzt lass mich los. Der Gegner steht uns ja fast schon auf den Zehen.»

Vallon ließ ihn los, und Drogo hastete davon.

«Wo soll ich Stellung beziehen?», fragte Wayland.

«Bei den Fußsoldaten. Ziele auf Thorfinn. Wenn du ihn tötest, gewinnen wir diesen Kampf mit Leichtigkeit. Halt dich aus dem direkten Kampfgetümmel und schieß deine Pfeile dorthin, wo sie dem Gegner den größten Schaden zufügen. Gott schütze dich.»

Wayland nickte und rannte davon.

Vallon wartete noch etwas, bevor er sich selbst von dem Hügelkamm zurückschob. Als er außer Sicht war, rannte er los, um sich unter der Fichte zu verstecken. Sein Blick zuckte herum und überprüfte, dass alle seine Männer gut verborgen waren. Dann hörte er die stampfenden Schritte der herankommenden Wikinger und murmelnde Stimmen. Er schob sich tief unter die Zweige und hielt mit der Hand eine Lücke auf, durch die er die Wikinger beobachten konnte. Ihm war schlecht vor Anspannung.

Dann stapfte der Anführer auf den Hügelkamm. Der Blick aus seinen hellen Augen wanderte von rechts nach links, sein Atem bildete Nebelwolken. Er trug eine Axt über der Schulter und ein Schwert an der Seite, und ein weiteres Schwert steckte in seinem Gürtel. Schlag der Schlange das Haupt ab, flüsterte es drängend in Vallons Kopf. Doch er widerstand dem Impuls. Er wartete mit gezogenem Schwert ab. Thorfinn Wolfsatem ging keine zwanzig Fuß entfernt an ihm vorbei, der Helm baumelte an seinem Gürtel wie die Trophäe eines fremdartigen Wesens. Vallon zählte, während die Männer vorbeizogen. «… acht, neun, zehn …» Dann schloss er die Augen und küsste sein Schwert.

«Angriff!»

Helgis Schrei, gefolgt von donnerndem Hufschlag, ein verzweifelter Ruf von Drogo, und das Zischen eines einzelnen Pfeils.

Wutschnaubend trat Vallon auf der anderen Seite unter dem Baum heraus. Thorfinn stand unverletzt da und brüllte seinen Männern Befehle zu. Helgi galoppierte mit erhobenem Speer auf die feindliche Linie zu. Drogo und die anderen Reiter folgten ihm ohne rechte Ordnung.

«Ich bringe dich um», murmelte Vallon und hastete rasend vor Zorn auf den nächststehenden Feind zu.

Der Wikinger drehte sich vor Überraschung mit offenem Mund um, und Vallon stieß ihm das Schwert in den Rachen. Der Hieb verursachte ein Geräusch wie ein Hackbeil, das in einen Fleischklumpen fährt. Zähne und Blut spritzten auf. Der Wikinger schlug sich die Hände vors Gesicht und brach zusammen.

«Auf sie, Männer!», rief Vallon, der sich den Wikinger hinter seinem ersten Opfer vornahm. Der Mann drehte sich zu ihm herum. Vallon wehrte seinen Angriff ab, wich einen Schritt zurück, und führte einen Gegenangriff aus. Sein Feind fing den Hieb mit dem Schild ab. Vallon täuschte links an, dann rechts, wieder links, rechts, brachte den Mann so aus dem Gleichgewicht, erkannte die Lücke in seiner Deckung und stieß zu. Der Mann ließ sein Schwert fallen und sah an seinem Arm herab, der nur noch an einem Muskelstrang baumelte. Vallon sprang breitbeinig zurück, um die Kampfsituation neu einzuschätzen.

Es war eine Katastrophe. Die isländischen Fußsoldaten stolperten gerade erst zu ihrem Einsatz, und Helgi ritt auf der Suche nach einfachen Zielen tänzelnd mit seinen Getreuen herum. Nur Drogo und Fulk kämpften diszipliniert, ritten Steigbügel an Steigbügel gegen den Feind, der eine ließ sein Schwert links, der andere rechts hinabfahren. Thorfinn schwang seine Axt in weiten Bögen herum und brüllte seinen Männern zu, sie sollten sich um ihn sammeln.

Vallon warf einen Blick über die Schulter und sah einen Isländer davontaumeln, die Hände um einen Speer gekrampft, der aus seinem Bauch ragte. Der Krieger, der ihn getroffen hatte, wich Vallons Hieb aus und rannte zu der Gruppe um seinen Anführer. Vallon zerrte zwei Isländer weg, die auf einen gefallenen Wikinger einhackten.

