XXXVII

Ein breiter Fluss namens Swir verband den Onega-See mit dem Lagoda-See und dem Land Rus. Immer öfter sahen sie unbewohnte Hütten auf Lichtungen, die in den Wald geschlagen worden waren. Die Katen waren die Sommerunterkünfte von Jägern und Sammlern. Nachdem sie wochenlang im Freien geschlafen hatten, waren die Reisenden froh über den Schutz, den diese einfachen Hütten boten. Es war nun Anfang Oktober, und der Winter war ihnen dicht auf den Fersen. Jeden Tag zogen weniger Wildvogelschwärme nach Süden. Zwei weitere Isländer waren gestorben, weil sie der Hunger so stark geschwächt hatte, dass sie auch Vallons Anordnung nicht mehr retten konnte, die übrigen Pferde schlachten zu lassen.

Vallons Wunde hatte sich sauber geschlossen. Er hatte Hero auf die Wange geküsst und erklärt, ohne seine Heilkünste hätte ihn ein langsamer Tod durch den Wundbrand erwartet. Hero versuchte, daraus Genugtuung zu ziehen, während er eines Morgens mit Richard am Flussufer entlangtrottete. Es war das einzig Positive, was er ihrer Situation abgewinnen konnte. Sie waren noch Tage von Nowgorod entfernt, hatten nahezu alle Lebensmittel aufgebraucht, und viele der Reisenden waren krank. Wayland jedoch hatte sich erholt und verbrachte den größten Teil des Tages auf der Jagd. Doch ohne die Hilfe des Hundes schaffte er es nicht, genügend Beute zu machen, um die Falken satt zu bekommen. Sämtliche Vögel hatten so viel Muskelfleisch abgebaut, dass ihre Kielbeine hervorstanden wie Messer, und einer schrie von morgens bis abends nach Futter.

Die Wikinger und Isländer verstanden nicht, warum die Falken Fleisch bekommen sollten, während sie selbst Moos für die Suppe kochten und auf Pferdeleder kauten, um den Hungerschmerz zu betäuben. Am Tag zuvor, als Wayland und Syth mit einem einzigen Hasen von der Jagd zurückgekommen waren, hatten die Wikinger und Isländer sie umringt und den Hasen für sich gefordert. Vallon hatte der Szene ein Ende bereitet, doch es war knapp gewesen. Wenn sie in den nächsten ein oder zwei Tagen nichts Essbares finden würden, war eine Revolte unausweichlich. Und danach würde Barbarei ausbrechen. Die Schwachen würden zum Sterben zurückgelassen, es käme zu Kannibalismus …

Richard schien Heros Gedanken zu lesen. «Drogo hält sich zurück, aber du kannst mir glauben, dass er nur auf den richtigen Moment wartet, um etwas gegen Vallon zu unternehmen.»

Seufzend schüttelte Hero den Kopf. Der Himmel, an dem tief die eisengrauen Wolken hingen, war ein Spiegel seiner Gemütsverfassung.

Sie stapften weiter. Graue Flecken zogen durch Heros Gesichtsfeld. Er rieb sich die Augen und stellte fest, dass es schneite – dicke, fedrige Flocken, die schon begannen, eine Schneedecke zu bilden.

Richard blieb stehen. «Wir gehen besser zurück.»

«Da ist ein Pfad», sagte Hero und deutete auf eine Talsenke, die vom Schnee hervorgehoben wurde. «Er führt vielleicht zu einer Hütte. Vom Schiff aus können wir das nicht feststellen.»

Bald machte der Schnee den Pfad unsichtbar, und sie konnten sich nur noch am Geräusch des Flusses orientieren. Hero wollte gerade um einen verkrüppelten Busch herumgehen, als der Busch mit einem Schrei aufsprang. Es folgten weitere Schreie, und Gestalten liefen durch den Schnee. Ein Pfeil zischte an Heros Kopf vorbei.

«Friede! Pax! Eirene!»

Die Aufregung legte sich. Hinter dem Vorhang aus zarten, weißen Flocken machte er Menschen aus, die sich hinter dunkle Ballen duckten. Drei Männer mit schussbereiten Bögen kamen auf sie zu. Sie waren in Pelze gekleidet, die Augen hatten sie feindselig zusammengekniffen. Einer von ihnen sagte etwas auf Russisch.

«Wir sind Händler. Auf dem Weg nach Nowgorod», sagte Hero.

Die Russen verstanden ‹Nowgorod›. Ihr Sprecher deutete hinter Hero und fragte, zu wievielt sie wären.

Hero zählte dreißig an seinen Fingern ab, und die Russen begannen zu stöhnen.

Da glitt auf dem Fluss der Drachensteven der Drakkar aus dem Schneevorhang. Vallon stand im Bug wie der leibhaftige Tod, und Drogo neben ihm trug Kettenhemd und Eisenhelm.

Die Russen stoben auseinander. «Waräger!»

«Nein! Wartet. Keine Waräger.»

Diese Worte kamen von Wulfstan, er rief sie auf Russisch und sprang von dem Langschiff. Die Waldmänner blieben in sicherer Entfernung stehen. Wulfstan rief erneut nach ihnen und winkte sie zu sich. Doch die Waldmänner wichen zurück, dabei verbeugten sie sich und baten die Reisenden um Verzeihung. Wulfstan konnte ein paar Brocken ihrer Sprache und stellte fest, dass sie Grenzbewohner waren, die den Sommer über Fallen gestellt und Honig und Bienenwachs gesammelt hatten. Nun waren sie in ihren Kanus auf dem Heimweg zu ihrem Dorf, das drei Tage westlich an der Mündung des Wolchows lag.

