XXXIII

Von Nordwesten trieb schneidend kalter Wind Regenböen vor sich her. Die Shearwater lag im Windschatten der Flussmündung.

«Warum ich?», sagte Hero zum tausendsten Mal. «Warum überhaupt einer von uns? Das hat Thorfinn nicht zur Bedingung gemacht. Vallon hat mich eingesetzt wie einen Bauern auf dem Schachbrett.»

«Es ist ja nicht für lange», beruhigte ihn Richard.

«Zehn Tage mit einer Bande mordlustiger Wilder!»

Jemand rief etwas, und das Schiff neigte sich, als alle auf eine Seite stürzten.

«Dort kommen sie!», rief Vallon. «Zieht das Segel auf. Wir drehen auf die Windseite.»

Der scheckige Rumpf des Langschiffs tauchte aus den Regenschleiern auf.

«Ich würde an deiner Stelle gehen, wenn ich könnte», sagte Richard.

«Das weiß ich.» Hero brachte ein schwaches Lächeln zustande. «Das Seltsame ist, dass ich dasselbe für dich tun würde.» Er stand auf, seine Decke rutschte ihm von den Schultern, und er küsste Richard auf beide Wangen. «Falls du mich nicht wiedersiehst, sollst du wissen, dass ein Teil meines Herzens für immer bei dir bleibt.»

Garrick hob die Decke auf und legte sie Hero wieder um die Schultern. «Ich passe gut auf ihn auf.»

Die Shearwater krängte, als sich das Schiff auf die ostwärts gelegene Landspitze ausrichtete. Eine halbe Meile in Windrichtung vor dem Langschiff befahl Vallon, das Segel einzuholen. Die Wikinger hörten auf zu rudern. Vallon beobachtete sie lange und schweigend, und Hero hatte das Gefühl, dass er selbst in diesem Moment noch seine Meinung ändern könnte.

«Die Wikinger machen ihr Beiboot klar», sagte Raul. «Sieht so aus, als wollten sie die Sache durchziehen.»

«Ins Boot», sagte Vallon.

Zwei Ruderleute stiegen ein, dann kletterten die vier isländischen Geiseln in das Boot. Vater Hilbert erklärte ihnen, dass sie nun Gottes Zorn für ihre Sünden ernteten, dass sie aber, wenn sie wahre Reue zeigten, dereinst vielleicht dennoch in die glückseligen Gefilde des Himmels eingehen könnten.

Vallon raunte ihm leise zu: «Wenn Ihr nicht augenblicklich einen anderen Ton anschlagt, findet Ihr Euch gleich bei den Wikingern zum Predigen wieder.»

Dann nahm er Garrick beiseite, und der Engländer grinste, als er sich mit einem Handschlag verabschiedete. Anschließend wandte sich Vallon an Hero.

«Hasse mich nicht zu sehr. Ich habe dich ausgewählt, weil du einen raschen Verstand hast und überzeugend reden kannst. Bald bist du wieder bei deinen Gefährten.» Er nahm Hero an den Schultern, legte sein Gesicht an Heros Wange und fügte leise hinzu. «Du bist mir so lieb wie mein eigener Sohn. So, jetzt habe ich es gesagt. Keinen Augenblick zu früh.»

Verwirrt von diesem Bekenntnis, kletterte Hero ins Boot. Das halbe Segel und das Tauwerk wurden hinuntergereicht. Dann löste jemand die Vertäuung, und unter bedauernden und ermutigenden Rufen wurden die Geiseln davongeschickt.

Mit dem Wind im Rücken bewegte sich das Beiboot der Wikinger schneller, als die Isländer rudern konnten. Heros Truppe hatte erst ein Drittel der Strecke zu dem Langschiff zurückgelegt, als das Beiboot der Wikinger schon bei ihnen angelangt war. Keine Seite konnte sich den Blick auf den Gegenpart verkneifen. Zwei der Wikinger bemühten sich um eine betont gleichgültige Miene. Einer zog Rotz hoch und spuckte aus. Der vierte, er war sehr jung, sah genauso verängstigt aus, wie Hero sich fühlte. Sein Gesicht war bleich, und er biss die Zähne zusammen. Ihre Blicke trafen sich und ließen sich nicht los, bis die Boote aneinander vorbeigeglitten waren.

Dann zwang sich Hero, nach vorn zu blicken. Ein heftiger Ruderschlag besprühte ihn mit Gischt. Wenn sie durch ein Wellental fuhren, sah er von dem Langschiff nichts außer dem Mast. Sie kamen näher heran, und langsam konnte er die Gestalten der Männer ausmachen, die an der Reling des Langschiffs standen und allesamt von Thorfinn überragt wurden.

Das Beiboot kam längsseits. Hero fiel auf, dass die neuen Planken des Langschiffs mit groben Holznägeln gesichert, der Rumpf mit einem Rahmen aus Holzstangen verstärkt und die neuen Ruderbänke nur grob zurechtgezimmert worden waren. Die Wikinger zogen die vier Isländer an Bord und schoben sie nach achtern zu den Gefangenen. Als Garrick ihnen folgen wollte, verstellte ihm Thorfinn den Weg.

«Engländer?»

Garrick nickte.

«Hast du mein Schiff angezündet?»

«Ich bin Bauer. Der Franke hat mich geschnappt, als ich meine Felder bestellt habe. Ich hatte noch nie im Leben ein Schwert in der Hand.»

Thorfinn schob ihn weg. Dann kletterte Hero in das Langschiff und rutschte auf dem schrägen Rumpf aus. Thorfinn fing ihn am Unterkiefer auf und zog ihn zu sich heran.

«Franke?»

«Grieche», murmelte Hero.

Thorfinns Zähne waren fleckig, und sein Atem stank. «Hast du mein Schiff angezündet?»

«Nein», krächzte Hero.

«Einer der Männer, die mein Schiff angezündet haben, war schwarzhaarig. Du hast schwarze Haare.»

«Sehe ich etwa wie ein Krieger aus? Ich bin Student. Ich studiere Medizin.»

Thorfinn hob das Kinn in Richtung der isländischen Geiseln. «Die wissen, wer mein Schiff angesteckt hat. Und sie werden es mir erzählen.»

Der Anführer der Wikinger ließ Hero los, und er taumelte zu einer unbesetzten Ruderbank. Einer der Wikinger schlug ihn mit einer Knute.

«Rüber zu dem englischen Sklaven.»

Hero setzte sich neben Garrick. Man drückte ihnen Riemen in die Hand. Thorfinn begann mit dem Stiel seiner Axt an den Vordersteven zu klopfen. «Er gibt den Takt vor», sagte Garrick.

Beim Rudern musterte Hero die isländischen Gefangenen. Die Männer wirkten beschämt und wichen seinem Blick aus, die beiden Frauen wollten ihn überhaupt nicht ansehen. Es waren Mutter und Tochter, das Mädchen nicht älter als fünfzehn Jahre. Ihr Vater hatte mit bloßen Händen versucht, sie zu beschützen, und die Wikinger hatten ihn kurzerhand über Bord geworfen.

Dann riskierte Hero einen Blick über die Schulter und sah, wie sich die Shearwater entfernte.

Ihr Kurs führte sie zwischen eine große, flache Insel und eine teilweise zugeschneite Granitküste. Kurz nach der Mittagszeit waren die Wikinger mit der Takelung des Segels fertig, sodass eine wohltuende Ruderpause eingelegt werden konnte. Noch unter einem halben Segel flog die Drakkar beinahe übers Wasser, ihr notdürftig reparierter Rumpf wand sich durch die Wogen wie eine Schlange. Der Wind peitschte Gischt von den Wellenkämmen und ließ Tropfenschauer ans Dollbord hageln. Die Shearwater zog unter gerefftem Segel dahin, verschwand manchmal hinter den Regenschleiern und tauchte unter einem Regenbogen wieder auf.

Die beiden Schiffe blieben in Sichtkontakt, und gegen Abend führte Thorfinn sie in eine Flussmündung, wo sie etwa eine halbe Meile voneinander entfernt an den gegenüberliegenden Ufern ankerten. Die Wikinger aßen das Elchfleisch, mit dem Vallon sie versorgt hatte, und gaben den Geiseln so ranzigen Stockfisch, dass Hero schon beim ersten Bissen würgte. Einer der Piraten musterte ihn über das funkensprühende Lagerfeuer aus Treibholz hinweg. «Stimmt es, Grieche, dass du von England hierhergesegelt bist?»

«Von noch weiter. Vallons Reise hat in Anatolien begonnen. Meine in Italien.»

Der Wikinger grinste seine Kameraden an und beugte sich vor. «Erzähl uns davon. Deine Geschichte muss nicht wahr sein, nur unterhaltsam.»

Also berichtete Hero mit leichten Abänderungen von ihrer Reise und erzählte, Vallon sei ausgezogen, um das Lösegeld für einen Waffenbruder zu überbringen, der bei Manzikert von den Türken gefangen genommen worden war.

Er wurde mit Fragen überhäuft. Wer waren die Seldschuken? Wo hatte Vallon gekämpft? Hatte Hero Miklagard besucht? Stimmte es, dass der Papst auf einem goldenen Thron von fünfzig Fuß Höhe saß?

Als es dunkel und er heiser geworden war, verkündete Hero, er habe für einen Tag genug erzählt. «Ich mache morgen weiter. Wir sind schon so lange unterwegs und haben so viele Abenteuer erlebt, dass ich euch damit unterhalten kann, bis wir bei dem Wald angekommen sind.»

Er legte sich neben Garrick und schloss die Augen. Kaum war er eingeschlafen, erwachte er schon wieder, weil die Männer am Lagerfeuer lärmend aufstanden und weggingen. Er drehte sich zu Garrick um.

«Wohin gehen sie?»

«Zu den Frauen. Hör einfach nicht hin.»

Aus der Dunkelheit jenseits des Feuers kam rhythmisches Keuchen und Grunzen. Dann hörte es auf, und einer der Wikinger schlenderte zum Feuer zurück und sank gähnend auf sein Deckenlager. Die brünstigen Geräusche fingen wieder an, unterbrochen von Wimmern und gelegentlichen Scherzen derjenigen Wikinger, die noch warteten, bis sie an der Reihe waren.

Hero starrte ins Feuer, als könnten die Flammen die Bilder in seinem Kopf auslöschen. So saß er da, bis alle Männer fertig und zu ihren Schlafplätzen zurückgekehrt waren. Als er aufsah, bemerkte er, dass ihn Thorfinn mit einem mörderischen Blick ansah. Dabei zwinkerte er ab und zu mit einem Auge und fuhr sich mit der Zunge innen an der rechten Wange entlang.

An den meisten Tagen, wenn Wind und Gezeiten es zuließen, setzten die beiden Schiffe bald nach Sonnenaufgang das Segel und gingen am frühen Nachmittag vor Anker. Den Rest des Tages verbrachten die Besatzungen damit, an Land nach Beeren und Treibholz zu suchen, und zogen dabei in unterschiedliche Richtungen über das karge Küstenland. Die Geiseln bekamen zumeist steinhartes Brot und stinkenden, luftgetrockneten Kabeljau zu essen, der die Konsistenz von aufgewärmtem Schuhleder behielt, ganz gleich, wie lange er gekocht wurde. Der Geruch hing wie eine Glocke über dem Schiff. Etwas anderes hatten die Wikinger zur Verpflegung nicht dabei, weil sie es nicht mehr gewagt hatten, auf die Jagd zu gehen, nachdem ihr Schiff angesteckt worden war. Einer von ihnen erzählte Hero, dass sie im Wald außerdem unheimliche Totemzeichen gesehen hätten, die von den Ästen der Bäume herabhingen. Einige davon waren nur Schritte von den Stellen entfernt gewesen, an denen ihre Späher Wache gestanden hatten.

«Die müssen von Wayland gewesen sein», sagte Hero. «Er ist nach der Geburt im Wald ausgesetzt und von seinem riesigen Hund aufgezogen worden.»

Die Wikinger sahen unbehaglich ins Halbdunkel. Die Omen der Natur schienen sie sehr zu beeindrucken.

Thorfinn ließ die flache Seite seiner Axt zu Boden fahren. «Säe Furcht und ernte Entsetzen.» Er funkelte seine Getreuen wütend an. «Der Hund kann den englischen Jungen gar nicht aufgezogen haben. Er ist siebzehn, und ein Hund lebt kaum halb so lange.»

Niemand sagte ein Wort. Dass der Hund anscheinend nicht alterte, ließ ihn nur noch furchterregender erscheinen.

Am dritten Nachmittag kamen sie an einen Küstenabschnitt, dem eine Inselkette vorgelagert war. Die Trupps schwärmten zur Nahrungssuche aus, und Hero fand sich allein mit Arne wieder, einem Wikinger, dessen ruhiger Blick und verträglicher Umgang so gar nicht zu seinem gewalttätigen Beruf passen wollten. Sie entdeckten Heidelbeeren und Krähenbeeren, und Hero stillte sein Bedürfnis nach Zucker, bis seine Lippen blau gefärbt waren.

Arne kauerte ein paar Schritt weiter und begutachtete einen flachen Felsen. In die Oberfläche waren Dutzende Strichzeichnungen geätzt, die Männer auf der Jagd zeigten.

«Das haben die Skraelinger gemacht», sagte Arne. «Im Frühling ziehen sie mit den Rentieren an die Küste, und im Herbst kehren sie in die Wälder zurück. Wir werden ihnen auf dieser Reise bestimmt noch begegnen.»

Die beiden Männer ließen sich nebeneinander nieder und lehnten sich mit dem Rücken an den Felsen. «Hier», sagte Arne und gab Hero ein Stück geräuchertes Elchfleisch. «Erzähl es keinem.»

Sie kauten. Nach einem Bissen Brot sagte Arne: «Was gäbe ich um einen frischgebackenen Laib Brot.»

«Oder einen Teller Pfannkuchen, von denen noch die Butter trieft», sagte Hero.

«Und Honig», fügte Arne sehnsüchtig hinzu.

Hero lachte. «Wenn wir schon träumen, warum dann keinen Syllabub? Sahnecreme über einer Schicht Früchte und Mandeln. Und alles auf einem Kuchenboden, der mit Marsalawein gesüßt ist.»

Arne warf den Kopf in den Nacken. «Hör auf, mich zu foltern!» Dann schaute er seufzend zu den spielzeugkleinen Schiffen hinunter, hinter denen sich das taubengraue Polarmeer bis weit über die Grenzen menschlicher Vorstellungskraft hinaus erstreckte. «Deine Geschichten. Sie sind nicht alle wahr, oder?»

«Jedes Wort.»

«Der Franke hat Glück, was?»

«Es ist mehr Gewieftheit als Glück.»

Arne nickte. «Ein Krieger braucht einen kräftigen Körper, aber ein Körper ohne einen Kopf ist nutzlos.»

Hero spürte eine Gelegenheit. «Willst du damit sagen, dass Thorfinn kein Glück hat?»

«Da sei lieber vorsichtig. Je mehr das Schicksal Thorfinns Pläne durchkreuzt, desto wilder kämpft er dagegen an. Er würde eher die Welt untergehen lassen, als eine Niederlage einzugestehen.» Arne streifte die winzigen Blüten von einem Stängel Heide. «Nein, es ist nicht das Glück, das Thorfinn bei seinen Unternehmungen fehlt. Das Zeitalter der Seeräuber ist vorbei. Die Leichen der alten Helden sind verbrannt, die Tore von Walhalla geschlossen. Oder vielleicht wird Thorfinn der letzte Krieger sein, der in Walhalla einzieht.» Arne warf den Stängel weg. «Überall, wo wir hinkommen, haben sich die Leute in Zitadellen verschanzt. Wenn sie von ihren Wachtürmen aus unsere Drachenköpfe sehen, verbarrikadieren sie die Tore, ziehen auf die Wälle, und verhöhnen uns oder zeigen uns ihre nackten Ärsche.»

«Und warum geht ihr dann immer noch auf Raubzüge?»

«Hungersnöte machen aus jedem Mann einen Piraten. Ich habe eine Frau und vier Kinder und einen Bauernhof, dessen karges Land nur zwei Kühe und zwanzig Schafe ernährt. Meine Weiden sind so steil, das ich mich mit einem Seil festbinden muss, um das Heu zu holen. Wenn diese Fahrt keinen Gewinn bringt, muss ich meine beiden Ältesten in die Knechtschaft verkaufen.»

Über die Tundra raste ein grauschwarzer Schemen. Arne zog sein Schwert.

«Das ist Waylands Hund», sagte Hero.

«Ich weiß. Ich habe gesehen, wie dieses Vieh uns von der Klippe oberhalb des Lagers aus beobachtet hat.»

Der Hund hielt etwa hundert Schritt von ihnen entfernt an und setzte sich auf die Hinterbeine. Arne murmelte eine Art Heiligenanrufung und sagte dann: «Was will er? Warum sitzt er dort?»

«Vielleicht bringt er eine Nachricht. Lass mich zu ihm gehen. Ich versuche bestimmt nicht zu flüchten.»

Arne versicherte sich mit einem Rundblick, dass keiner seiner Gefährten in Sicht war. «Aber mach schnell.»

Hero ging vorsichtig auf das Tier zu. «Guter Hund», murmelte er. Der Hund starrte hechelnd geradeaus. An sein Stachelhalsband war eine kleine Pergamentrolle gebunden. Hero löste sie aus der Schnur.



Mein lieber Freund,

ich hoffe, dieser Brief trifft dich bei Gesundheit und guter Stimmung an. Vallon verwöhnt unsere Wikingergäste so sehr, dass ich langsam fürchte, sie werden uns nicht mehr verlassen wollen, wenn es so weit ist. Bis dahin sind wir in Gedanken und Gebeten immer bei dir und Freund Garrick. Wenn sich eine Möglichkeit ergibt, lass uns wissen, wie es dir ergeht.

Um deine sichere Rückkehr betend, Richard

Hero hatte keine Möglichkeit zu antworten. Zaudernd gab er dem Hund einen Klaps, und das Tier stand auf und rannte auf demselben Weg zurück, auf dem es gekommen war. Den Brief in der Hand, ging Hero lächelnd wieder zu Arne.

«Zeig ihn mir», verlangte Arne.

«Es ist nur eine Nachricht von meinem Freund Richard. Er hofft, dass ich guten Mutes bin, und versichert, dass deine Leute bei uns gut behandelt werden.»

Arne beäugte die Schrift, dann zerknüllte er den Brief und warf ihn weg. «Thorfinn soll nichts davon erfahren. Er glaubt, dass christliche Runenzeichner bösen Zauber verbreiten.»

«Hattet ihr denn auch einmal mit christlichen Missionaren zu tun?»

«Vor drei Jahren ist ein Priester zu Thorfinns Palas gekommen und hat ihm Runen gezeigt, von denen er schwor, sie wären die Worte eures Gottes.»

«Die Bibel.»

«Er hat gesagt, dass dieser Gott … Ich habe seinen Namen vergessen.»

«Jesus.»

«Er sagte, dieser Gott hätte sich selbst zur Rettung der Frevler und Sünder geopfert.»

«Das stimmt. Jesus wurde von seinem Vater gesandt …»

Arne hob die Hand. «Er sagte, dass die Sanftmütigen über die Starken triumphieren würden und dass das Richten und Strafen allein Gottes Sache sei. Thorfinn hat gefragt, was für eine Art Gott das sein soll, der sein Leben verschwendet, um Verbrecher und Feiglinge zu retten. Da hätte der Priester so klug sein sollen, den Mund zu halten, aber stattdessen hat er mit seiner Predigt immer weitergemacht, bis Thorfinn ihn schließlich gefragt hat, ob er den Mut hätte, dem Beispiel seines Gottes zu folgen.» Arne unterbrach sich. «Nein, das willst du nicht wissen.»

«Ich kann es mir schon vorstellen», sagte Hero. Ein Schauder lief ihm über den Rücken.

«Thorfinn hat dem Priester von seinen Gewalttaten erzählt – wie er die Lebern seiner Feinde gegessen und sie mit seinem Messer zum Blutadler gemacht hat. Dann hat er gesagt, wenn es diesen Gott wirklich gibt, müsse der Priester bereit sein, für die Rettung von Thorfinns Seele sein Leben zu opfern. Der Priester bekam entsetzliche Angst, und er hat seinen Gott angefleht, ihn zu retten. Thorfinn hat ihn gekreuzigt.»

Hero starrte zu Boden. «Ist er tapfer in den Tod gegangen?»

«Ein Mann stirbt nur im Kampf tapfer.» Arne stand auf. «Wir sind schon zu lange weg. Thorfinn wird misstrauisch werden.»

Zwei Tage später umrundeten sie die Halbinsel und fuhren ins Weiße Meer ein. Bei Einbruch der Dämmerung ankerten sie in einer Flussmündung, über der sich eisengraue Klippen mit schneebedeckten Kuppen erhoben. Als sie ruhig vor Anker lagen, überprüfte Hero mit seinem Kompass ihren neuen Kurs. Sein Herz machte einen Satz, als neben ihm eine eisengraue Bewegung niederfuhr und die Ruderbank an seiner Seite zersplittern ließ.

Thorfinn sammelte die Bruchstücke ein. «Was ist das?»

Hero rutschte ängstlich von ihm ab. «Ein Richtungsfinder. Er kann einem den Weg zeigen, wenn Wolken vor der Sonne liegen.»

Thorfinn starrte finster auf ihn herab, seine rechte Wange war geschwollen, sein Auge zu einem obszönen Zwinkern zusammengedrückt. «Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, wo es langgeht?» Er schnappte sich den Kompass und warf ihn über Bord.

Heros Angst verwandelte sich in Wut. «Du ungebildeter Heide», schrie er auf Griechisch. «Kein Wunder, dass deine Ausfahrten mit Misserfolgen enden.»

Arne zog ihn weg. «Du Schwachkopf! Der Zahnwurm treibt ihn in den Wahnsinn. Er kann die Schmerzen nur ertragen, wenn er diejenigen in seiner Umgebung noch schlimmer leiden lässt. Du kannst von Glück reden, dass er dich nicht erschlagen hat.»

Den gesamten restlichen Abend bekam Hero sein Zittern nicht unter Kontrolle.

Als er am nächsten Morgen an Bord des Langschiffs ging, schubsten ihn zwei Wikinger vor Thorfinn. Bei dem Gedanken, dass der Clanchef herausgefunden haben könnte, welche Rolle er bei dem Brandanschlag auf das Langschiff gespielt hatte, gaben Heros Beine fast unter ihm nach. Thorfinn saß zusammengesackt auf einer Ruderbank, das Gesicht mit einem schmuddeligen Verband umwickelt. Er richtete sein gutes Auge auf Hero. «Du behauptest, du wärst ein Heiler.»

Hero griff sich an die Kehle. «Ich bin Allgemeinarzt, kein Zahnarzt. In meinem Land überlassen wir das Zähneziehen den Barbieren.»

Thorfinns helles Auge zuckte. «Ich bin aber nicht in deinem Land, und ich will auch nicht rasiert werden.»

Arne gab Hero einen Stoß. «Besser, du machst es. Ich habe schon Männer am Zahnwurm sterben sehen, und wenn Thorfinn geht, dann nimmt er dich mit. Das kannst du mir glauben.»

Hero verschränkte die Hände, damit sie aufhörten zu zittern. «Ich muss dich untersuchen. Leg dich auf den Rücken.»

Schmerz und die Hoffnung, davon erlöst zu werden, können auch den wildesten Gesellen zähmen. Thorfinn streckte sich auf einer Ruderbank aus und öffnete den Mund. Hero musterte die verklebten Zähne und bemühte sich, den Fäulnisgestank nicht einzuatmen. Die Entzündung ging von einem abgebrochenen und verfaulten Backenzahn im rechten Oberkiefer aus. «Du hast eine schlimme Eiterbeule.»

«Aargh.»

Hero überlegte, ob er die Entzündung mit einer Lanzette aufstechen sollte, doch die Erleichterung wäre vielleicht nur von kurzer Dauer, und der Schnitt konnte die Infektion noch verschlimmern. «Der Zahn muss raus. Jeder von deinen Männern ist imstande, ihn dir zu ziehen.»

Thorfinn grinste schaurig. «Ich will keinen von diesen Kerlen mit ihren Schlachterfingern in meinem Mund herumfummeln lassen. Du machst es.»

Hero brach der kalte Schweiß aus. Da hätte er genauso gut einem Bären einen Zahn ziehen können. «Mir fehlen die richtigen Instrumente.»

Einer der Wikinger gab ihm eine Schmiedezange. «Mit der wird es gehen.»

«Nein, wird es nicht. Der Zahnstumpf ist zu kurz, um ihn richtig zu packen. Die Zange wird die Zahnwände bloß zerdrücken, und dann geht es ihm noch schlechter als jetzt schon.»

Thorfinn klopfte sich an die geschwollene Backe. «Genug geredet.»

Hero sah zur Rah hinauf. Er hatte eine Idee. Zuerst wollte er sie als absurd abtun, doch etwas anderes fiel ihm nicht ein, und so kam er immer wieder darauf zurück. «Zeig mir noch mal den Zahn.» Er betrachtete den klumpigen Stumpf inmitten des entzündeten Zahnfleischs. «Wer kann am besten ein Takling um ein Tauende binden?»

Die Wikinger wichen zurück. «Arne ist dein Mann.»

Hero sah ihn an. «Ich will, dass du einen Zwirn um den Zahn wickelst. Ich beschaffe den Zwirn.»

Arne inspizierte den Zahn. Dann schüttelte er den Kopf.

Thorfinn verpasste ihm einen Schlag. «Mach, was der Grieche sagt.»

Arne zog eine Grimasse. «Er wird vor Schmerzen um sich schlagen. Dann kann ich die Schnur nicht richtig befestigen.»

Hero dachte an den Schlaftrunk in seinem Kasten. Er nahm die Flasche heraus, entstöpselte sie und bat um einen Becher. Er goss die Hälfte des Flascheninhalts hinein und reichte Thorfinn das Gefäß. «Trink das. Es betäubt die Schmerzen.»

Thorfinn roch an der Flüssigkeit und blinzelte. «Willst du mich vergiften?»

«Was dich vergiftet, ist dein fauler Zahn. Trink.»

Thorfinn schluckte das Schlafmittel.

«Wir müssen warten, bis die Wirkung einsetzt», sagte Hero.

Zunächst begann nur Thorfinns Blick aus dem guten Auge unstet herumzuwandern, und er brach in einen rauen Gesang aus. Die Wikinger starrten einander an. «Bei Odin, nicht zu glauben. Unser Anführer ist von ein paar Löffelvoll stockbesoffen.»

Hero nickte Arne zu. «Du», sagte er zu einem der Wikinger, «halte Thorfinns Kopf fest.»

«Haaa-hoo», grölte der Anführer. «Ich mach die Weiber froooh.»

Arne mühte sich, den Zwirn um den verrotteten Zahn zu wickeln und zu verknoten. Er murmelte dabei vor sich hin und musste mehrfach unterbrechen, um die Stelle von Blut und Speichel zu befreien. Schließlich wippte er auf die Fersen zurück. «Fester geht es nicht.»

Hero sah zum Mast hinauf und stellte Überlegungen an, die eher zu einem Ingenieur als zu einem Arzt gepasst hätten. «Legt euren Anführer auf die Ruderbank direkt unter der Rah, den Kopf zur Seite geneigt. Bindet das freie Ende der Schnur an eine Leine, die lang genug ist, um über die Rah zu reichen und von dort aus zehn Fuß herunterzuhängen. Ich brauche ein schweres Gewicht. Ein Ballaststein müsste reichen. Außerdem einen Sack für das Gewicht und ein kurzes Tau, um es an die Rah zu hängen. Drei Fuß sollten genügen.»

Einer der Männer suchte einen großen, ovalen Stein aus der Ballastladung, die um den Mastfuß aufgeschichtet war, und hielt ihn hoch.

«Mein kleiner Lieblingsstein», flötete Thorfinn. «Ich habe ihn selbst am Strand von Saltfjord gefunden.» Dann begann er wieder zu singen und schwang dabei eine Hand wie ein Pendel vor dem Gesicht hin und her.

«Steckt den Stein in den Sack», sagte Hero. «Dann bindet ihr ihn mit dem kurzen Tau zu und hängt ihn an die Rah.»

Einer der Wikinger kletterte zur Rah hinauf und schob sich darauf entlang. Hero berechnete Winkel und Fallkräfte. «Bind ihn dort an. Gerade eben so, dass er später nicht ins Schiff, sondern ins Wasser fällt. Genau, das ist die richtige Stelle. Bleib, wo du bist, und schneide das Tau durch, wenn ich es dir sage.» Er sah sich um. «Werft die Leine über die Rah. Gut.» Er schätzte, dass die Fallhöhe zehn Fuß betrug, und sah zu dem Mann hinauf, der rittlings auf der Rah saß. «Zieh die Leine zu dir. Das reicht. Schneid sie dort ab und binde das Ende an den Sack. Pass auf, dass es hält.»

Nachdem alles vorbereitet war, überprüfte Hero ein letztes Mal die einzelnen Bestandteile der Anordnung. «Ich will zwei Männer, die Thorfinn festhalten, sodass sich sein Kopf nicht bewegt, wenn der Stein herunterfällt. Neigt seinen Kopf so weit wie möglich nach hinten. Am besten hält auch jemand seine Beine fest.»

Der Wikinger auf der Rah hielt sein Messer bereit. Jemand kicherte. «Der Grieche lässt den Stein auf den Kopf unseres Schiffsführers fallen.»

«Abschneiden!»

Und herunter sauste der Stein. Aufwärts dagegen schoss die Leine von Thorfinns Zahn. Sie spannte sich schwirrend, als das Gewicht des Ballaststeins an ihr hing. Thorfinns ganzer Körper zuckte, er schleuderte den Helfer von sich, der seine Beine herunterdrückte. Die Leine fuhr peitschend über die Rah, und der Stein traf klatschend aufs Wasser, versank, und zog die Leine so schnell hinterher, dass niemand sehen konnte, ob der Zahn daran hing oder ob der Faden abgerutscht war. Hero hastete zu Thorfinn. Schwarzes Blut und Eiter trieften aus seinem Mund.

«Haltet ihn weiter fest.»

Hero wusch dem Piraten den Mund aus und steckte einen Finger hinein. Wo der Zahn gewesen war, gähnte eine Höhlung.

Er trat einen Schritt zurück. «Er ist raus. Ihr könnt ihn loslassen.»

Thorfinn kam auf die Füße wie ein betrunkener Seemann im Sturm. Als er sein Gleichgewicht einigermaßen halten konnte, riss er den Mund auf und tastete mit seinem dreckigen Zeigefinger darin herum. Ein irres Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er deutete auf Hero, machte einen Schritt, brach über einer Ruderbank zusammen und schlug der Länge nach aufs Deck, wobei er sich den Schädel heftig am Dollbord stieß. Eine Hand öffnete und schloss sich, ein Bein wurde hochgezogen und wieder ausgestreckt. Dann blieb er bewegungslos liegen.

«Du hast ihn umgebracht», sagten die Wikinger staunend.

Hero fühlte Thorfinn den Puls. «Er lebt. Wenn er aufwacht, sagt ihm, er soll sich den Mund mit gesalzenem Wasser ausspülen. Und er soll keine Essensreste in die Nähe des Lochs kommen lassen, bis es verheilt ist.»

Arne zwinkerte Hero zu. Die anderen Wikinger klopften ihm mit schallendem Gelächter auf den Rücken. «He, Hero», rief einer und nannte ihn zum ersten Mal bei seinem Namen, «lass mich mal dieses Gebräu probieren. Dafür lasse ich mir sogar einen Eckzahn ziehen.»

Sie segelten Richtung Süden die Küste des Weißen Meeres entlang, bis sie zu dem Waldgebiet kamen. Thorfinn hatte mit dem Wildreichtum nicht übertrieben. Lachse, die auf eine Herbstflut warteten, die sie hinauf zu ihren Laichgründen tragen würde, drängten sich in den Flussmündungen. Die Wikinger spießten sie vom Beiboot aus mit ihren Speeren auf, fingen sie mit Trichtern aus Weidengeflecht und holten sie mit Enterhaken, wenn sie wie Silberbarren über die Stromschnellen sprangen.

Thorfinns Wunde heilte. Die Schwellung ging zurück, und zugleich kühlte sich sein hitziges Temperament ab. In ruhigen Augenblicken schoben sich die Wikinger an Hero heran und baten ihn, ihre Leiden zu kurieren. Er erklärte sich bereit, zu tun, was er konnte, wenn er dafür besseres Essen bekäme. Dabei hielt er den Wikingern vor, dass ihre Kameraden auf der Shearwater wie die Könige mit dem Wild verpflegt wurden, das Wayland erlegte. Das war nicht einmal gelogen. An einem Tag beobachteten sie Wayland, wie er in einiger Entfernung zusammen mit einer Geisel ein Dutzend Birkhühner fing. Der Hund hatte ihm die am Boden sitzenden Vögel angezeigt, und Wayland warf ein Netz über den Schwarm. Abends rückten die Wikinger enger zusammen, um Hero am Lagerfeuer Platz zu machen, und lauschten andächtig wie Kinder, wenn er seine Geschichte weitererzählte.

An einem schönen Vormittag schlug Thorfinn einen Kurs ein, der von der Küste wegführte, bis das Land hinter dem Horizont versank. Auf spiegelglattem Wasser erreichten sie gegen Abend eine Gruppe bewaldeter Inseln, die noch einen Segeltag von der Spitze der Meeresbucht entfernt gelegen war. Die Wikinger hatten den Archipel auch früher schon als Zwischenstation genutzt und hielten auf ein Inselchen zu, das wie eine grüne Krone auf dem Wasser lag, in dem sich jeder Baum und jeder Fels spiegelte. Als sie näher kamen, musste Hero an die heiligen Haine der Antike denken, in denen die Orakel befragt worden waren.

Er stieg an Land und erwartete beinahe, gleich einen einfachen Tempel zu entdecken. Was er stattdessen sah, bestätigte seine Ahnung und wischte ihm das Lächeln aus dem Gesicht. Mitten auf der kleinen Insel sprudelte eine Quelle, um die Föhren und Birken standen, deren untere Äste mit Votivgaben behängt waren. Hero sah metallene Hammeramulette, einen vertrockneten Rabenflügel und in Knochen geschnitzte Abbilder von Freyr mit seinem immensen Phallus. Unter den Bäumen lagen viele Knochen. Hero erkannte einen Pferdeschädel und das Schulterblatt eines Schafes, beide grünlich mit Moos bewachsen. Als er eine jüngere Opfergabe entdeckte, stockte ihm das Blut in den Adern. Es war ein menschliches Skelett, das da auf dem Knochenhaufen lag, die Gebeine immer noch kalkweiß. Sein Blick zuckte aufwärts. Direkt über dem Skelett baumelte das ausgefranste Ende eines Stricks von einem Ast herab.

Als er sich umdrehte, hatte er Arne vor sich, der einen Birkenpfahl musterte, in den Runenzeichen geschnitten worden waren. «Wen habt ihr hier aufgehängt?»

«Ich weiß nicht. Einen Gefangenen. Einen Skraelinger …»

«Aber warum?»

«Bestrafung, Opfer … Frag Thorfinn.»

«Opfer? Ihr tötet Menschen, um eure Götter gnädig zu stimmen? Ihr seid Wilde. Schlimmer als die Tiere.»

Arne wurde wütend. «Siehst du das?», fragte er und deutete auf den Runenpfahl. «Hier steht: ‹Dies hat Thorolf für Skopti gemacht, gestorben im Norden.› Ich kannte Skopti. Er hatte einen Bruder, Harald, er lebte ein Stück das Tal hinauf, in dem mein Bauernhof liegt. Harald hatte eine Frau und zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, die beide noch keine fünf Jahre alt waren. Vor sechs Jahren kam ein sehr harter Winter, der härteste seit Menschengedenken. So hart, dass der Schnee bis über die Dachtraufen lag und uns monatelang in unseren Gehöften einschloss. Als es zu tauen begann, zogen wir los, um nach Harald und seiner Familie zu sehen. In der Nähe seines Hauses angekommen, riefen wir Grüße, aber wir erhielten keine Antwort. Ich ging ins Haus und fand Harald und seine Frau tot. Sie waren verhungert. Aber ihre Kinder habe ich nicht gefunden. Nur ihre Knochen. Ihre Eltern hatten sie aufgegessen.»

Hero drehte sich um, doch Arne packte ihn am Arm und hielt ihn fest. «Was hättest du denn getan? Du prahlst mit deinem Heimatland, in dem sich die Weizenfelder bis zum Horizont erstrecken, wo in den Obstgärten die vielen Äpfel die Äste der Bäume zu Boden ziehen und wo auf den Weiden kaum genug Platz ist für all die Schafe und Rinder. Das Land bestimmt über das Leben der Menschen. Also erlaube dir kein Urteil über andere, bevor du ihre Leiden selbst ertragen hast.»

Hero verharrte in mürrischem Schweigen.

«Wir sind nur diesen einen Abend hier», sagte Arne. «Morgen kehrst du zu deinen Freunden zurück. Also mach die Augen zu, und der Morgen kommt schnell.»

In dieser Nacht betranken sich die Wikinger mit Birkenbier, zerrten die Frauen in den Hain und vergewaltigten sie gemeinsam. Hero ging mit Garrick und Arne zur anderen Seite der Insel und versuchte, die Geräusche auszublenden. Im Norden tanzte das Polarlicht.

«Die Skraelinger sagen, das sind die Seelen der Toten», sagte Arne.

«Warum nimmst du nicht an dem Gelage teil?», fragte Hero.

Arne starrte auf das geisterhafte Licht. «Ich habe Frau und Töchter. Da muss ich immer denken: Und wenn sie es wären?»

«Deine Gefährten haben auch Frauen und Töchter.»

Garrick legte Hero stirnrunzelnd die Hand auf den Arm. Das Polarlicht löste sich auf. Die Besatzung der Shearwater übernachtete auf einer Nachbarinsel. Die Flammen ihres Lagerfeuers züngelten in die schwarze Nacht. Abgerissene Gesprächsfetzen drangen übers Wasser. Hero erkannte Rauls Lachen. Eine der Frauen stieß einen erstickten Schrei aus.

«Du weißt, dass diese Fahrt blutig enden wird», sagte Hero.

«Ja», sagte Arne. «Wenn sich Thorfinn nicht rächt, werden ihm seine Männer nicht mehr folgen.»

«Wechsle die Seiten», sagte Hero. «Bring noch andere mit.»

Arne erhob sich und stapfte in die Dunkelheit.

Nachdem es ruhig geworden war, kehrten Garrick und Hero ins Lager zurück und streckten sich am Feuer aus. Das Geräusch der im Wind aneinanderklappernden Votivgaben begleitete Hero in den Schlaf. Er träumte von Knochen. Als er wieder aufwachte, war es noch dunkel, und er hörte Garrick an seinen Platz zurückgleiten und gequält seufzen. Um sie herum lagen die Wikinger und schliefen schnarchend und grunzend ihren Rausch aus. Dann beruhigte sich Garricks Atmung, und Hero schlief wieder ein.

Im Morgengrauen weckte ihn ein Tumult. Die Männer rannten durcheinander. Arne hastete mit gezogenem Schwert an ihm vorbei. «Die isländischen Frauen sind entkommen.»

Hero wollte sich aufrichten, doch Garrick hielt ihn zurück. «Erspar dir diesen Anblick.»

Ein Hornsignal rief die Wikinger an die Ostseite der Insel. Mit einem fragenden Blick auf Garrick folgte Hero ihnen. Er fand die Wikinger um die Frauen geschart. Mutter und Tochter saßen nebeneinander am Strand, aneinandergelehnt, als wären sie eingeschlafen, während sie auf den Sonnenaufgang warteten. Hero ging um sie herum, damit er sie von vorn sehen konnte. Sie würden nie mehr einen Sonnenaufgang bewundern. Sie hatten sich die Pulsadern aufgeschnitten, ihr Blut war aus ihnen herausgelaufen, sodass ihre Gesichter kalkweiß und ihre Gewänder über dem Schoß blutdurchtränkt waren. Neben ihnen auf dem Boden lag der blutige Stein, den sie benutzt hatten, um Selbstmord zu begehen. Arne wollte Hero daran hindern, den Stein aufzuheben, aber Hero fluchte nur und schob ihn weg. Die Mutter hatte der Tochter zuerst mit der scharfen Steinkante die Handgelenke aufgerissen, bevor sie ihre eigenen Adern aufgehackt hatte. Hero verlor die Fassung. Er schleuderte den Stein ins Meer.

«Verflucht sollt ihr sein! Verflucht ist dieser Ort!»

Thorfinn lachte über Heros Ausbruch, dann aber kniff er die Augen unheilvoll zusammen und ging zurück zum Lager.

Arne nahm Hero am Arm. «Hör mir zu. Es war dein englischer Freund, der den Frauen den Stein gegeben hat. Ich habe gehört, wie er in der Nacht weggeschlichen ist. Wenn du zurückgehst, rede nicht mit ihm. Du darfst ihn nicht einmal ansehen. Wenn du glaubst, Thorfinn könnte deine Gedanken nicht lesen, dann irrst du dich. Er versteht sehr gut, was in anderen vorgeht, ganz besonders, wenn sie etwas vor ihm verbergen wollen. Bleib hier, bis ich dich hole.»

«Warum? Was kann denn jetzt noch kommen?»

«Thorfinn wird einen der Gefangenen hängen lassen. Er glaubt, dass einer von ihnen den Frauen den Stein gegeben hat.»

«Gütige Jungfrau. Du musst ihn daran hindern!»

«Das kann ich nicht. Er würde mich töten.»

Nachdem Arne gegangen war, sah Hero über die Meerenge zur ankernden Shearwater hinüber. Ein dünner Rauchfaden stieg von der Insel auf und wurde vom Wind aufgelöst. Dort drüben fachten sie jetzt wohl in der Glut des Vorabends das Lagerfeuer an, bereiteten das Frühstück, wechselten die alltäglichen Bemerkungen von Reisenden, die sich gut miteinander verstehen. Er wünschte sich immer noch dort hinüber, als Arne zurückkam.

«Es ist vorbei.»

Hero folgte ihm wie betäubt ins Lager. Sosehr er sich auch bemühte, immer wieder wanderte sein Blick unwillentlich zu dem Gehängten hinüber. Der arme Kerl baumelte im Luftzug, den Kopf in einem absurden Winkel vom Körper weggeneigt, die Augen hervortretend aus einem fleckigen Gesicht.

«He, Grieche.»

Heros verschwommener Blick fiel auf etwas, das er sich mit Entsetzen vorgestellt, aber im Grunde nicht geglaubt hatte. Und schon gar nicht hätte er geglaubt, dass er es mit eigenen Augen sehen würde. Doch es stimmte. Thorfinn saß auf einem Holzklotz und riss mit seinen riesigen Zähnen Stücke aus der frisch aus dem Körper seines Opfers geschnittenen Leber.

Er wedelte mit der dampfenden Innerei in Heros Richtung, wie ein Mann, der ein herzhaftes Frühstück verspeist. «Nimm das in deine Geschichte auf.»

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