«Er ist tot, ihr Narren. Alle Mann zu mir!»

Nur sieben Isländer scharten sich um ihn, zwei waren getötet worden. Vallon zählte fünf tote Wikinger, doch die übrigen hatten um Thorfinn einen Schildwall gebildet und wehrten die Reiter mit ihren Speeren ab.

«Drogo, du musst den Wall durchbrechen! Zieh dich zurück und greif erneut an. Aber dieses Mal richtig.»

Drogo warf ihm einen verzweifelten Blick zu, schien den Kopf zu schütteln, dann ließ er sein Pferd wenden und rief den anderen zu, dass sie ihm folgen sollten. Zwanzig Schritt vom Feind entfernt drehten sie um und formierten sich. Eines der Pferde war schwer verletzt. Es brach in die Knie und warf dabei seinen Reiter ab. Die Wikinger wussten, dass ihre Stellung beinahe unangreifbar war, und brüllten Herausforderungen.

Drogo wirbelte sein Schwert über dem Kopf. «Angriff!»

Vallon packte den nächstbesten Isländer am Arm. «Mir nach», rief er und rückte auf den Gegner vor.

Die Reiter waren vor ihm an dem Schildwall. Mit Kopf und Schultern über seiner Männer hinausragend sprang Thorfinn nach vorn und führte einen mächtigen Hieb aus. Eines der Pferde galoppierte davon, der Reiter hing schwankend im Sattel.

Dann stand Vallon von Angesicht zu Angesicht mit dem Feind. Ein Speer wurde nach ihm geworfen, und er konnte ihn gerade noch ablenken. Er versuchte, weiter vorzurücken, doch die Schilde schlossen sich wieder, und er fand keine Lücke, um sich zwischen die Wikinger zu schieben. Zu seiner Rechten versuchte ein Isländer, dem der Kampf anscheinend den Verstand geraubt hatte, mit Fußtritten gegen den Schildwall vorzugehen. Ein Wikinger rammte ihm seinen Schild ins Gesicht, sprang aus der Reihe vor, und stieß dem Isländer sein Schwert in den Leib. Schreiend starb der Mann, schaumiges Blut quoll aus seinem Mund. In beinahe demselben Moment brach Thorfinn durch den Wall. Aus seinen Augen leuchtete die Kampfeslust. Sein Schwert schnellte vor, und ein Isländer knickte in der Mitte ein wie ein abgehackter Schössling.

Vallon war klar, dass sie ihren Vorteil verspielt hatten, und auch Drogo wusste es. Er riss am Zügel, um sein Pferd aus dem Gedränge zu bringen. «Das ist nutzlos», rief er. «Wir versuchen, euren Rückzug zu decken.»

Vallon ging rückwärts. «Rückzug in geschlossener Ordnung. Achtet auf euren Nebenmann.»

Er hatte sich erst ein paar Schritte zurückgezogen, als ein Isländer zu rennen begann und die anderen ihm in wilder Flucht folgten. Vallon blieb allein vor den Wikingern zurück.

«Lauf!», rief Drogo.

Doch Vallon blieb stehen, wo er war. Sein Plan war nicht aufgegangen. Dies war seine Todesstunde. Er beobachtete die Wikinger, hörte ihre Jubelschreie und sah die Welle der Krieger auf sich zurollen.

Drogo galoppierte durch sein Gesichtsfeld und hieb mit grausamer Präzision auf die Wikinger ein. Eine Lücke öffnete sich in ihrer Reihe. Ein weiterer Kontrahent stürmte nach vorn.

Vallon packte sein Schwert fester, das Gesicht zu einer hässlichen Fratze verzogen. «Kommt her, damit wir gemeinsam zur Hölle fahren.»

Zwei Schritte vor ihm stolperte sein Angreifer und fiel aufs Gesicht. In seinem Rücken steckte ein vibrierender Pfeil.

«Rennt!», rief jemand, und Vallon gewahrte Wayland, der den nächsten Pfeil einspannte.

Vallon flüchtete hinter den Isländern her, verfolgt von der kreischenden Horde der Wikinger. Thorfinns Rufe hallten durch den Wald. Seine Männer blieben stehen. Zwischen den Bäumen hindurch sah Vallon den Kriegsherrn seine Axt über dem Kopf schwingen. Seine Männer gaben die Verfolgung auf und hasteten zu ihm zurück.

Vallon erblickte Drogo. «Sie sind hinter unseren Waren her», rief er. «Ruf die Isländer zusammen.»

Drogo trabte mit seinem verschreckten Pferd zu ihm. «Unmöglich. Der nächste ist eine halbe Meile weit weg und rennt immer noch.»

«Wir hätten sie besiegt, wenn du Helgi im Zaum gehalten hättest. Warum hast du meine Befehle nicht befolgt?»

«Mach nicht mich für dein Versagen verantwortlich. Wir haben verloren, weil wir in der Unterzahl waren.»

Vallon fluchte und stapfte dem Gegner nach. Doch die Wikinger waren verschwunden, der Hügelkamm lag verlassen vor ihm. Vallon ließ den Blick über den Schauplatz seiner Niederlage schweifen, als der Klang eines Horns aus dem Wald aufstieg. Dann wurde das Horn ein zweites Mal geblasen, es klang hohl und verzweifelt. Vallon drehte sich um. Einen Moment lang hielten alle inne und versuchten, die Botschaft des Horns zu deuten.

Da kam ein Brüllen von vorn, und der Anführer der Wikinger kam zurück. Vallon wollte es nicht darauf ankommen lassen und flüchtete zwischen die Bäume. Die Wikinger hasteten vorbei und verschwanden über dem Hügelkamm.

Drogo ritt zu Vallon herüber. «Heißt das, dass der Deutsche das Schiff gefunden hat?»

Vallon rang vorgebeugt um Luft. «Was sonst?»

Immer noch wurde das Horn geblasen. Vallon richtete sich auf und drehte sich zu dem Schlachtfeld um. Das Mondlicht wich einer fahlen Dämmerung. Dampfschwaden stiegen von den umherliegenden Toten auf. Vallon sah, dass sich der Wikinger, dessen Arm er nahezu abgetrennt hatte, im Kreis um die nutzlose Gliedmaße wand. Er hob sein Schwert. Der Mann erstarrte, ihre Blicke trafen sich von den beiden Enden eines Weges aus, den jeder gehen muss, wenn seine Zeit gekommen ist. Vallon ließ die Klinge niederfahren, und der Wikinger krümmte sich. Dann wurde sein Körper schlaff.

Drogo verschaffte sich einen Überblick über die Gefallenen.

«Wie viele?», rief Vallon.

Drogo sah ihn über die Schulter an. «Ich glaube, sechs von ihnen und fünf von uns.»

«Vergiss die beiden Späher nicht, die wir getötet haben.»

«Es könnten auf unserer Seite auch noch mehr Tote gegeben haben. Ich weiß nicht, wo Helgi ist. Er hat einen schweren Hieb abbekommen.»

Vallon erinnerte sich an den Reiter, der schwankend im Sattel seines fliehenden Pferdes gehangen hatte. Er hob die Hand. «Sein Pferd ist dort entlang ausgebrochen.»

Fulk machte sich auf die Suche. Drogo stieg aus dem Sattel und wischte die Klinge seines Schwertes mit einer Handvoll Kiefernnadeln ab. Er sah Vallon kurz an, schüttelte den Kopf, und rammte sein Schwert in die Scheide.

Vallon ging ein Stück zur Seite und hob das Gesicht in die Morgendämmerung. Tief atmete er die nach Harz riechende Luft ein und wunderte sich, dass er noch lebte.

Einer der Isländer kam aus dem Wald und rief etwas.

«Sie haben Helgi gefunden.»

Sein Pferd hatte ihn weit getragen, bevor er aus dem Sattel gestürzt war. Einige Isländer umringten ihn. Er lag auf der Seite und hatte den Rücken schräg an den Stamm einer umgestürzten Birke gelehnt. Sein Gesicht war kalkweiß, seine Augen ausdruckslos, ein Blutfaden lief von einem Winkel seiner dunkel verfärbten Lippen herab. Vallon wollte neben ihm in die Hocke gehen, aber Drogo zog ihn zurück.

«Deine Visage ist das Letzte, was er jetzt sehen will.»

Drogo kniete sich vor Helgi und hob ihm den schlaffen Arm von der Brust. Vallon verzog das Gesicht. Thorfinns Axt hatte eine entsetzliche Verletzung angerichtet. Sie hatte Helgi unter der Achsel getroffen und war schräg durch seinen Oberkörper gefahren, sodass man das nur noch schwach schlagende Herz unter den zertrümmerten Rippen sehen konnte. Der Hieb hatte seine Innereien zerfetzt, und aus den aufgerissenen Därmen sickerte eine übelriechende Flüssigkeit. Drogo nahm Helgis Hand.

Vallon sah die Isländer an. «Habt ihr jemanden losgeschickt, um seine Schwester zu holen?»

«Bis sie hier ist, hat er längst den Geist aufgegeben.»

Vallon setzte sich auf den Baumstamm und sprach lautlos Drogos Gebet mit. «Gloria patri, et filio et spiritu sancto …»

Als er wieder aufsah, war der stolze und schöne Helgi nicht mehr von dieser Welt. Vallon empfand keinerlei Genugtuung über seinen Tod. Er war lästig gewesen, aber kein Feind. Vallon erhob sich und sah über den Fluss. Ein schöner Tag kündigte sich an, Sonnenstrahlen warfen leuchtende Flecken auf den Waldboden, goldfarben schimmernde Lichtbalken fielen schräg zwischen die Nadelbäume. In der Ferne war das Hämmern eines Spechts zu hören.

Ein Ruf ertönte. Dann noch einer, und bis Vallon zurück auf dem Hügelkamm war, schallte ein Chor triumphierender Schreie durch den Wald. Der Anblick, der sich ihm bot, raubte ihm beinahe den Atem. In der Richtung des Wikingerlagers stieg eine rußige Rauchsäule in den Himmel.

Er grinste Drogo an. «Doch kein so schwachsinniger Plan, was?»

Drogo lachte kehlig. «Eines Tages ist auch dein Glück aufgebraucht, und darauf warte ich nur.»

«Das Glück ist mit den Tapferen.»

«Versuch das Helgis Schwester zu erzählen.»

Vallon wurde wieder ernst. «Du bringst ihr jetzt besser bei, was passiert ist.»

Drogo nickte und stieg aufs Pferd. Wayland stand in der Nähe, und als Drogo sein Pferd umdrehen ließ, begegneten sich ihre Blicke und versanken kurz ineinander. Dann schaute Drogo zu Vallon hinüber, lächelte seltsam und ritt davon.

Die Isländer trugen ihre Gefallenen zum Lager zurück und überließen die getöteten Wikinger, deren Waffen sie eingesammelt hatten, dem Begräbnis durch ihre Gefährten oder den Wölfen und Krähen. Als sie fort waren, stiegen Vallon und Wayland zum Ufer hinunter, um Rauls Rückkehr zu erwarten. Der Falkner saß auf einem Stein, streichelte seinen Hund, und starrte ans andere Flussufer hinüber. Als er ihn so sah, dachte Vallon, wie stolz er wäre, ihn zum Sohn zu haben.

«Du bist ein geborener Krieger», sagte er. «Obwohl ich von Kindesbeinen an für den Kampf geschult wurde, hast du mehr Männer getötet als ich in deinem Alter.»

«Das Töten bereitet mir keinerlei Vergnügen.»

«Das überrascht mich. Du hast mir erzählt, dass dein Großvater ein Wikinger war und immer kämpfen wollte. Ich habe geglaubt, du wärst stolz auf seine Erfolge.»

«Das waren Märchen, die er mir erzählt hat, während er sein Gemüse anbaute.» Wayland warf Vallon einen kurzen Blick zu. «Habt Ihr denn Vergnügen am Töten?»

Vallon dachte darüber nach. «Die Niederlage meiner Feinde bereitet mir Genugtuung. Die Welt ist ein gefährlicher Ort. Das Leben ein tückisches Spiel. Deine Falken wissen das.»

Wayland lachte spöttisch auf. «Wenn Ihr mit den Tieren im Wald gelebt hättet, dann wüsstet Ihr, dass sie nur aus Notwendigkeit töten. Einzig der Mensch betreibt das Töten als Sport.»

«Ich betreibe es nicht als Sport.»

«Wozu sonst? Habt Ihr geglaubt, dass die Herrscher, deren Armeen Ihr angeführt habt, Krieg führten, damit die Welt besser würde?»

Vallon atmete so tief ein, dass seine Lunge gegen die Rippen drückte. Noch vor zwei Jahren hätte er jeden Bauern zu Tode gepeitscht, der es gewagt hätte, ihm solch eine Frage zu stellen, und am nächsten Morgen hätte er den Zwischenfall schon wieder vergessen gehabt.

Wayland beobachtete ihn. «Ihr antwortet nicht.»

Vallon lag die Antwort auf der Zunge, aber er konnte sie nicht aussprechen. Er hatte sich zu diese Reise entschlossen, um für eine Todsünde zu büßen, und er hatte geschworen, niemanden umzubringen, es sei denn, er musste sich oder seine Leute verteidigen. Und nun, sechs Monate später, zählte er schon nicht mehr, wie viele von seiner Hand gestorben waren. Und es würden noch mehr werden.

Er lächelte. «Ich kämpfe, weil ich nichts anderes kann.» Er legte Wayland die Hand auf den Arm. «Und jetzt geh. Syth macht sich bestimmt Sorgen um dich.»

Wayland stand auf.

Vallon blinzelte zu ihm hinauf. «Bevor Drogo weggeritten ist, habt ihr einen Blick gewechselt. Als ob ihr ein Geheimnis miteinander hättet.»

«Und was für eine Art Geheimnis sollte ich mit Drogo haben?»

Das schräg einfallende Licht ließ Waylands Gesicht im Schatten. Vallon nickte. «Dann habe ich es mir wohl nur eingebildet. Lass Syth nicht warten.»

Als Wayland gegangen war, verschränkte Vallon die Hände hinter dem Kopf und starrte in den Himmel. Ein paar Gänse flogen in einer so genau ausgerichteten Formation flussaufwärts, dass sich beinahe ihre Schwingen berührten. Bald würden sie nach Süden ziehen und nur einige Tage für eine Strecke brauchen, die Vallon und seine Leute mit der Shearwater nicht einmal in einem Monat zurücklegen konnten. Der Winter stand vor der Tür. Sie hatten nichts zu essen. Die isländischen Schiffsführer hatten Raul erklärt, dass es um diese Jahreszeit möglicherweise nicht mehr zu schaffen war, das Nordkap zu umsegeln. Vallon hatte so vieles abzuwägen, doch seine Gedanken waren unstet, und er stellte fest, dass sie immer wieder zu Caitlin wanderten.

Das Boot tauchte inmitten glitzernder Wasserreflexe auf. Vallon kam auf die Füße und beschattete die Augen mit der Hand. Sechs Männer waren aufgebrochen, und nur fünf kehrten zurück. Er erkannte Rauls gedrungenen Körper und betete, dass der fehlende Mann nicht Hero oder Richard war. Er ging bis zur Spitze der Sandbank und grüßte zu den Brandstiftern hinüber. Als er Hero und Richard ausmachen konnte, dankte er Gott. Dann überkam ihn das schlechte Gewissen – der fehlende Mann war ein Isländer, ein Mann, dessen Namen er vergessen hatte und an dessen Gesicht er sich nicht erinnern konnte.

Als das Boot näher kam, sah er, dass Rauls Bart zu einer krausen Matte verbrannt war und seine Augenbrauen so versengt waren, dass sie nur noch schwarze Flecken bildeten. Vallon half ihm beim Aussteigen.

«Wir haben den Rauch gesehen. Du warst unsere Rettung.»

In den Gestank versengten Haars gehüllt, ging Raul hinter ihm her. Bei einem Baum ließ er sich erschöpft zu Boden sinken und zupfte mit Fingern voller Brandblasen an seinen nicht mehr vorhandenen Augenbrauen herum. «Ist der Plan mit dem Hinterhalt nicht aufgegangen?»

«Wir haben den Gegner nicht so schwer getroffen, wie ich gehofft hatte. Wie ist es bei dir gelaufen?»

Raul wedelte mit der Hand in Richards und Heros Richtung und schloss die Augen.

Hero und Richard setzten sich neben Raul auf den Boden. Sie wirkten angestrengt, aber erstaunlich gelassen. Dann gesellten sich auch die beiden überlebenden Isländer zu der Gruppe.

«Die Nacht hat nicht gut angefangen», sagte Hero. «Es war so dunkel, dass wir jede Orientierung verloren haben. Die Strömung hat uns immer wieder ans Ufer getrieben. Schließlich nahmen wir an – einfach, weil inzwischen so viel Zeit vergangen war –, dass wir unterhalb der Flussbiegung wären, aber wir konnten das Wikingerlager trotzdem nicht finden. Die Mücken haben uns bei lebendigem Leib aufgefressen. Wir waren ziemlich entmutigt und haben beschlossen, ans Ufer zu rudern, um uns auf den Rückweg zu machen, sobald es heller würde.»

«Wir haben Euch verflucht», sagte Richard.

«Da seid ihr nicht die Einzigen. Aber erzählt weiter.»

«Nach einem heftigen Regenschauer haben sich dann die Wolken verzogen, und der Mond zeigte sich. Wir dachten, dass wir unterhalb des Lagers wären.» Hero berührte einen der Isländer an der Schulter. Vallon erkannte ihn als den Jüngling, der vor den Frauen auf die Shearwater gesprungen war. «Rorik ist das Ufer hinaufgeschlichen, um nach dem Lager zu suchen. Er hat nicht lange gebraucht. Das Lager war hinter dem nächsten Ufervorsprung, keinen Pfeilschuss von unserem Versteck entfernt. Als Rorik dort ankam, rückten die Wikinger gerade aus.»

«Also habt ihr gewartet, bis sie weg waren, und dann habt ihr das Langschiff angezündet.»

Sie wechselten Blicke. Raul sah unter seinen versengten Augenbrauen auf. «Wir waren vollkommen erledigt, nass bis auf die Knochen und wurden beinahe wahnsinnig wegen der Mücken. Unsere Kienspäne waren feucht geworden, und wir hatten keine Ahnung, wie viele Wikinger das Lager bewachten oder wo ihre Posten standen. Ihr könnt mich auspeitschen oder kielholen, Hauptmann, aber mein einziger Gedanke war, unsere Haut zu retten.»

Vallon lehnte sich zurück. «Unter diesen Umständen hätte ich wahrscheinlich die gleiche Entscheidung getroffen.» Er grinste. «Aber dann hast du aus irgendeinem Grund deine Meinung geändert.»

Hero nahm den Faden wieder auf. «Wir sind an der Einmündung der Bucht vorbeigerudert, haben uns so vorsichtig in die Riemen gelegt, als wären es Federn. Das Langschiff lag nur fünfzig Schritt von uns entfernt, und es schien niemand an Bord zu sein. Wir sind immer weitergerudert, aber dann hat Richard gesagt: ‹Wir können uns nicht einfach so wegschleichen. Was sollen wir denn Vallon erzählen?›»

Richard grinste verlegen. Vallon starrte ihn an.

Raul spuckte aus. «Wir haben uns alle angesehen, und dann sind wir, ohne ein Wort zu wechseln, auf das Schiff zugerudert. Aber klar, wir hatten erst ein paarmal die Riemen durchgezogen, als am Ufer ein lauter Schrei ertönte und zwei Wachen aufsprangen, die an Bord geschlafen hatten. Außerdem rannten drei Wikinger von ihrem Posten auf dem Hügel herunter. Ich habe auf einen der Wächter auf dem Schiff gezielt. Zwanzig Schritt Entfernung. Den konnte ich nicht verfehlen.» Raul spuckte erneut aus. «Hab ich aber doch. Der Regen hatte meine Bogensehne lascher werden lassen als den Schwanz des Papstes.»

Richard kicherte hinter vorgehaltener Hand.

«Wir haben uns an Bord gekämpft», sagte Raul. «Ich habe mich um eine der Wachen gekümmert. Rorik und Bjarni haben die andere erledigt. Skapti ist bei dem Kampf getötet worden und ins Wasser gekippt, Gott nimm ihn in Gnaden auf.»

Vallon nickte. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wer Skapti gewesen war.

«Inzwischen waren die Wachen von den Hügelposten beinahe an der Bucht. Es blieb nur noch Zeit, das Ankertau zu kappen und das Schiff vom Ufer abzustoßen. Zwei von den Wikingern sind ins Wasser gerannt, aber wir haben mit Rudern auf sie eingeschlagen. Der andere ist am Ufer geblieben und hat Alarm geblasen. Während wir anderen die zwei im Wasser abwehrten, haben sich Hero und Richard darangemacht, das Feuer anzuzünden.»

«Es wollte einfach nicht brennen», sagte Hero. «Es stand mindestens ein Zoll Wasser im Schiff, und die Planken hatten sich mit Regen vollgesogen. Zum Glück für uns hatten die Wikinger das Segel ausgebessert. Wir haben es mit Öl eingeweicht, sämtliche Bündel mit Feuerholz um den Mast aufgeschichtet, und unsere Mischung darübergeschüttet. Selbst danach hat es noch eine Ewigkeit gedauert, bis das Feuer brannte. Als es sich dann aber richtig entzündete, sind die Flammen den halben Mast hinaufgeschossen. Die Wikinger hatten ihre Ruder im Schiff gelassen. Wir haben sie, zusammen mit allem anderen, was wir an Brennbarem finden konnten, eingesammelt und ins Feuer geworfen.»

Raul fiel ihm ins Wort. «Als die Wikinger das Feuer gesehen haben, hat der am Ufer das Beiboot ins Wasser geschoben, und die beiden im Wasser sind darauf zugewatet. Hero hat gebrüllt, dass wir von Bord müssten, aber die Rah und das Segel waren brennend aufs Deck gestürzt, und zwischen mir und unserem Boot loderte eine Feuerwand. Inzwischen waren die drei Wikinger schon beinahe am Schiff. Hauptmann, Ihr wisst, dass ich nicht schwimmen kann, sonst wäre ich über Bord gesprungen. Also habe ich die Luft angehalten, die Augen zugemacht und bin durch die Flammen gerannt. Und über eine Ruderbank gestolpert. Dabei hatte ich schon gedacht, ich hätte es geschafft.»

«Sein Körper hat geraucht, als er aus dem Feuer getaumelt ist», sagte Hero.

«Dann sind wir in unser Boot gesprungen und haben gerudert, was das Zeug hielt. Die Wikinger haben uns nicht verfolgt. Sie waren zu sehr mit dem Versuch beschäftigt, ihr Schiff zu retten.»

«Und hatten sie Erfolg?»

«Als ich es zuletzt gesehen habe, hat es gebrannt wie eine Fackel.»

«Also ist es zerstört.»

«So gut wie», sagte Raul. «Mast weg, Segel weg, Ruder weg, Wanten weg. Der Kiel ist möglicherweise nur ein bisschen angekohlt, aber von den Planken mittschiffs ist bestimmt nur noch Asche übrig.»

«Wir haben nicht weiter abgewartet», sagte Richard. «Wir wussten, dass der Kampftrupp bald zurückkommen und uns möglicherweise im Beiboot verfolgen würde. Der Gedanke daran, was sie mit uns machen würden, wenn sie uns in die Hände bekämen, hat uns dazu gebracht, immer weiter zu rudern, obwohl wir schon längst mit unseren Kräften am Ende waren.» Er lachte leise. «Und hier sind wir wieder.»

Vallon sah ihn beinahe erstaunt an. «Hier seid ihr wieder.»

Untröstliches Schluchzen tönte durchs Lager. Garrick hatte die Shearwater zurück an ihren Liegeplatz gebracht, und alle hasteten ans Ufer, um zu erfahren, wie der Kampf verlaufen war. Vallon schob sich durch die Menge.

Caitlin kniete vor- und zurückschaukelnd über Helgis Leiche. Ihre Dienstmägde und das Gefolge ihres Bruders standen hinter ihr. Drogo winkte Vallon stirnrunzelnd zurück. Er zögerte. Da hob Caitlin ihren gramerfüllten Blick und sah ihn. Sie hörte auf zu schluchzen, und aus ihrer Kehle stieg ein dunkles Geräusch. Sie packte das Schwert, das an Helgis Seite lag und rannte damit auf Vallon zu. Drogo und ihre Dienerinnen liefen ihr nach, doch sie war bei Vallon angelangt, bevor die anderen sie zurückhalten konnten, und riss das Schwert mit beiden Händen hoch. Vallon streckte eine Hand aus und packte sie an den Handgelenken. Sie kämpfte gegen ihn an, dann aber erschlaffte sie und ließ das Schwert fallen. Tränen strömten aus ihren Augen. Sie sackte gegen ihn, und er musste sie festhalten, damit sie nicht zu Boden stürzte. Seit Jahren hatte Vallon keine Frau mehr umarmt, und es war ein äußerst seltsames Gefühl, nun eine Prinzessin an die Brust zu drücken, die nichts lieber wollte, als ihn zu töten.

Zwischen Schluchzern drangen ihre Worte zu ihm herauf. «Du hattest versprochen, ihn sicher zurückzubringen.»

«Es tut mir leid. Ich hoffe, der Gedanke tröstet dich, dass dein Bruder tapfer gestorben ist und den Feind ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben angegriffen hat.»

Sie hämmerte ihm mit den Fäusten an die Brust. «Du hast sein Leben verschenkt!»

Über ihre Schulter sah Vallon Drogo auf sich zukommen. «Was für Lügen hast du verbreitet?», fragte der Franke.

«Das waren keine Lügen», sagte Drogo. «Du wusstest, dass der Angriff sinnlos war.» Er wand Caitlin aus Vallons Armen. «Fass sie nicht an.»

Caitlins Mägde nahmen sie an den Ellbogen und führten sie weg. Vallon stand Drogo Auge in Auge gegenüber. «Ich hätte wissen müssen, dass du die Tatsachen zu deinen eigenen Gunsten verdrehen würdest. Nun, hier hast du die nächste Geschichte, die du verdrehen kannst. Das Langschiff ist ein Haufen Asche, und zwei weitere Wikinger haben ihr Ende gefunden.»

Drogos Kiefer unter den unrasierten Wangen mahlten. Er rang sich zu einer knappen Verbeugung durch.

«Gratulier nicht mir», sagte Vallon. «Es ist dein Bruder, dem die Anerkennung gebührt.»

Damit drehte er sich auf dem Absatz um.

«Vallon.»

Vallon hob nur eine blutverschmierte Hand. «Genug.»

Drogo lief ihm nach. «Helgi und ich hatten uns angefreundet. Gestern Abend, bevor wir ausgerückt sind, hat er mich gebeten, Caitlins Beschützer zu sein, falls er getötet würde. Ich habe ihm gesagt, es wäre mir eine Ehre. Ich habe geschworen, sie bis in den Tod zu verteidigen.»

Vallon blieb nicht stehen. «Sehr ehrenwert, und ich bin sicher, du wirst deinen Schwur einlösen. Aber was geht mich das an?»

Drogo schluckte, weil zu viele Gefühle in ihm umgingen, die er nicht ausdrücken konnte. Dann stieß er einen Zeigefinger vor. «Halte dich einfach von ihr fern. Das ist alles.»

Vallon suchte sich einen ruhigen Platz am Ufer, bevor er darüber nachdachte, was Drogo ihm hatte sagen wollen. Helgi musste die Begegnung bei dem See so geschildert haben, dass es aussah, als sei er – Vallon – in seine Schwester vernarrt. Drogo hielt ihn für einen Rivalen im Kampf um ihre Zuneigung. Die Dummheit dieses Normannen verärgerte Vallon. Er warf einen funkelnden Blick über die Schulter.

Gerade kam ihm Garrick mit einer Schale und etwas Brot nach. «Ihr habt immer noch nichts gegessen, Herr.»

Vallon aß schweigend und schaute dabei nachdenklich über den Fluss.

«Was tun wir jetzt?»

«Wir verlegen das Lager ans andere Ufer. Es wird ein paar Tage dauern, bis das Schiff wieder seetüchtig ist. Wayland kann solange Futter für die Falken besorgen. Und dann …» Vallon unterbrach sich. Beinahe hätte er gesagt, «… fahren wir nach Hause.» Er lächelte Garrick an. «Dann setzen wir unsere Reise fort. Wirst du mit uns nach Konstantinopel kommen?»

«Was sollte ich denn dort, Herr?»

«Was immer du tun willst. Es ist die größte Stadt auf der Welt.»

«Städte gefallen mir nicht. Ich war einmal in Lincoln. Von all den Leuten, die sich dort drängten, ist mir ganz schwindelig geworden.» Er warf Vallon einen scheuen Blick zu. «Ich träume davon, an dem Ort, wo ich aufgewachsen bin, zehn Morgen Land zu kaufen. In Frieden zu leben und in der Erde beerdigt zu werden, von der ich stamme, an der Stelle, an der auch meine Eltern liegen und an der ich meine Kinder begraben habe. Ich weiß, es ist nur ein Traum.» Er lachte. «Dieser Daegmund wäre vermutlich nicht sehr erfreut, wenn ich zurückkäme. Er kann einem ganz schön das Leben vermiesen, das kann ich Euch sagen.»

Vallon packte ihn am Arm. «Du sollst deine zehn Morgen haben. Und wenn ich nach dieser unendlichen Reise das Gleiche erreicht habe, werde ich mich glücklich schätzen.»

Garrick sah ihn an, schaute weg, und seine Miene verfinsterte sich. «Ich werde den Gedanken an diese Frauen und was die Wikinger ihnen angetan haben nicht los. Es sind Mutter und Tochter – die Tochter ist beinahe noch ein Kind. Können wir sie nicht retten, Hauptmann? Ich würde auch kämpfen, wenn Ihr meint, das es etwas nützt.»

Vallon schüttelte den Kopf. «Ich kann von meinen Leuten nicht noch mehr Opfer verlangen. Bald kommt der Winter, und wir haben noch eine weite Reise vor uns. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.»

Er war aufgestanden. Garrick blieb mit einem Ausdruck sanfter Melancholie sitzen. Vallon berührte ihn an der Schulter. «Es tut mir leid. Wir können nichts tun.»

Загрузка...