Wayland trat aus dem Wald, als die beiden Seiten noch verhandelten. Er warf einen Blick auf die Russen und hastete zu einem Jungen, der ein Bündel Birkenschneehühner auf eine Schnur gezogen über der Schulter hängen hatte. Wayland drehte sich zu Wulfstan um. «Erklär ihm, dass ich sie kaufen will.»

Der Vater des Jungen kam zu ihm. Er sah Waylands flehenden Blick und sagte etwas, das die Russen zum Lachen brachte.

Wayland fuhr herum. «Was hat er gesagt?»

«Du kannst sie für fünf Eichhörnchen haben», sagte Wulfstan.

«Ich habe aber keine fünf Eichhörnchen. Wenn ich sie hätte, bräuchte ich die Schneehühner nicht.»

Wulfstan grinste. «Die Hinterwäldler rechnen in Fellen. Eichhörnchen sind die kleinste Währungseinheit. Ich schätze, mit einem Penny kannst du all diese Schneehühner kaufen und bekommst noch eine Rehkeule dazu.»

Für zwei Silberpennys kaufte Wayland genügend Fleisch, um die Falken drei Tage lang zu ernähren.

Später, im Lager der Russen, tauschte Richard mehrere Fuchsfelle gegen einen Sack Roggenmehl und zwei triefende Honigwaben ein. An diesem Abend quetschten sich die Reisenden in eine Hütte und aßen zum ersten Mal seit einem Monat Brot. Der gebackene Teig war alles andere als eine Köstlichkeit – es waren verkohlte und grobkörnige Fladen, die sie in der verräucherten und mit Moos abgedichteten Hütte aßen – doch alle senkten andächtig die Köpfe, als Vater Hilbert das Dankgebet sprach.

Das zivilisierte Rus begann bei Staraja Lagoda, einer Festungsstadt ein paar Meilen den Wolchow hinauf. Hier blieben sie lange genug, um ihre Vorräte aufzufüllen. Südlich der Stadt lichteten sich die Wälder und wurden schließlich zu einer sandigen Heidelandschaft, die nur noch hier und da mit eiskalten Weihern und Kiefern- oder Birkenwäldchen durchsetzt war. Dann erreichten die Reisenden Ackerland und ruderten an massiven Blockhäusern auf Wiesen mit flügelschlagenden, zischenden Gänsen und krähenden Hähnen vorbei. Zwischen den Bauerngehöften gab es prächtige Eichenbestände und Ahornwälder, aus denen Axthiebe schallten. Die Bauern auf den Feldern richteten sich von der Arbeit auf, um das Langschiff vorbeiziehen zu sehen. Viele von ihnen bekreuzigten sich, dachten vielleicht an die Erzählungen ihrer Großeltern von alten Zeiten, als die Einwohner geflüchtet waren, wenn ein Drachenschiff auftauchte. Ihre Kinder hatten keine solchen Befürchtungen und jagten stöckeschwenkend neben dem Langschiff her. «Waräger! Waräger!»

Vier Tage, nachdem sie in den Wolchow eingefahren waren, erreichten sie Nowgorod. Nördlich der Stadt teilte sich der Fluss um eine große Insel, an deren Spitze eine Mautstelle lag. Dort wurden sie von einer bewaffneten Reitertruppe zum Ufer dirigiert. Ihr Anführer, ein Mann mit blatternnarbigem Gesicht, war elegant in einen knöchellangen Pelzmantel mit Silberknöpfen gekleidet. Er richtete sich an die ungewaschene Besatzung, als wären sie Exarchen und von Byzanz ausgesandt worden.

«Willkommen in Groß-Nowgorod», sagte er auf Nordisch. «Die Jäger, denen Ihr am Swir begegnet seid, haben Eure Ankunft angekündigt. Erlaubt mir, mich vorzustellen. Mein Name ist Andrei Ivanov, Verwalter des Herrn Vasili, eines Bojaren aus der Stadt und Gildemeister der Händler.» Sein Blick zuckte herum. «Wer spricht für Euch?»

Finger zeigten auf Vallon.

«Die Jäger haben gesagt, Ihr kommt vom Weißen Meer, aber sie wissen nicht, wo Ihr Eure Reise begonnen habt.»

Vallon sah sich nach Wayland um. «Erklär du es ihm.»

«Wir sind in diesem Frühling von England abgesegelt und über Island und Grönland hierhergekommen.»

Andrei lachte laut auf. «Ich bin schon viel zu lange in der Handelsschifferei, als das Ihr mir so einen Bären aufbinden könnt.»

«Glaubt, was Ihr wollt», sagte Wayland. «Ich bin Engländer, und das Mädchen auch. Unser Anführer Vallon ist Franke. Die beiden da sind Normannen. Und die Leute dort sind Isländer. Die übrigen sind Wikinger aus Halogaland. Wenn Ihr meine Worte bezweifelt, dann fragt den Mann mit der Tonsur. Er ist ein Mönch aus Deutschland. Bis vor ein paar Wochen hatten wir noch einen anderen Deutschen dabei. Er wurde in den Wäldern von Lappen getötet.»

Andrei wechselte erstaunte Blicke mit seiner Eskorte, dann nahm er seinen Hut ab. «Vergebt mir meine Zweifel. Ihr seid die ersten Reisenden, die nach solch einer Fahrt nach Nowgorod kommen. Welche Waren führt Ihr mit?»

«Walross-Elfenbein, Hörner von Meereseinhörnern, Eiderdaunen, Schwefel, Robben-Öl.»

«Die Jäger haben gesagt, Ihr habt auch Gerfalken.»

«Das stimmt. Ich habe sie selbst in den nördlichen Jagdgebieten Grönlands gefangen.»

«Bitte, wenn es Euch nichts ausmacht. Ich würde sie gerne sehen.»

Nicht ohne Stolz zog Wayland das Tuch von dem Käfig des weißen Falken.

Andrei ging in die Hocke, um den Vogel zu begutachten. Dann sagte er nüchtern: «Mein Herr hat einen vermögenden Kunden, der den Falkenflug liebt. Er ist ein Prinz, der für seine Vergnügungen großzügig bezahlt. Auch wenn dieses Exemplar aussieht wie ein Staubwedel, gebe ich Euch viel mehr dafür, als ihr auf dem Markt bekommen würdet.»

«Die Falken stehen nicht zum Verkauf.»

Andrei runzelte die Stirn. «Warum habt Ihr sie nach Nowgorod gebracht, wenn Ihr sie nicht verkaufen wollt?»

«Wir bleiben nicht hier. Wir sind nur auf der Durchreise nach Anatolien.»

«Rum? Ihr wollt nach Rum?»

«Sobald wir uns ausgeruht und alles Notwendige gekauft haben.»

Anrei lachte erneut. «Weiter als bis Nowgorod kommt Ihr dieses Jahr nicht mehr. Verkauft die Falken, solange sie noch gesund sind.»

«Es tut mir leid. Sie sind schon vergeben.»

Andrei trat einen Schritt zurück. «Habt Ihr Silber, um Euren Aufenthalt in Nowgorod zu bezahlen?»

Wayland warf Richard einen Blick zu. «Wir können für unsere Unterkunft bezahlen.»

Andrei verbeugte sich vor Vallon. «Dann werdet Ihr hier einen bequemen Aufenthalt haben. Unsere Stadt hat ein eigenes Quartier für ausländische Händler. Es wird Euch in Nowgorod gefallen. Wir haben sogar eine romanische Kirche.»

Auch Vallon verbeugte sich. «Ich danke Euch. Wir brauchen drei getrennte Unterkünfte. Dass die Isländer und Wikinger hier sind, habe ich mir nicht ausgesucht.»

«Überlasst das mir», sagte Andrei. Seine Eskorte half ihm in den Sattel. «Ihr seid hier nur drei Werst von Nowgorod entfernt, das entspricht etwa drei Meilen.» Er gab seinem Pferd die Sporen. «Ich erwarte Euch dort, um Euch willkommen zu heißen.»

Sie ruderten das Langschiff die rechte Fahrrinne hinauf, und bald sahen sie die Stadt Nowgorod, die sich auf beiden Ufern des Flusses ausbreitete.

Richard stieß einen bewundernden Pfiff aus. «Ich habe mir die Stadt nicht einmal halb so groß vorgestellt.»

Die Metropole war ganz aus Holz erbaut, die einzigen Ausnahmen bildeten eine große gemauerte Zitadelle und eine Kirche mit fünf Kuppeln auf dem Westufer. Sie ruderten unter einer überdachten Brücke hindurch, die lang genug war, um den Schiffsverkehr in beide Richtungen passieren zu lassen. Hinter der Brücke winkte ihnen Andrei von einem Kai auf dem Ostufer. Ein Trupp Arbeiter stand bereit. Die Reisenden ruderten ans Ufer und machten fest.

«Eure Unterkünfte sind vorbereitet», erklärte Andrei. «Meine Männer werden Eure Ladung tragen.» Er klatschte in die Hände, und die Träger sprangen in die Boote und begannen, die Ladung auf Handkarren zu verladen.

«Wir sollten ihm nicht zu viel über unser Vorhaben verraten», murmelte Hero Vallon zu.

«Vermutlich kennt er den Wert unserer Ladung bis auf den letzten, durchgehackten Halfpenny, noch bevor wir heute Abend schlafen gehen.»

Der Verwalter führte sie durch Straßen mit Holzpflasterung, an denen Häuser mit Lattenzäunen standen. Die meisten Grundstücke maßen etwa hundert mal fünfzig Fuß, aber einige waren auch doppelt oder dreimal so groß. Den ersten Halt machte Andrei an einem Tor, das etwas zurückgesetzt einen Staketenzaun unterbrach. Er öffnete das Tor und deutete auf eine Scheune. «Das ist für Eure Norweger. Kein Luxus. Nur Stroh zum Schlafen und sauberes Quellwasser. Meine Männer sorgen dafür, dass sie genügend zu essen haben und den Stadtfrieden nicht stören.»

«Ich bezahle für das Essen und die Unterkünfte», erklärte Vallon den Wikingern. «Ihr könnt auch Bier trinken, aber nicht im Übermaß. Wenn ihr euch Ärger einhandelt, dann glaubt nicht, dass ich für euch in die Bresche springe. Und was die Huren angeht, das müsst ihr selber regeln.»

Als Nächstes blieben sie vor der Unterkunft für die Isländer stehen. «In diesem Haus können zwölf schlafen, wenn sich jeweils zwei ein Bett teilen», sagte Andrei. «Die Übrigen müssen in den Stallungen übernachten.»

Caitlin baute sich vor Vallon auf. «Ich werde mein Bett nicht teilen, und ich schlafe nicht in einem Haus mit fremdem Männern. Ich übernachte auch nicht in einem Kuhstall. Ich bestehe auf einer eigenen Unterkunft. Ich bezahle sie von meinem eigenen Geld.»

Vallon sah Andrei schulterzuckend an.

Der Verwalter gab einen Befehl, und einer seiner Leute führte Caitlin und ihre Mägde zurück zur Straße. «Man sieht, dass diese Dame es gewohnt ist, ihren Willen durchzusetzen», sagte Andrei. Seine Augenbrauen hoben sich fragend. «Eine Lady von hoher Geburt?»

Vallon lächelte. «Eine Prinzessin. Jedenfalls nach ihrer eigenen Einschätzung.»

Andrei sah Caitlin nach, die, ihre diensteifrigen Mägde an der Seite, hoheitsvoll davonschritt. «Nun, es gibt viele Prinzen, die sich glücklich schätzen würden, sie zur Gemahlin zu nehmen. Ich habe noch nie eine begehrenswertere Frau gesehen.»

Als die Isländer in ihrem Quartier verschwunden waren, blieben noch Drogo und Fulk übrig. Sie wechselten einen ratlosen Blick. Vallon sagte schicksalsergeben: «Am besten übernachtet ihr bei uns.»

Andreis letzter Halt vor einem Lattenzaun galt einem schönen Haus mit Nebengebäuden, zu denen ein Badehaus, Ställe und das Haus des Gutsverwalters gehörten. Knotenmuster-Schnitzereien zierten die Giebel. Rufend lief Andrei ein paar Stufen zu einer Veranda hinauf, die zu einem Vorraum führten. Eine Kassettentür führte in einen Gemeinschaftssaal, in dem eine Gruppe Bauersfrauen unter der Aufsicht des Gutsverwalters und seiner Frau den Dielenboden wischten. Alle Diener verbeugten sich, als Andrei hereinkam. Er schien es nicht wahrzunehmen. Ein halbes Dutzend Schlafbänke zog sich an den Wänden entlang, und ein kuppelförmiger Lehmofen qualmte in der Ecke schräg gegenüber der Tür. Es gab keinen Kamin, die Luft konnte nur durch eine Klappe in der Decke und winzige Schlitzfenster abziehen. Andrei redete in scharfem Ton mit dem Gutsverwalter. Anschließend bellte dieser einen Befehl, und eine der schuftenden Bauersfrauen kniete sich vor den Ofen und versuchte, das Feuer stärker anzufachen.

Andrei stieß eine weitere Tür auf, die zu einer Kammer mit einer einzelnen Bettstelle, einem Tisch und einer Bank führte. Eine Ikone, die in der rechten Ecke an der Wand hing, zeigte die Jungfrau mit dem Kind. «Diese Kammer ist für Euch», erklärte er Vallon. «Sie ist klein, aber ich vermute, Ihr seid froh um einen Privatbereich.»

«Für einen Mann, der nur noch den kalten Erdboden als Bett und den leeren Himmel als Dach kennt, ist es ein wahrer Palast.»

«Herr Vasili hält dieses Anwesen für besondere Gäste bereit. Er bittet darum, dass Ihr ihm übermorgen die Ehre erweist, mit ihm zu feiern.» Andrei lächelte. «Bringt die isländische Prinzessin und ihre Mägde mit. Es gilt eine Kleiderordnung, aber seid unbesorgt, ich kümmere mich darum, dass Ihr präsentabel seid.»

Jeder, der am nächsten Morgen über das Gelände des Anwesens ging, hätte geschworen, dass das Haus unbewohnt war. Drinnen schliefen die Reisenden wie die Toten. Drogo und Fulk hatten sich auf einer Schlafbank über dem Ofen zusammengerollt und nicht einmal ihre verdreckten Sachen ausgezogen. Sogar Wayland rührte sich erst nach Einbruch der Dunkelheit und musste den Gutsverwalter fragen, welcher Tag war, bevor er hinausschlurfte, um die Falken zu füttern.

Am nächsten Tag trommelte der Gutsverwalter die männlichen Gäste zusammen und führte sie zum Badehaus, während seine Frau Syth zu Caitlins Unterkunft mitnahm. Der Gutsverwalter hieß die Männer im Vorraum all ihre Kleidung ausziehen, die er dann von einem Bediensteten einsammeln ließ, der sie zum Verbrennen nach draußen warf.

«He», rief Hero. «Das ist die einzige Kleidung, die wir besitzen.»

Der Gutsverwalter schob sie in die Schwitzstube. Dort saßen sie nackt auf niedrigen Bänken, und der herablaufende Schweiß malte helle Muster auf ihre schmutzige Haut. Als ihre Körper annehmbar sauber waren, verteilte der Gutsverwalter Bündel aus Birkenzweigen und zeigte ihnen, wie sie sich damit gegenseitig auf den Rücken schlagen sollten. Anschließend scheuchte er sie hinaus auf den Hof, wo ihnen Diener kübelweise kaltes Wasser über die Köpfe schütteten, bevor sie wieder in den Vorraum des Badehauses zurückkehren durften. Als sie nach der dritten Runde Schwitzstube und eiskaltes Wasser in den Vorraum hasteten, erwartete sie dort saubere Kleidung. Diener reichten jedem Mann ein einfaches Leinenhemd mit eckigem Halsausschnitt, ein Paar weite Hosen und Lederschuhe, die oberhalb des Knöchels zugeschnürt wurden. «Ein Geschenk von Herrn Vasili», sagte der Gutsverwalter.

«Was er wohl als Gegenleistung haben will?», flüsterte Hero Vallon zu.

Eine weitere Überraschung wartete auf sie, als sie ins Haus zurückkehrten. In ihrer Abwesenheit war der Saal in eine Warenhaus verwandelt worden, in dem ein halbes Dutzend Schneider und Kürschner Kaftane aus Wolle und Seide ausgelegt hatten, dazu Hosen und Pelzmäntel und Fellkappen aus Marder, Bär, Wolf, Eichhörnchen, Zobel und Biber. Auch Juweliere waren da und präsentierten ihre Waren aus Silber, Emaille und Cloisonné.

Vallon warf einen Blick auf die Herrlichkeiten, dann sah er Hero an. «Da hast du deine Antwort. Wir können uns wohl kaum weigern, etwas zu kaufen, und ich wette, dass Vasili eine gut bemessene Umsatzbeteiligung erhält.»

Doch als die Händler ihre Preise nannten, wurde er blass. «Diese Summen können wir uns nicht leisten.»

«Aber wir können auch Vasili nicht beleidigen, indem wir in seinen Almosen auftauchen und uns nicht fein machen», sagte Hero.

Richard rettete die Situation. Er nahm seine Rolle als Schatzmeister sehr ernst und war bestens über Zahlungsmittel und Wechselkurse informiert. Von den Wikingern hatte er erfahren, dass das Silber in Rus üblicherweise aus Zentralasien stammte. Doch in den vergangenen fünfzig Jahren hatten sich die asiatischen Silberminen erschöpft, sodass die Silberwährung abgewertet wurde. Die meisten Münzen, die in Rus im Umlauf waren, hatten nur noch einen Silbergehalt von eins zu zehn.

«Unsere englischen Pennies enthalten neun Anteile Silber», sagte Richard. «Also ist es ganz einfach. Ihr bietet ein Achtel des Preises, den der Schneider verlangt.»

So einfach war es dann natürlich doch nicht, aber Richard blieb eisern, und schließlich senkten die Händler ihre Preise um mehr als die Hälfte.

Während sich Vallon die Kleidungsstücke ansah, bemerkte er, dass sich Drogo mit unbehaglicher Miene abseits hielt. «Du und Fulk sucht euch besser auch etwas aus.»

«Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich deine Almosen nicht will.»

«Dafür hast du aber schon recht viele angenommen.»

«Damit ist jetzt Schluss.»

«Sei nicht so halsstarrig. Betrachte es von mir aus als Bezahlung für deine Dienste.»

Drogo nickte knapp. «Und was ist mit Caitlin und den anderen Frauen?»

Hero sah auf. «Sie soll ihre Kleidung von dem Geld bezahlen, das sie der alten Frau gestohlen hat.»

Drogo brauste auf. «Entschuldige dich für diese Verleumdung.»

«Es stimmt», sagte Richard. «Ich habe selbst gehört, wie die alte Frau Caitlin beschuldigt hat.»

«Das ist nichts als böse Nachrede. Caitlin hat das Geld nur für sie aufbewahrt.»

«Haltet den Mund», befahl Vallon. «Alle. Wir sind durch die Hölle gegangen, und ihr habt nichts Besseres zu tun, als euch um Kleider zu streiten.» Er rieb sich über die Augenbraue. «Wayland, geh zum Haus der Frauen und sage ihnen, sie können sich auf meine Kosten etwas Neues zum Anziehen aussuchen. Und Richard, du gehst auch mit und handelst einen fairen Preis aus. Oh, Wayland, bitte sag der Prinzessin, dass sie ein wenig Zurückhaltung üben soll.»

Sie gingen die Straße zu Caitlins Unterkunft hinunter. Die Frauen waren gerade aus dem Badehaus gekommen und probierten Kleider an, die ein Schwarm Näherinnen vor ihnen ausgelegt hatte. Eine von Caitlins Mägden schrie auf und bedeckte hastig ihren Busen.

Wayland errötete. «Oh, ihr habt schon angefangen.»

Caitlin lachte. «Mach dir keine Sorgen. Wir spielen ein bisschen Verkleiden. Sogar das billigste Gewand übersteigt unsere Möglichkeiten.»

«Vallon hat gesagt, er bezahlt.»

Caitlins Miene hellte sich auf. «Wirklich?»

«Wenn ich über den Preis verhandle», sagte Richard.

Syth schlang ihre Arme um Wayland. Ihre Brüste bewegten sich unter einem ärmellosen weißen Leinengewand. «Meinst du das im Ernst? Kann ich ein Kleid haben?»

«Du siehst auch so wunderhübsch aus.»

Sie versetzte ihm einen spielerischen Schubs. «Sei kein solcher Dummkopf. Das tragen hier die Bäuerinnen.» Sie zog sein Gesicht zu sich herunter und flüsterte ihm ins Ohr: «Ich möchte mich nur ein einziges Mal wie eine richtige Dame anziehen. Es dauert sowieso nicht lange, bis ich wieder in Kittel und Kniehosen herumlaufe.»

«Wir machen Fortschritte», verkündete Richard. «Die Preise wurden schon um ein Viertel gesenkt.»

«Dann mach weiter so», sagte Wayland.

Eine der Näherinnen trat vor Syth hin und zeigte ihr ein rauchblaues Kleid mit langen Ärmeln und Besätzen aus Biberpelz.

«Was meinst du?», fragte Syth.

«Es ist schön. Es steht dir bestimmt gut.»

«Geht es nicht ein bisschen überzeugender?»

Wayland fühlte sich, als würde er in einer Falle sitzen. «Es passt zu deiner Augenfarbe.»

Die Näherin schob ihn mit der Hüfte zur Seite und hielt ein anderes Kleid aus zart türkisfarbener Seide hoch. Syth drapierte es vor ihrem Körper. «Das hier ist enger geschnitten. Es wird meine Figur besser zur Geltung bringen.»

«Du kannst nehmen, was du möchtest.»

«Wayland, du hast nicht mal hergesehen.»

Eine von Caitlins Mägden lachte.

«Ein Drittel runter und es ist noch Luft nach unten», sagte Richard.

Syth entschied sich für das türkisfarbene Kleid. Dann zeigte ihr eine Helferin noch einen emaillierten Anhänger in Form eines Vorhängeschlosses, auf dem zwei Turteltauben dargestellt waren. «Das würde wunderbar dazu passen.»

«Ich weiß nicht, Syth.»

«Gefällt er dir nicht?»

«Es ist nur … nach Rauls Tod … der Hund … irgendwie kommt es mir nicht richtig vor.»

Syth gab den Anhänger zurück und sah zu Boden, eine Träne hing an ihren Wimpern.

Caitlin zog Wayland beiseite. «Du weißt wirklich, wie man eine Frau glücklich macht, was?», zischte sie. «Lass sie einen Abend lang eine Dame sein. Oder ist sie das etwa nicht wert?»

Wayland starrte sie an. Dann nickte er und ging wieder zu Syth hinüber. Er nahm der Helferin den Anhänger aus der Hand. «Ich bezahle selbst dafür.» Er hustete. «Mein erstes Geschenk.»

Syth wischte sich über die Augen, dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen hauchzarten Kuss. «Nicht das erste.»

Er war schon an der Tür, als ihm Vallons Nachsatz einfiel. Drei junge Frauen, die beim Anprobieren halfen, hatten Caitlin einen wahren Berg luxuriöser Kleidungsstücke vorgeführt, und mehrere andere warteten noch darauf, mit ihren Sachen an die Reihe zu kommen. «Vallon hat übrigens gesagt …»

Caitlin sah ihn herrisch an. «Ja?»

Richard drehte sich um, das Gesicht erhitzt vom Feilschen. «Wir sind jetzt bei echten Gelegenheitspreisen.»

«Dass Ihr es nicht zu toll treiben sollt», sagte Wayland und flüchtete unter dem schallenden Gelächter der Frauen.

Wachmänner drehten ihre Runden, als Andrei die aufgeputzten Gäste zum Stadthaus seines Herrn führte. Eine Fackelallee beleuchtete den Weg zum Eingang, in dem Herr Vasili stand, um sie zu begrüßen. Er war ein gepflegter Mann von etwa fünfzig Jahren, mit einem goldenen Schneidezahn und einem sorgfältig gestutzten, leicht ergrauten Bart. Aus seiner Bekleidung sprach der Geschmack eines wohlhabenden Mannes, der seinen Reichtum nicht zur Schau stellen muss. Er trug einen Kaftan aus grau schillernder Seide mit Aufschlägen aus Goldbrokat über einem dunkelblauen Gewand mit einem Gürtel aus Gold und Emaille. Er begrüßte seine Gäste auf Nordisch, doch als Hero vorgestellt wurde, wechselte er ins Griechische und Arabische, wobei er sein Unvermögen beklagte, in diesen Sprachen elegante Konversation zu betreiben. Nach jeder Vorstellung, bei der Vasili stets ein paar freundliche Nachfragen stellte, wurde der jeweilige Gast von Vasilis Verwalter an seinen oder ihren Platz an einer Festtafel geführt, die in sanftes Kerzenlicht getaucht war.

Er platzierte Vallon und Hero zu Vasilis rechter beziehungsweise linker Seite, die übrigen männlichen Gäste gegenüber, und die Damen um ein Ende der Tafel. Zwei Bedienstete liefen mit Getränken und Appetithäppchen umher, und die Gäste stellten fest, dass sie zwischen Bier, Kwas und vier unterschiedlichen Honigweinen wählen konnten. Dann trug ein Zug Diener die Hauptgerichte auf, und die Geladenen staunten nicht schlecht. Da gab es ein geröstetes Spanferkel, Platten mit Wildbret, Gebäck und Pasteten, Hecht und Lachs in Aspik, Schalen mit Kaviar und Sauerrahm, ein halbes Dutzend Brotsorten, einschließlich Weizenbrote, deren Korn aus dem Süden kam, und ein besonderer Auflauf, der mit Honig und Mohnsamen abgeschmeckt war.

Während die Gäste ihre Wahl trafen, zog Vasili seine Tischnachbarn ins Gespräch. Er sah die Männer direkt an, erkundigte sich nach ihren Aufgaben und ihrer Stellung und machte ausführliche Bemerkungen, wenn ihre Erfahrungen seine eigenen berührten. Er war ein Mann von Welt, und er liebte die Ferne. Er hatte sein Vermögen durch den Handel erworben; im Süden mit Kiew und Byzanz, mit Deutschland, Polen und Schweden im Westen, und im Osten mit Arabien und Persien. Zweimal war er nach Konstantinopel gereist, und als junger Mann hatte er Handelsgeschäfte mit arabischen Karawanen in Bolgar an der Wolga betrieben.

Während seine Gäste speisten, hörte er sich Heros Bericht von ihrer Reise und ihren Plänen an.

«Und mit wie vielen Reisenden werdet ihr das Unternehmen fortsetzen?»

«Wenn die Wikinger mitkommen, sind wir ungefähr ein Dutzend.»

Vasili legte eine beringte Hand auf Vallons Arm. «Verehrter Gast, es gefällt mir gar nicht, aber ich muss Euch sagen, dass Euer Vorhaben unmöglich ist. Der Frühsommer, wenn der Dnjepr durch die Schneeschmelze mehr Wasser führt, ist die einzige Zeit, in der die Straße zu den Griechen befahren werden kann. Jetzt ist der Wasserstand auf der nördlichen Strecke zu niedrig für Schiffe. Ihr wartet besser bis nächstes Jahr. Oder, natürlich, Ihr verkauft Eure Waren hier.» Er warf einen Blick auf Wayland, bevor er sich wieder an Vallon wandte. «Ich glaube, mein Verwalter hat erwähnt, dass die Falken rasch an einen meiner arabischen Kunden verkauft werden könnten. Er ist sehr reich.»

Vallon beobachtete Wayland, der an einem Brocken Schweinefleisch kaute. Er schien der Einzige unter den Gästen zu sein, auf den Vasilis Charme keine Wirkung hatte.

«Die Falken sind der Anlass für unsere Reise nach Süden. Man könnte sogar sagen, dass nicht wir sie mitnehmen, sondern sie uns dorthin führen.»

«Hero hat gesagt, dass vier Falken zur Auslösung gefordert werden. Ihr habt sechs. Verkauft mir zwei, einschließlich des erwachsenen weißen Vogels.»

«Nein», sagte Wayland, ohne dabei auch nur aufzusehen.

Vallon funkelte ihn an, bevor er lächelte und Vasili entgegnete: «Wir können es uns nicht erlauben, uns auch nur von einem der Falken zu trennen. Wir haben schon zwei an der Küste des Weißmeeres verloren, und in den Wäldern waren wir kurz davor, alle aufgeben zu müssen. Wenn wir hier mit sechs Falken abreisen, schätze ich mich glücklich, mit vier in Anatolien anzukommen.»

Vasili zog seine Hand zurück. «Dann werde ich dieses Thema nicht mehr ansprechen.» Er tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab.

Danach war die Atmosphäre etwas angespannt, und Vallon wechselte schnell das Thema. «Wie stehen die Angelegenheiten in Rus?»

Vasili winkte einen Bediensten weg, der ihm eine Pastete angeboten hatte. Dann neigte er sich zu Vallon und sagte mit gesenkter Stimme: «Nicht gut. Ich bedaure, dass Ihr in einer besonders schlechten Zeit in meinem geliebten Vaterland angekommen seid. Unter Großfürst Jaroslav – Gott behüte seine Seele – war die Föderation vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer geeint. Jaroslav wurde ‹Der Weise› genannt, aber auf seinem Totenbett muss er wohl den Verstand verloren haben. Bevor er starb, hat er das Reich unter seinen fünf Söhnen aufgeteilt. Die drei ältesten haben ein Triumvirat gebildet – und das ist das instabilste aller Bündnisse, sei es in der Liebe, im Krieg oder in Staatsangelegenheiten. Und noch ein Gift bedroht das Reich. Und zwar Vseslav von Polotsk, ein Außenseiter. Er ist der Urenkel Vladimirs des Heiligen. Vseslav ist ein Magier und ein Werwolf. Ihr lächelt, aber ich kenne den Mann und kann beschwören, dass er der Zauberkunst mächtig ist.»

Vasili nippte an seinem Becher. «Vor fünf Jahren hat das Triumvirat Vseslav in Kiew ins Gefängnis geworfen. Viele Leute glauben, dass seine Hexerei die Ursache für die Probleme hier im Land ist. Im Jahr darauf haben sich die Nomaden aus den Steppen des Südens die Verfeindung der Prinzenbrüder von Rus zunutze gemacht und uns mit einem großen Verband angegriffen. Als sie unsere Armee geschlagen hatten, brach in Kiew ein Aufruhr aus. Die Bürger haben Vseslav befreit und ihn zu ihrem Prinzen erklärt. Ein Jahr später wurde er wieder entthront und flüchtete zurück nach Polotsk, wo er heute noch Zauberformeln ersinnt und seine nächsten Schritte vorbereitet. Ich beschreibe ihn deshalb so genau, weil Ihr durch das unzivilisierte Gebiet müsst, dass an sein Fürstentum angrenzt. Eine so kleine Reisegesellschaft wie Eure könnte einfach in den Wäldern verschwinden, ohne dass es irgendjemand mitbekommt.»

Vasili richtete sich sorgenvoll auf. «Verehrter Freund, meine dunklen Überlegungen halten Euch vom Essen ab. Darf ich Euch von den Poriggi anbieten? Hier, nehmt etwas von dem Würzfleisch. Es ist sehr gut, um den Appetit anzuregen.»

«Es sind nicht Eure Bedenken, die mir den Appetit verderben. Es ist noch nicht lange her, da hat mir ein Wikinger den Bauch aufgeschlitzt. Die Wunde ist kaum verheilt. Mein Arzt hat mich angewiesen, zurückhaltend zu essen und auf Fleisch zu verzichten, bis ich mich vollständig erholt habe.»

Darauf blinzelte ihn Vasili etwas verwirrt an, als habe er den Verdacht, von Vallon auf den Arm genommen zu werden.

«Erzählt uns mehr vom Süden», sagte Vallon.

Vasili legte einen Bernsteinlöffel auf den Tisch. «Nowgorod.»

Dann nahm er einen silbernes Salzfässchen und stellte es in die Mitte des Tischs. «Kiew.»

Auf die gegenüberliegende Seite des Tischs stellte er seinen goldenen Trinkbecher. «Konstantinopel.»

Er tauchte seinen Finger in den Becher und zog von Nowgorod ausgehend eine feuchte Linie auf den Tisch. «Von hier aus überquert Ihr den Illmensee und fahrt die Lowat hinauf. Dieser Abschnitt der Reise wird sehr anstrengend. Wie ich schon sagte, führt der Fluss Niedrigwasser und kann nur mit kleinen Booten befahren werden. Und auch dann müsst Ihr für jedes Werst, das Ihr segelt oder rudert, mit zwei Werst rechnen, die Ihr Euer Boot schleppen müsst.»

Vasili tippte zwischen Nowgorod und Kiew auf den Tisch. «Hier verlasst Ihr den Fluss, und es kommt der Überlandtransport, die sogenannte Große Portage, auf die andere Seite der Wasserscheide. Das dauert etwa sechs Tage. Der kürzeste Weg führt Euch zur Westlichen Dwina und dann, südlich von Smolensk, zum Oberlauf des Dnjeprs. An Eurer Stelle würde ich dort erst gar nicht in die Stadt gehen. Die Händler dort sind reine Verbrecher.»

Erneut befeuchtete Vasili seinen Finger und zog eine Linie vom Dnjepr nach Kiew. «Zuerst ist der Fluss schmal und verläuft durch ein Waldgebiet. Aber bald kommen mehrere Zuflüsse, sodass er zwei Werst breiter wird. Von Kiew aus ist die Fahrt einfach – man schafft siebzig Werst am Tag – bis Ihr hier ankommt.» Vasili pochte mit dem Zeigefinger auf den Fluss. «Hier verläuft der Dnjepr durch eine enge Schlucht, und es folgen neuen Katarakte. An manchen Stellen werdet Ihr waten und Eure Boote mit Seilen um die Felsen herumziehen müssen. Dort gehen jedes Jahr viele Menschenleben und viele Schiffe zugrunde. Euch wäre der Untergang sicher, weil Ihr keinen Lotsen finden werdet, der Euch durch die Stromschnellen führt.»

«Und warum nicht?»

Wieder pochte Vasili mit dem Finger auf den Tisch. «Weil Ihr – selbst wenn Euch die Katarakte lebendig ausspucken – die größte Gefahr erst noch vor Euch habt.»

«Die Petschenegen.»

Vasili lächelte. «Also ist der Ruf dieser Steppennomaden schon bis über die Grenzen von Rus gedrungen. Nun, ich habe Euch Neues über sie zu berichten. Die gute Nachricht ist, dass die Petschenegen vor ungefähr zehn Jahren aus der Steppe im Süden vertrieben wurden. Die schlechte Nachricht ist, dass die Krieger, die sie besiegt haben, Barbaren genau desselben Schlags sind, nur noch grausamer und unersättlicher. Es sind diese Wilden, die vor vier Jahren Kiew bedroht haben. Kumanen nennen sie sich. Sie liegen am Ausgang der Wasserschlucht auf der Lauer, aber die Bewegungen ihrer Kampfverbände sind so unvorhersehbar, dass Ihr ihnen auf Kiewer Gebiet überall begegnen könntet. Hört mich an, Bruder. Die Kumanen sind so gefährlich, dass kein Händler es wagt, ihr Gebiet zu durchqueren, es sei denn, er reist in einem Flottenverband, der von Soldaten bewacht wird. Und Händler geben nicht mehr Geld aus als nötig. Welche Chance glaubt Ihr unter diesen Umständen zu haben? Keine, das sage ich Euch. Nicht die geringste.»

«Die Nomaden rechnen aber nicht mit uns. Wenn wir diese Passage hinter uns haben, sind wir dann sicher?»

Vasili zuckte mit den Schultern. «Ja, wenn Ihr immer auf dem Fluss bleibt und Euer Lager nur auf Inseln aufschlagt. Im Mündungsgebiet kommt Ihr dann schließlich zur Insel St. Aitherios. Und dort, mein Bruder, werdet Ihr feststellen, dass all Eure Mühen umsonst waren.»

«Und weshalb?»

«Nur mit kleinen Booten kann die Portage an der Wasserscheide bewältigt werden; und nur mit einem großen Schiff gelingt die Passage übers Schwarze Meer. Um diese Jahreszeit werdet Ihr an der Mündung des Dnjepr keine Handelsschiffe finden. Das ganze Gebiet ist verlassen.» