IX

Vier Tage später erreichten sie die Ausläufer der Hügel. Von der letzten Erhebung aus ließen Vallon, Hero und Richard ihre Blicke Richtung Süden über ein großes Waldgebiet schweifen, das noch ins Winterkleid gehüllt war. An manchen Stellen stiegen Rauchfäden zwischen den Bäumen auf.

«Das muss Sherwood sein», sagte Vallon. «Raul sagt, es ist eines der letzten Rückzugsgebiete des englischen Widerstandes.»

«Wenigstens müssen wir dann nicht mehr die ganze Zeit nach Feinden Ausschau halten.»

«Im Gegenteil. Von jetzt an müssen wir ganz besonders aufmerksam sein. Seid bei jedem auf der Hut, mit dem wir es zu tun bekommen. Lasst euch nicht von einem falschen Lächeln täuschen. Ihr dürft niemandem vertrauen.»

Sie stiegen einen Weg mit ausgefahrenen Karrenspuren hinunter, in denen glitzernd das Wasser stand. Der Wald schloss sich um sie – gewaltige alte Eichen mit knotigen Wurzeln, deren zerfurchte Stämme sich in weiter Höhe zu enormen Kronen teilten. Die Bäume standen in großen Abständen, und der Boden zwischen ihnen war kaum bewachsen. Die Flüchtlinge blickten schweigend die verlassenen Wege entlang, die in alle Richtungen abzweigten.

Als sie einen Mühlgraben erreichten, ging in der dunstigen Luft die Sonne unter, flammend wie das Feuer in einer verrauchten Schmiede. Sie folgten dem Graben bis zu einem Walddorf, das um eine Weide herum errichtet worden war. Seit dem Vormittag hatte es immer wieder geregnet, und Karrenräder hatten den Weg in ein Schlammfeld verwandelt. Der nachgiebige Untergrund machte den Reisenden die Schritte schwer. An den Türen einiger Cottages hingen Strohpuppen. Sie kamen an einer Gaststube vorbei, deren Schild einen Mann zeigte, der hinter Zweigen und Weinranken hervorgrinste. Bei näherem Hinsehen erkannte Vallon, dass das Laubwerk aus den Augen, der Nase und dem Mund spross.

Fröhlicher Lärm klang aus der Gaststube. Sehnsüchtig blickten Hero und Richard zu den erhellten Fenstern hinüber.

«Nicht sicher genug», sagte Vallon und stapfte weiter. Eine Schar Gänse stellte die Flügel auf und zischte ihn an. Als er schon beim nächsten Haus war, vernahm er über das Gelächter aus der Schänke hinweg eine vertraute Stimme. Stirnrunzelnd drehte er um und betrat das Gasthaus.

In dem Raum herrschte Gedränge, und niemand achtete auf ihn. Die Aufmerksamkeit aller galt einer Szene, die sich beim Feuer abspielte. Als er über die Schultern der anderen Gäste spähte, sah Vallon, dass Raul in der Mitte des Zuschauerkreises in die Hocke gegangen war. Seine Hand lag auf den Boden, und darauf stellte sich nun ein etwa zehnjähriger Junge. Rauls Gesicht verzerrte sich. An seinen Schläfen traten die Adern hervor. Langsam hob er den Jungen mit ausgestrecktem Arm bis auf die Höhe seiner gebeugten Knie. Dann sprang Raul mit einem Ruck auf die Füße und riss den Arm mit dem Kind bis über seinen Kopf hoch, sodass der Junge schließlich das Gleichgewicht verlor und herunterfiel. Raul fing ihn auf, stellte ihn auf die Füße und zerzauste ihm das Haar.

Vallon schob sich durch die klatschenden und pfeifenden Zuschauer. «Was zum Teufel treibst du da?»

Sofort wandten sich ihm sämtliche Blicke zu. Als die Leute Vallons Gesichtsausdruck und das Schwert an seiner Seite sahen, zogen sie sich zu ihren Biertischen zurück. Raul vollführte eine Art militärischen Gruß. Er war angetrunken.

«Hauptmann, ich habe als Dank für die Gastfreundschaft, die mir diese guten Seelen erwiesen haben, ein paar Kunststückchen vorgeführt.»

Vallon bemerkte in einer Sitznische Wayland. Der Hund lag mit angelegtem Maulkorb zu seinen Füßen wie eine monströse Siegestrophäe.

«Ich habe dir gesagt, dass du dich von Schänken fernhalten sollst.»

«Wir können uns nicht vor aller Welt verstecken. Jetzt, wo wir in einer friedlicheren Gegend sind, ist es sicherer, sich unauffällig unters Volk zu mischen.»

«Das nennst du dich unauffällig unters Volk mischen?»

Der Junge, der bei Rauls Kunststück mitgemacht hatte, brachte ihm einen Becher Ale. Raul prostete einem Mann am Tresen zu, der den Gastraum von den privaten Räumen des Gastwirts abtrennte. Der Mann hob ebenfalls seinen Becher. Vallon schätzte ihn ab. Mager und knochig, mit schmuddeliger grüner Weste, Beinlingen und Ohren, die durch wirre Haarsträhnen unter einer ledernen Kappe hervorstanden.

«Wer ist das?»

«Sein Name ist Leofric. Wir haben ihn auf der Straße kennengelernt. Er ist Köhler.»

«Was hast du ihm über uns erzählt?»

Raul zupfte an seinem Ohrring. «Ich habe ihm gesagt, wir gehörten zu einer Gauklertruppe.»

«Einer was

«Das sind Reisende, die bei Märkten und Festen für Unterhaltung sorgen. Ich habe ihm gesagt, wir hätten auf dem Land kaum etwas verdient und wären jetzt für die Osterfeiertage auf dem Weg nach London.»

«Und das war vermutlich dein Auftritt als Kraftmensch.»

Raul grinste. «Nicht schlecht, oder?» Er deutete auf Wayland. «Und das sind der Wolfsjunge und sein dressierter Hund. Er tut, was immer ihm der Wolfsjunge befiehlt.»

«Wayland ist stumm.»

«Das macht den Auftritt ja gerade zu so einem Erfolg.»

Hero, der inzwischen zu den beiden gestoßen war, verbiss sich das Lächeln. «Und welche Rolle habe ich?»

«Geschichtenerzähler», sagte Raul. «Hauptmann, Ihr seid der Schwertmeister, ein Held des Frankenreiches, der in Kastilien gegen El Cid gekämpft hat. Ihr nehmt es mit jedem Herausforderer auf, sogar mit drei auf einmal – einen Penny für jeden, der Euch schlägt.» Raul unterdrückte einen Schluckauf. «Natürlich werden keine echten Schwerter benutzt.»

Vallon schüttelte den Kopf über all diesen Unsinn, ging zu Wayland hinüber, schob sein Schwert unter den Tisch und ließ sich auf die Bank sinken. Sobald er sich gesetzt hatte, wurde ihm bewusst, wie erschöpft er war. Würde er es schaffen, jemals wieder aufzustehen?

«Wenn wir nun schon einmal hier sind, kannst du uns auch ein Ale holen.»

Bald darauf kam Raul mit drei Bechern an den Tisch. «Der Gastwirt möchte wissen, ob wir etwas essen wollen.» Er zog die Augenbrauen hoch. «Ein schöner Teller Salzdorsch?»

Der Gastwirt stand mit breitem Lächeln hinter dem Tresen und zog ein Messer über einen Wetzstahl. Der Junge saß neben ihm auf dem Tresen und ließ die Beine baumeln.

«Gut», sagte Vallon. «Aber wir gehen, sobald wir gegessen haben.»

«Können wir nicht über Nacht bleiben?», fragte Richard.

«Nein. Wir haben schon viel zu viel Aufmerksamkeit auf uns gezogen.»

Richard sah aus, als würde er am liebsten anfangen zu weinen. «Herr, wir haben schon drei Nächte lang nicht mehr unter einem ordentlichen Dach geschlafen.»

Raul tätschelte ihm beruhigend die Hand. «Keine Sorge. Ich habe schon eine Unterkunft für uns. Leofric lädt uns zum Übernachten in sein Cottage ein. Es liegt versteckt im Wald, Hauptmann, weitab vom Weg.»

Erneut musterte Vallon den Köhler. Er stand mit dem Rücken zum Raum und lachte über irgendetwas mit dem Gastwirt. Dann griff er über den Tresen und schnitt sich ein Stück Schinken ab. Sein Messer sah nach einer Ausbeinklinge aus.

Vallon war versucht, das Angebot anzunehmen. Seine Glieder schmerzten von der feuchten Nachtkühle, der sie ausgesetzt gewesen waren.

«Danke deinem Freund und sage ihm, wir werden uns selbst etwas suchen.»

«Und was? Sollen wir wieder im Straßengraben schlafen?»

Auch Hero muckte auf. «Wir können nicht für alle Zeit wie die Tiere leben. Schlechter als Tiere. Sogar die Vögel haben ihr Nest.»

Richard hüstelte schwach, um zu zeigen, dass er derselben Meinung war.

Vallon sah sie über den Rand seines Bechers an. «Wir nehmen keine Einladungen von Fremden an.»

Vor sich hin murrend ging Raul los, um dem Köhler die Absage auszurichten. Vallon beobachtete die beiden. Der Mann wirkte beleidigt, aber das war zu erwarten gewesen. Allerdings widersprach er nicht und unternahm keine Überredungsversuche. Stattdessen stieß er noch einmal mit Raul an und verabschiedete sich mit einem Handschlag von ihm. Als der Gastwirt mit einer Platte Dorsch an den Tisch kam, war die Sache für Vallon erledigt. Er aß ein paar Bissen und schob dann seinen Teller von sich. Er fühlte sich fiebrig. Es hatte wieder angefangen zu regnen, und eine Zeitlang lauschte er auf das Wasser, das vom Dachsims tropfte. Die verbrauchte Luft in dem Gasthaus machte ihn schläfrig. Er nickte im Sitzen ein.

Als er von einem hässlichen Traum geweckt wurde, stellte er fest, dass es in der Gaststube still geworden war. Sein Fieber war angestiegen. Das Licht schmerzte ihn in den Augen. Gegenüber am Tisch waren Hero und Richard mit den Köpfen auf den Armen tief eingeschlafen. Raul saß mit aufgestütztem Kinn völlig übermüdet daneben.

Es hatte aufgehört zu regnen. Die Gaststube war inzwischen fast leer. Drei Dorfbewohner saßen auf einer Bank neben dem Feuer und unterhielten sich leise. Als Vallon sie ansah, gaben zwei seinen Blick zurück. Der dritte war ein blinder Alter.

Vallon zog Raul die Hand unterm Kinn weg. Der Deutsche zuckte zusammen.

«Wie lange habe ich geschlafen?»

Raul fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. «Ich weiß nicht, aber Ihr habt ein schönes Nickerchen gemacht. Vermutlich hattet Ihr es dringend nötig.» Er legte seinen Arm um Hero und Richard und sagte mit gesenkter Stimme: «Diese beiden hier wollte ich auch nicht aufwecken.»

Als Vallon aufstand, schoss ihm heftiger Schmerz durch ein Bein. Er kniff die Augen zusammen und hielt sich am Tisch fest. Besorgt streckte Raul den Arm nach ihm aus. «Alles in Ordnung, Hauptmann? Ihr seht nicht gut aus.»

«Der Köhler. Wann ist er gegangen?»

Raul strich sich über den Bart. «Keine Ahnung.»

«Was hat er gesagt, als du ihm erklärt hast, wir würden nicht bei ihm übernachten?»

«Er war sehr höflich, wenn ich mir’s recht überlege. Hat mir noch eine gute Nacht gewünscht und meinte, er würde morgen unterwegs nach uns Ausschau halten.»

Vallon straffte sich. «Das war eine Falle.»

«Hauptmann, Ihr habt ja nicht einmal selbst mit dem Mann gesprochen. Ihr wisst nicht das Geringste über ihn.»

Vallon stützte sich mit den Händen auf den Tisch und beugte sich zu Raul hinunter. «Warum sollte ein mittelloser Köhler fünf Fremde bei sich aufnehmen?»

«Ich habe ihm gesagt, dass wir dafür bezahlen.»

«Du hast also behauptet, ich hätte eine dicke Börse voll Silber dabei.»

«Was habt Ihr denn, Hauptmann? Ich habe lediglich gesagt, es würde nicht zu seinem Schaden sein.»

«O ja», sagte Vallon, «er wollte uns zahlen lassen.» Mit einem Ruck fuhr er herum. Der Gastwirt trug immer noch sein festgefrorenes Lächeln auf dem Gesicht. Es erinnerte Vallon an das Grinsebild auf dem Gasthausschild. Auch der Junge saß noch immer mit baumelnden Beinen auf dem Tresen.

«Sag ihm, er soll uns eine Unterkunft für die Nacht geben.»

«Hauptmann, ich dachte …»

«Tu, was ich sage.»

Der Gastwirt nahm Rauls Frage mit bedauerndem Kopfschütteln auf.

«Er hat keinen Platz. Er sagt, im nächsten Dorf gibt es eine Herberge.»

«Sag ihm, dass es schon dunkel ist und wir müde sind. Wir bezahlen, wenn er uns in seinem Stall schlafen lässt.»

Diese Bitte schien die gute Laune des Gastwirtes zum Versiegen zu bringen. Raul zog ein Gesicht. «Er fragt, warum wir Leofrics Angebot nicht angenommen haben, wenn wir so dringend ein Bett brauchen.»

Der Junge auf dem Tresen hatte aufgehört, mit den Beinen zu baumeln. Es lag vermutlich an dem Fieber, aber Vallon hatte den Eindruck, dass seine dunkelbraunen Augen vor Boshaftigkeit glitzerten.

Der Gastwirt begann aufzuräumen und verbreitete dabei auffordernden Lärm. Die drei Dorfbewohner waren inzwischen gegangen. Vallon rüttelte Hero und Richard an der Schulter. «Wacht auf. Wir gehen.» Er sah sich um. «Wo ist Wayland?»

«Er mag geschlossene Räume nicht», entgegnete Raul. «Vermutlich ist er draußen und schnappt frische Luft.»

Der Halbmond verströmte genügend Licht für Wayland, um dem Köhler zu folgen. Der Mann ging mit lebhaftem Schritt mitten auf dem Weg und sang dabei vor sich hin. Wayland und sein Hund bewegten sich auf dem grasbewachsenen Wegrand. Er war draußen gewesen, als der Köhler das Gasthaus verließ und bald darauf der Junge auftauchte. Die beiden hatten kurz zusammengestanden und ihre Köpfe wie Verschwörer zusammengesteckt, nicht wie Freunde, die sich voneinander verabschieden. Dann waren sie grußlos auseinandergegangen. Wayland hatte keine Zeit gehabt, Vallon von seinem Verdacht zu berichten. Als der Junge in das Gasthaus zurückging, war der Köhler auf seinem Weg aus dem Dorf schon beinahe außer Sicht.

Doch nun bekam Wayland den Eindruck, dass ihn sein Gefühl getäuscht hatte. Der Köhler wirkte ganz einfach wie ein Mann auf dem Weg nach Hause. Wenn er sich umsieht, beschloss Wayland, dann habe ich recht gehabt. Jeder, der mit finsteren Plänen durch einen nächtlichen Wald geht, wirft von Zeit zu Zeit einen Blick über die Schulter.

Doch der Köhler hatte nur Augen für den Weg, der vor ihm lag. Wayland schätzte, dass sie nun schon eine Meile weit gegangen waren, und bald wären es zwei. Er war seit der Morgendämmerung unterwegs und dachte nun mit sinkender Laune an den Rückweg zum Dorf. Im Wald regte sich kein Blatt. Die einzigen Geräusche waren seine eigenen gedämpften Schritte und das gelegentliche Klicken, mit dem sein Bogen an den Gürtel schlug. Je tiefer er in den Wald vordrang, desto stärker wurde er sich seiner selbst bewusst. Es war merkwürdig. Wayland folgte einem Mann, hatte jedoch das Gefühl, als sei er selbst das Zentrum der Aufmerksamkeit. Während er die Gestalt im Mondlicht beobachtete, beschlich ihn der unangenehme Eindruck, dass der Köhler wisse, dass er da war, und dass er ihn irgendwohin lockte. Und noch eine andere, unschöne Vorstellung breitete sich in seinem Kopf aus. Es kam ihm so vor, als würde er, wenn er zu dem Köhler aufholte und ihn zu sich umdrehte, das Gesicht eines anderen Mannes vor sich haben.

Dann blieb der Mann stehen. Wayland erstarrte. Auf diese Entfernung war er nichts weiter als ein Schatten in den Schatten, ein Umriss, der keinen nächtlicher Wanderer zum Umdrehen bewegen würde.

Der Köhler kam zurück, als hätte er seine Abzweigung verpasst und versuchte nun, sich zu orientieren. Er sah sich langsam um. Er ging zu einer Seite des Weges und anschließend zur anderen.

Wolken verhüllten den Mond. Als die Mondsichel wieder auftauchte, war der Köhler verschwunden. Zuletzt hatte Wayland ihn bei einer abgestorbenen Eiche mit enorm dickem Stamm gesehen.

Wayland wartete ab, um sicherzugehen, dass der Köhler nicht zurückkam. Der Hund beobachtete ihn mit bebenden Flanken. Wayland nickte ihm zu, und wie ein Geist huschte das Tier über den Weg.

Wayland ließ seinen Blick wandern und versuchte, den Ort zu begreifen. Er konnte keine Abzweigung entdecken, das einzig Ungewöhnliche war die alte Eiche. Immer wieder kehrte Waylands Blick zu ihr zurück, und je länger er sie ansah, desto mehr hatte er das Gefühl, der Baum würde seinen Blick erwidern. Unwillkürlich schaudernd zog Wayland die Schultern zusammen. Es war nicht nur Einbildung. Die Eiche hatte ein Gesicht – zwei leere Augenhöhlen über einem gähnenden Mund. Wayland tastete nach dem Kreuz, das um seinen Hals hing.

Er fuhr zusammen, als der Hund völlig lautlos zu ihm zurückkehrte. Er folgte ihm über den Weg, und dort begann das Tier mit Abstand um die Eiche herumzustreichen und den Baum zu beäugen, wie ein Fuchs, der eine Vogelscheuche abschätzt.

Moment.

Als Wayland die Eiche aus der Nähe sah, musste er über die Sinnestäuschungen lächeln, die das Mondlicht hervorgerufen hatte. Alter und Fäulnis hatten eine Höhle in ihren Stamm gefressen, und die beiden Augen waren nichts weiter als alte Astlöcher. In der Höhlung sah er etwas herabbaumeln. Er glaubte, es müsse etwas sein, das der Köhler dort aufgehängt hatte, und streckte die Hand danach aus, um jedoch gleich wieder zurückzuzucken. Es war ein Katzenkadaver an einem Strick, das Maul in einem mumifizierten Grinsen erstarrt. Wayland warf einen Blick über die Schulter, bevor er sich wieder dem hohlen Stamm zuwandte. Die Dunkelheit darin war tief genug, um einen Mann zu verbergen. Wayland fröstelte bei dem Gedanken daran, dass jemand – dass etwas – dort drinnen mit angespannter Aufmerksamkeit auf den Moment lauerte, in dem er in Reichweite kam.

Er trat zurück und wäre dabei um ein Haar über den Hund gestolpert. Der Hund nahm Waylands Ärmel zwischen die Zähne und zog ihn mit sich fort.

Sie schlichen zwischen die Bäume. Wie Säulen ragten die gewaltigen Stämme um sie auf. Es gab kaum Unterholz – nur ein paar Haselbüsche und zuweilen ein glänzender Stechpalmenstrauch. Wayland gelangte auf einen Pfad, der einen sanften Abhang hinunterführte. Der entspannte Trab des Hundes verriet ihm, dass ihnen der Köhler weit voraus war. Er beschleunigte seinen Schritt.

Sie mussten mehr als eine Meile zurückgelegt haben, als sich der Hund mit einem Mal auf den Boden duckte. Wayland ging neben ihm in die Hocke. Er roch Holzrauch und Schweinedung. Während er vorwärtskroch, fiel ihm ein, dass der Köhler wahrscheinlich auch einen Hund hatte. Doch nun war es zu spät, um sich darüber Sorgen zu machen. Die Bäume wurden spärlicher, und Wayland erkannte vor sich eine Hütte auf einer Lichtung. Nebelhafter Rauch stieg von ihrem Dach auf, und durch einen Spalt im Fensterladen fiel Licht. Auf der anderen Seite der Lichtung grunzten Schweine. Wayland hörte gedämpfte Stimmen und dann das Geräusch einer Tür, die ins Schloss gezogen wurde.

Leichtfüßig rannte er zum Haus und duckte sich unter das Fenster. Was er zu sehen erwartete – was er zu sehen hoffte –, war der Köhler im Kreis seiner Familie, wie er sich gähnend die Stiefel auszog. Wayland legte sein Auge an die Spalte im Fensterladen. Sein Mund wurde trocken. Schwankendes Licht von Talgkerzen erhellte einen Raum voller Männer mit verfilztem Haar und ungepflegten Bärten. Sie trugen grob zusammengenähte Felljacken oder die grünlichen Westen, die Wayland für die Uniform einer Gruppe mit üblen Absichten hielt. Er wusste, wer diese Leute waren. Ulf hatte sie vor ihnen gewarnt: Die Männer aus dem Wald. Ehemalige Widerstandskämpfer, die zu Banditen und Halsabschneidern geworden waren.

Ein verdreckter Mann rückte ein Stück zur Seite, und Wayland sah den Köhler vor einem dunkelhaarigen Mann stehen, der am Fenster saß. Er war glattrasiert und wirkte im Vergleich zu den anderen wilden Gesellen beinahe zivilisiert. Um seinen Hals hing eine Kette aus getrockneten Pilzen – ein Zauberamulett oder Heilmittel gegen Krankheiten.

«Fahrende Gaukler, Ash. Das hat der Deutsche gesagt. Und vielleicht stimmt das auch. Aber auf jeden Fall sind es Fremde – alle bis auf einen, einen tumben englischen Jungen. Wolfsjunge hat ihn der Deutsche genannt. Er hat einen Hund, ein wahres Untier, sieht aus, als wäre er im Bärenzwinger besser aufgehoben als bei einer Gauklertruppe. Diesem Hund will man im Dunkeln lieber nicht begegnen.»

Ash machte eine knappe Geste.

«Wär eine Schande, ihn zu töten», sagte der Köhler. «Ich hätte nichts dagegen, selbst so einen Hund zu haben.»

Doch Ash interessierte sich nicht für den Hund. «Wer gehört sonst noch dazu?»

«Zwei junge Hänflinge und ein Franzmann – ein Franke, kein Normanne. Harter Kerl, sieht gefährlich aus, weiß sich zu wehren. Der Deutsche hat erzählt, er hätte ihn Spanien gekämpft. Er fordert die Leute zum Schwertkampf heraus.»

«Mir gefällt das alles nicht», sagte ein anderer. «Ein nächtlicher Hinterhalt ist immer riskant. Es reicht, wenn nur einer von ihnen entkommt, und …»

«Maul halten», sagte Ash. Dann wandte er sich wieder an den Köhler. «Warum hast du sie nicht hergebracht?»

Der Köhler bleckte seine schwärzlichen Zähne. «Das wollte ich ja. Es war alles vorbereitet. Ich hatte den Deutschen besoffen gemacht, dein Junge sollte dir die Meldung bringen, aber dann ist der Franzmann aufgetaucht und hat dem Deutschen erklärt, dass sie weiterziehen.»

Ash lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. «Du musst dich verraten haben.»

«Nein, ich schwör’s bei meinem Leben. Ich habe alles genauso gemacht wie immer. Frag deinen Onkel.»

Ash kratzte sich am Knie. «Und was haben sie bei sich?»

«Ich verspreche dir nicht das Blaue vom Himmel herunter. Ehrlich gesagt, sehen sie aus, als hätten sie die letzte Woche auf einem Misthaufen geschlafen, aber – und du würdest dir selbst in den Hintern beißen, wenn du dir diese Gelegenheit durch die Lappen gehen lässt – der Franzmann hat ein Schwert mit juwelenbesetztem Griff, das sein Gewicht in Silber wert sein muss. Außerdem trägt er einen wertvollen Ring und hat für das Essen mit Münzen bezahlt.»

Ash spielte mit seiner Halskette. «Wenn sie Geld haben, warum haben sie dann im Freien übernachtet?»

Der Köhler ging in die Hocke. «Das habe ich mich auch gefragt. Was, wenn sie auf der Flucht sind? Womöglich ist eine Belohnung auf sie ausgesetzt.»

Darauf schwieg Ash. Niemand störte ihn beim Nachdenken. Schließlich schniefte er, wischte sich mit der Hand unter der Nase entlang, griff nach seinem Schwert und legte es sich über die Beine.

«Wann können wir mit ihnen rechnen?»

«Sie müssten jetzt gerade aus dem Gasthaus kommen. Ich habe deinem Onkel gesagt, dass er sie bewirten soll, bis ich genügend Vorsprung habe.»

«Vielleicht übernachten sie im Wald. Da wird es nicht einfach, sie zu finden.»

«Edric folgt ihnen. Wenn sie draußen schlafen, umso besser. Dann können wir uns gleich beim Hellwerden auf sie stürzen.»

Ashs Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. «Edric ist ein guter Junge.»

«Er ist der Sohn seines Vaters.»

Wayland wurde klar, dass sie über den Jungen redeten, den Raul einhändig über seinen Kopf gehoben hatte.

Ash stand auf, ging zur anderen Seite des Raumes und nahm von einem Wandhaken eine rostige Kettenweste, die aus einem normannischen Kettenhemd geschnitten worden war. Er zog sie sich über den Kopf und drehte sich um. Seine Miene war ausdruckslos, die Augen schimmerten so kalt wie Münzen. Wayland schluckte. Das Amulett um Ashs Hals bestand aus aufgefädelten, verdorrten Menschenohren.

Ash schien ihn direkt anzusehen, ging auf das Fenster zu und streckte die Hände nach dem Fensterladen aus. Wayland warf sich zur Seite und drückte sich mit dem Rücken an die Hauswand. Er zog sein Messer.

«Zunehmender Mond», sagte Ash nur wenige Handbreit neben Waylands Ohr. «Tragt eure Umhänge und Kapuzen. Verhüllt die Klingen.» Damit zog er den Fensterladen wieder zu.

Mit rasendem Herzschlag spähte Wayland erneut durch den Spalt und sah die Raubgesellen Schwerter, Bögen, Hippen, Speere und eine Axt zusammenraffen. Dann zogen sie sich formlose Kapuzen über die Köpfe und hüllten sich in Umhänge, auf die Zweige und Blätter genäht waren. In dem spärlichen Licht sahen sie aus wie die Mitglieder einer teuflischen Sekte.

«Wir warten an der Koboldeiche auf sie», sagte Ash. «Leofric, du und Siward geht den Weg bis zur nächsten Biegung zurück. Lasst sie vorbei, damit ihr ihnen in den Rücken fallen könnt. Haltet euch zwischen den Bäumen in Deckung.»

«Was ist mit Edric?»

«Den nehmt ihr mit. Der Junge kann zusehen. Wird eine gute Lektion für ihn sein.»

«Vielleicht können sie ja ihre Kunststücke vorführen, bevor wir sie umbringen. Das würde Edric gefallen.»

Ash atmete hörbar durch die Nase aus. Der Mann, der den Vorschlag gemacht hatte, wandte den Blick ab. «Verzeihung, Meister Ash.»

«Lasst einen am Leben, damit wir ihn ausfragen können. Alle anderen tötet ihr. Sorgt dafür, dass der Franzmann beim ersten Angriff stirbt. Gebt ihm keine Gelegenheit, sein Schwert zu benutzen. Anschließend verstecken wir die Leichen ein gutes Stück abseits der Straße. Die Schweine werden sich morgen um sie kümmern.»

Jemand lachte. «Deine Schweine haben besseren Fraß als wir.»

Bevor Wayland diese schrecklichen Bilder losgeworden war, kamen die Gesetzlosen an die Tür. Wayland hastete zum Rand der Lichtung und warf sich hinter einen Baum. Neun verhüllte Schatten kamen aus der Hütte. Wie Nebel stieg Atemluft aus den Schlitzen in ihren Kapuzen auf. Wayland hätte sie anspucken können, so dicht gingen sie an ihm vorbei.

Die Schweine in der Koppel quiekten erregt. Sie wussten, was der Abmarsch der Gesetzlosen ankündigte. Es war, als hätte eine Fressglocke geläutet.

Waylands erster Gedanke war, so schnell wie möglich Vallon zu warnen. Aber was, wenn die Flüchtlinge von der Straße abgebogen waren und der Junge schon auf dem Weg zu Ash war? Selbst mit der Hilfe des Hundes konnte es die ganze Nacht dauern, bis er das Lager der Flüchtlinge fände. Er überlegte, ob er die Hütte anstecken sollte, aber die Gesetzlosen wären bestimmt schon eine Meile entfernt, bis das Feuer hochloderte, und würden den Brand hinter sich wahrscheinlich nicht bemerken.

Er konnte nicht länger warten. Die Gesetzlosen waren schon beinahe außer Sicht. Wayland wollte sich gerade daranmachen, ihnen zu folgen, als ihm ein neuer Gedanke kam. Er rannte zurück zu der Hütte, öffnete mit einem Fußtritt die Tür auf und polterte hinein. An der Wand hingen eine Kapuze und ein Umhang, mit denen sich die Gesetzlosen tarnten. Er hüllte sich in den Umhang und zog die Maske übers Gesicht.

Als er das Raubgesindel einholte, hatten die Männer eine langgezogene Kette gebildet. Wayland sah zum Himmel hinauf. Der Mond stand klein und fern über den Bäumen. Vallon musste inzwischen irgendwo ein Lager aufgeschlagen haben. Wayland beschloss, die Männer bis zu der Eiche zu beschatten und dann dem Köhler und seinem Gefährten den Weg hinunter zu folgen. Wenn er die beiden erledigt hätte, würde er dem Jungen auflauern. Er würde eine Stelle suchen, die weit genug von der Eiche entfernt war, sodass die Flüchtlinge rechtzeitig gewarnt wären, falls sie noch auf der Straße unterwegs waren.

Etwa auf der halben Strecke zu der Eiche hielten die Gesetzlosen an, scharten sich dicht zusammen, und besprachen sich flüsternd. Dann lösten sich zwei Schatten aus der Gruppe und verschwanden zwischen den Bäumen zur Rechten des Pfades. Als Wayland klar wurde, dass Leofric und Sidward eine Abkürzung nahmen, begann er zu zögern. Wenn er ihnen folgte, würde er vielleicht den Jungen verpassen. Doch wenn er bei der Hauptgruppe blieb und die Flüchtlinge immer noch auf der Straße waren, hätte er keine Gelegenheit, sie zu warnen, bevor Leofric und der andere auf den Jungen trafen.

Wayland beschloss, den Spähern zu folgen.

Die beiden bewegten sich auf ihrem vertrautem Terrain schnell und sicher. Wie Schemen huschten sie über mondbeschienene Stellen und durch tiefe Schatten. Wayland trabte möglichst lautlos hinter ihnen her. Dann trieben Wolken vor den Mond. Dunkelheit kroch über den Waldboden und verschluckte die beiden vollends. Um nicht blindlings mit ihnen zusammenzustoßen, verlangsamte Wayland seinen Schritt. Doch er spürte, dass sich die Gauner weiter von ihm entfernten.

Hierher.

Der Hund drehte sich um, und Wayland legte ihm die Hand auf den Nacken.

Gemeinsam rannten sie weiter, Wayland verließ sich vollkommen auf die Nase des Hundes.

Unvermittelt duckte sich der Hund auf den Boden und richtete seinen Blick auf Wayland, der daran ablas, dass die Gesetzlosen angehalten hatten und ganz in der Nähe waren. Der Mond blitzte durch Wolkenlücken. Wayland erkannte den Weg zu seiner Linken. Vor ihm lag eine Waldwiese, die stellenweise mit Gebüsch bewachsen war. Ein Schatten teilte sich in zwei. Eine Gestalt bewegte sich auf den Weg zu, überprüfte, dass niemand in der Nähe war, und hastete zwischen die Bäume auf der anderen Seite.

Es wäre einfacher, es einzeln mit den beiden aufzunehmen, aber wie? Auch wenn er sie ohne Blutvergießen entwaffnen konnte, würde es zu lange dauern. Der Junge konnte schon vorbeigekommen sein und den Treffpunkt erreicht haben. Wayland musste so schnell wie möglich zurück.

Er klopfte dem Hund auf die Schulter. Töte ihn.

Das Tier erhob sich, lief ein paar Schritte, und wandte den Blick zurück.

Wayland zog für einen Moment die Kapuze ab. Töte ihn.

Der Hund setzte sich lautlos in Trab.

Der Mond trat wieder hinter den Wolken hervor und warf schwache Schatten. Wayland entdeckte den zweiten Ganoven hinter einem Baum. Er würde einen Bogen um ihn schlagen müssen, um sicher zielen zu können. Er bewegte sich langsam und so geräuschlos wie der Schatten einer Katze, bis er den Rücken des Mannes im Blick hatte. Wayland wusste nicht, ob es sich um Leofric oder Sidward handelte, und es war ihm auch gleichgültig. Schließlich würde jeder der beiden ihn selbst mit der gleichen Beiläufigkeit töten, mit der man eine Fliege erschlägt. Er lehnte sich zurück, sein Rücken bog sich fort von der Krümmung seines Bogens. Als er die Sehne voll gespannt hatte, zeigte der Pfeil schräg zum Himmel hinauf. Er senkte ihn in langsam und behielt dabei die eiserne Spitze genau im Blick, um den Pfeil in dem Moment abschnellen zu lassen, in dem das Rückgrat des Mannes vor ihm auftauchte.

Da bewegte sich sein Opfer. Wayland blinzelte. Der Gauner sah angespannt hinter dem Baum hervor, er hatte die erstickten Geräusche von der anderen Seite des Weges gehört. Bevor Wayland erneut zielen konnte, stieß sich der Gauner von dem Baum ab und verschwand hakenschlagend in der Dunkelheit.

Ernüchtert atmete Wayland tief aus. Nun musste er dem Mann erneut folgen. Und dieses Mal würde es schwieriger werden. Der Räuber wäre auf der Hut.

Eine Waldohreule ließ ihren monotonen Lockruf erklingen – ‹Uuh-uuh-uuh›. Wenn Wayland nicht selbst so täuschend echt Tierstimmen hätte nachahmen können, hätte er geschworen, dass dieser Eulenruf echt war. Der Räuber wartete auf eine Antwort. Doch Wayland wusste, dass sein Gefährte tot, sein gebrochener Blick in die Zweige hinauf gerichtet war, dass Blut aus seiner zerfleischten Kehle strömte.

Der Gesetzlose wiederholte den Ruf.

Wenn er auch dieses Mal keine Antwort erhielte, würde er wissen, dass etwas nicht stimmte. Wayland legte die Hände um den Mund und gab den klagenden Eulenruf zurück. Nichts geschah. Der Ganove musste sich fragen, warum sein Gefährte auf die andere Seite des Weges zurück gewechselt war. Aber vielleicht hatte Wayland auch den falschen Ruf nachgeahmt.

Er versuchte es noch einmal. Immer noch keine Reaktion. Die Stille klang in seinen Ohren. Er spürte seinen Herzschlag hinter den Rippen.

Irgendwo knackte ein Zweig. Wayland erstarrte, alle Sinne angespannt.

Vor ihm schien sich ein Gebüsch zu bewegen, von ihm wegkriechen zu wollen. Wayland verließ seine Deckung und ging darauf zu, ohne sich weiter um Lautlosigkeit zu bemühen.

Der Ganove fuhr herum, sein Pfeil war auf Waylands Brust gerichtet. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen.

«Siward?»

Wayland hob eine Hand und ging weiter.

Der Köhler rannte ihm nach. «Was machst du denn? Was war das vorhin für ein Lärm?»

Wayland legte einen Finger auf die Lippen.

«Sie werden jeden Augenblick hier sein», flüsterte der Köhler. «Warum bist du zurückgekommen?»

Wayland stand so nahe vor ihm, dass er Leofrics Augen durch die Schlitze in der Kapuze glänzen sah. Er hob den Zeigefinger.

«Was ist denn?»

Wayland trat dicht vor ihn und holte seitlich mit seinem Messer aus.

Der Köhler versteifte sich und legte die Hand ans Ohr. «Da kommt jemand.»

Von weitem war ein schwaches, aber kraftvolles Geräusch zu hören, das sich auf sie zubewegte. Es wurde lauter – ein ungezügelter Galopp, ein unaufhörliches … ja, was? Der Köhler machte einen Schritt rückwärts und stieß dabei mit Wayland zusammen.

Da brach der Hund mit wirbelnden Pfoten in einer weiten Kurve zwischen den Bäumen hervor. Als er die beiden Männer sah, kam er rutschend zum Stehen. Langsam drehte er den Kopf, und dann stand er einfach da, sein Fell glänzte schwach aus dem Schatten heraus, und aus seinem Maul stiegen Atemwolken auf.

«Allmächtiger!», keuchte Leofric entsetzt. Er ließ vor Schreck die Bogensehne los, und Wayland hörte den Pfeil durchs Unterholz jagen.

«Schieß!», schrie der Köhler und tastete mit fliegenden Händen nach dem nächsten Pfeil.

Doch schon griff der Hund an, als grau-schwarzer Schemen raste er auf sie zu. Der Köhler ließ seinen Bogen fallen und griff nach seinem Messer. Es gelang ihm, den Arm vors Gesicht zu heben, bevor der Hund ihn auf den Rücken warf.

Wayland stürzte herbei. Der Hund hatte die Schulter des Köhlers zwischen den Kiefern und schüttelte ihn wie ein Terrier eine Ratte. Das Messer flog aus Leofrics Hand. Wayland griff in die Nackenfalten des Hundes und versuchte ihn wegzuziehen.

Nein!

Er zerrte das bockende Tier, das weiter angreifen wollte, auf den Hinterläufen von dem Köhler weg.

Lass ihn!

Der Hund sah Wayland mit blutrünstigem Blick an.

Lass ihn.

Lauernd zog sich der Hund zurück. Der Köhler kroch auf den Ellbogen weiter von ihm weg. Wayland folgte ihm und stellte sich mit gezogenem Messer über ihn. Der Köhler sah zu dem Falkner empor, seine Kapuze war verdreht, und der Stoff über seinem Mund wurde mit jedem Atemzug eingesogen und wieder weggepustet. Wayland bückte sich und zog dem Mann die Kapuze vom Kopf. Dann streifte er seine eigene ab. Der Köhler verdrehte die Augen und ließ den Kopf nach hinten fallen.

Wayland fesselte ihm Hände und Füße und band ihn an einem Baum. Dann zeriss er die Kapuze des Mannes und benutzte die Stoffstreifen, um ihm die Augen zu verbinden und ihn zu knebeln.

Anschließend machte er sich auf die Suche nach dem Jungen.

Vallon ließ den Blick prüfend rechts und links an den Bäumen entlangwandern. Der Wald war still wie ein Grab. Raul hielt seine Armbrust schussbereit; von Zeit zu Zeit drehte er sich um und ging rückwärts, während er den Weg hinter ihnen kontrollierte.

«Wie weit sind wir schon gegangen?», fragte Vallon.

«Mindestens zwei Meilen. Es muss jetzt bald Mitternacht sein.» Raul deutete mit einer Kinnbewegung auf Hero und Richard. «Die beiden sind zum Umfallen müde.»

«Noch nicht.»

«Hauptmann, wenn Ihr glaubt, dass uns ein Hinterhalt erwartet, warum führt Ihr uns dann direkt hinein?»

«Wayland weiß, dass wir diesen Weg nehmen.»

«Vielleicht sehen wir ihn bis morgen früh nicht mehr. Ihr kennt ihn doch. Vielleicht ist er jagen gegangen. Aber noch wahrscheinlicher hat er sich irgendwo ein gemütliches Plätzchen zum Schlafen gesucht.»

«Wenn er das gemacht hat, bringe ich ihn um.»

Sie gingen in der beklemmenden Stille des Waldes weiter.

«Ich war schon einmal in so einem Wald», sagte Raul. «In der Normandie, mitten im Winter, kurz vor dem Julfest. Ich hatte eine Woche Ausgang und meinen Lohn, und den wollte ich in Rouen ausgeben. Ich bin früh aufgebrochen, aber nachmittags hat es angefangen zu schneien, und ich habe die falsche Abzweigung genommen. Es war ein trüber Tag, der Himmel so schwarz, als sollte gleich das jüngste Gericht stattfinden, und nirgends ein Haus oder eine Menschenseele. Ich kam an einen Wald und folgte einem Weg, der hineinführte. Als es dunkel wurde, war ich immer noch in dem Wald, und meine einzige Orientierung waren die Sterne am Himmel. Und als ich so durch diesen Winterwald ging, hatte ich das Gefühl, ganz allein auf der Welt zu sein, also habe ich meine Flöte herausgeholt und mir ein Liedchen vorgespielt, um wenigstens die Musik zur Gesellschaft zu haben. Dann hörte ich auf zu spielen, weil ich das Gefühl bekam, dass ich auf einmal viel mehr Gesellschaft hatte, als mir lieb sein konnte.

Es waren die Bäume. Es war, als würden sie sich nach mir umdrehen, nachdem ich an ihnen vorübergegangen war. Ich beobachtete sie aus dem Augenwinkel, und ich schwöre, dass sie sich über mir zueinanderneigten. Das war schon schlimm genug, aber dann … Dann berührte etwas meinen Rücken. Ich sprang vor Schreck in die Luft und drehte mich um. ‹Wer ist da?›, habe ich gerufen, aber niemand antwortete. Da war nichts außer Bäumen und Schnee. ‹Beachte die Kobolde und Gespenster einfach nicht, klar?›, habe ich zu mir selbst gesagt. Aber das ist leichter gesagt als getan, Hauptmann. Als ich weiterging, kribbelte mir der ganze Rücken, so sehr rechnete ich mit noch einer Berührung. Tja, es kam keine, aber dafür kam etwas anderes. Ich hörte es auf mich zuschleichen – der Schnee hinter mir knirschte und knarrte. Knirsch-knarr, knirsch-knarr. Vor lauter Angst konnte ich keinen Schritt mehr tun. Was immer auch hinter mir gewesen sein mag, blieb ebenfalls stehen. Dieses Mal wagte ich es nicht, mich umzudrehen, denn ich wusste, das Wesen hinter mir hatte Flügel und Hörner und Augen so groß wie Holzteller. Mit schlotternden Knien ging ich weiter, und das Ding folgte mir. Jedes Mal, wenn ich stehen blieb, blieb es auch stehen, und jedes Mal, wenn ich weiterging, folgte es mir.

Es kam immer näher. Knirsch-knarr, knirsch-knarr. Ich ging schneller, dann noch schneller, aber es hielt sich immer ein paar Schritte hinter mir. Hauptmann, ich habe in vielen Schlachten gekämpft, und ich schwöre, dass ich niemals vor dem Feind davongelaufen bin, aber dieses Ding, das mir an den Fersen klebte, jagte mir mehr Angst ein, als jeder sterbliche Mann mit einem Schwert oder einer Lanze es könnte. Dann gingen mir die Nerven durch, das gebe ich gerne zu, und ich begann so schnell zu rennen, wie ich es nur vermochte. Aber ganz gleich, wie schnell ich rannte, ich entkam dem Ding nicht. Ich hörte, wie es mit mir Schritt hielt, wie es näher kam, wie es wütend keuchte, und ich spürte seinen Atem im Nacken.

Und genau in dem Moment, in dem ich glaubte, es würde mich mit seinen Klauen packen, sah ich ein Feuer zwischen den Bäumen vor mir. Ein Holzfällerlager. Ich hetzte darauf zu, als wäre der Leibhaftige hinter mir her, was er ja wohl auch war, und dann ließ ich mich bei dem Feuer zu Boden fallen und faselte wie ein Schwachkopf vor mich hin. Der alte Holzfäller, Gott segne ihn, schaute auf mich herunter, und dann schaute er hinter mich, und zog ein sehr eigenartiges Gesicht.

‹Was ist es?›, schrie ich.

Langsam hob er seine knochige Hand und deutete hinter mich. Ich drehte mich kriechend um. Und dann sah ich es.»

«Was?», fragte Vallon, der immer noch den Wald beobachtete.

Raul blieb stehen, fiepende Töne kamen aus seinem Mund, so sehr wurde er von Gelächter geschüttelt. «Ein Tau, das sich aus meinem Bündel gelöst hatte und hinter mir herschleifte.»

Vallon lachte nicht und blieb auch nicht stehen. «Raul, du bist ein betrunkener Prahlhans.»

«Wartet. Es geht noch weiter.»

Vallon packte ihn am Arm. «Ich habe einen Schrei gehört.»

Raul musterte aufmerksam die Umgebung. «Wahrscheinlich ein Fuchs.»

Vallon drehte sich um. «Wayland kommt nicht. Wir müssen einen Weg durch diesen Wald finden.»

«Ohne Wayland laufen wir nur im Kreis. Schlagen wir ein Lager auf und gehen weiter, wenn es hell wird.»

Vallon spürte Wut in sich aufsteigen. «Was glaubt dieser dumme Kerl eigentlich? Wenn das eine richtige Kompanie wäre, würde ich ihn wegen Desertion aufhängen lassen.»

Raul legte ihm die Hand auf den Arm. «Kommt, Hauptmann, ich suche uns einen Lagerplatz.»

«Herr», sagte Hero und deutete den Weg entlang.

In einiger Entfernung nahm Vallon eine Bewegung wahr. Er zog sein Schwert. «Sucht Deckung im Wald.»

Sie stürzten zwischen die Bäume. Raul ließ sich auf ein Knie nieder und hob die Armbrust. Vallon behielt den sich nähernden Umriss im Blick. Schließlich sagte er: «Es ist Wayland. Wayland mit seinem Hund.»

Raul schlug ihm auf die Schulter. «Ich kann’s nicht leugnen, Hauptmann. Ich fühle mich wohler, wenn er bei uns ist. Wenn dann nämlich irgendwer denkt, er könnte uns überraschen, muss er viel früher aufstehen.»

«Er hat jemanden bei sich», sagte Hero.

«Das ist der Junge aus dem Gasthaus», sagte Vallon. Er sah in die andere Richtung den Weg entlang. «Bleibt in Deckung.»

Bei ihnen angekommen, blieb Wayland stehen. Er hatte den Jungen mit einem Strick an das Halsband des Hundes gebunden. Über seiner Schulter hing ein zerfetztes, mit Blattwerk und Zweigen übersätes Kleidungsstück.

«Raul, stell fest, was los ist.»

Vallon überwachte den Weg, während der Deutsche anfing, Fragen an Wayland zu stellen und seine Gesten zu deuten.

Als Raul zu Vallon zurück kam, war er tiefernst. «Ihr hattet recht, Hauptmann. Ein Stück weiter vorn lauern uns bei einer alten Eiche sieben Halsabschneider auf. Es waren noch zwei mehr, aber um die hat sich Wayland gekümmert.»

«Hat er sie getötet?»

«Der Hund hat einen getötet. Den anderen hat er an einen Baum gefesselt.»

«Er hätte ihn auch umbringen sollen.»

«Ich weiß, aber der Kerl hat eben manchmal ein zu weiches Herz.»

«Und welche Rolle spielt der Junge bei der ganzen Sache?»

«Er ist uns nachgeschlichen, um Bescheid zu sagen, falls wir irgendwo im Wald ein Lager aufgeschlagen hätten. Sein Vater ist der Anführer. Die Banditen in dieser Gegend lernen ihre Kinder ziemlich früh an.»

«Was machen wir jetzt?», flüsterte Hero.

«Wayland weiß, wo sie im Hinterhalt liegen», erklärte ihm Raul. «Wir sind längst über alle Berge, wenn ihnen auffällt, dass wir einen anderen Weg genommen haben.»

Vallon sah den Falkner an. «Kannst du uns um die Falle herumführen?»

Wayland warf einen zweifelnden Blick auf Hero und Richard.

«Das schaffen sie jetzt nicht», sagte Raul. «Sie sind halb tot vor Schlafmangel.»

«Dann sind sie bald ganz tot. Wir müssen vor Tagesanbruch aus dem Wald heraus sein.»

Wayland deutete auf den Jungen, dann auf den Hund, und anschließend machte er eine streichende Bewegung den Weg hinunter. Dann deutete er auf die Flüchtenden und machte noch einmal die gleiche Geste.

Vallon runzelte die Stirn. «Ich glaube, er will sagen, dass wir auf dem Weg weitergehen und den Jungen als Geisel benutzen sollen.»

Nun deutete Wayland auf sich selbst, dann auf die Bäume, und beschrieb mit der Hand einen Halbkreis, um anzuzeigen, dass er einen Bogen durch den Wald schlagen würde, um den Banditen in den Rücken fallen zu können.

Vallon sah den Jungen an. «Finde heraus, wie sein Vater heißt.»

Als Raul auf ihn zuging, wich der Junge so weit zurück, wie es der Strick zuließ, und atmete flach und hörbar durch die Nase. Raul packte den Jungen am Kragen und hob ihn vom Boden. «Sag uns, wie dein Vater heißt, du kleiner Mistkäfer.»

Der Junge würgte eine Silbe hervor.

«Was war das? Ash? Hast du Ash gesagt?»

Der Junge ruckte mühsam mit dem Kopf auf und ab. Raul stellte ihn wieder auf die Füße. «Klang wie Ash.»

Wayland nickte.

Vallon musterte den dunklen Weg. «Wie viele Reisende hier wohl schon den Tod gefunden haben?», sagte er. Dann wandte er sich an Raul. «Ich finde, wir sollten Ash ein bisschen von den Schrecken zurückgeben, die er so großzügig verteilt hat.»

Auf die Banditen, die bei der Eiche auf der Lauer lagen, mussten sie wie eine Erscheinung aus dem Märchen wirken. Der Junge saß rittlings auf dem riesenhaften Hund, Vallons Schwertklinge ruhte glitzernd auf seiner Schulter, und die Übrigen scharten sich dicht um die beiden.

Einen Pfeilschuss von der Eiche entfernt blieben sie stehen.

«Ash?», rief Raul. «Ash? Deine Augen trügen dich nicht. Das ist dein Sohn auf dem Hund, und er wird ihn genauso erbarmungslos zerfleischen, wie er Siwards Kehle zerfleischt hat. Leofric ist auch tot. Der Wolfsjunge hat ihn getötet. Willst du wissen, wo der Wolfsjunge steckt? Er ist näher bei dir, als du denkst. Er beobachtet dich. Er trägt den Umhang und die Kapuze deiner eigenen Leute. Sieh dir genau an, wer neben dir steht. Sieh ganz genau hin. Bist du sicher, dass du wirklich weißt, welchen Mann du vor dir hast? Bist du sicher, dass es überhaupt ein Mann ist? Der Wolfsjunge kann sich nämlich in jede Gestalt verwandeln. Und jetzt hör genau hin.»

Totenstille. Dann erklang ein Geräusch, bei dem sich Vallons Nackenhaare sträubten. Der Hund, den alle für stumm gehalten hatten, hob den gewaltigen Kopf und stimmte jaulend in das Geräusch ein. Das klagende Heulen jagender Wölfe stieg auf, bis es den gesamten Wald zu erfüllen schien. Dann erstarb es und hinterließ eine schaurige Leere.

«Die Vorstellung ist beendet», schrie Raul. «Wenn du deinen Jungen lebend wiedersehen willst, folgst du uns nicht. Falls du tust, was ich sage, kannst du ihn unversehrt im nächsten Dorf abholen.»

Sie setzten sich wieder in Bewegung. Eine Meile jenseits des Hinterhalts wurde der Wald von offenem Land abgelöst. Raul blies die Wangen auf. «Hauptmann, das war der längste Marsch meines Lebens. Mein Rücken kam mir vor wie eine einzige große Zielscheibe.»

Vallon sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. «Woher wusstest du, dass ich mit Rodrigo Diaz gekämpft habe?»

«El Cid? Das wusste ich nicht. Das waren nur Schausteller-Sprüche.» Er stolperte. «Oder etwa nicht?»

«Geh mit den anderen weiter.»

Raul entfernte sich. Hinter ihnen erstreckte sich der Weg wie ein Band aus schwärzlich angelaufenem Silber. Vor ihnen klang Hundegekläff aus der Ferne herüber. Vallon wischte sich mit dem Handrücken über die Augenbrauen. Er hatte das Gefühl, durch einen Albtraum gegangen zu sein.

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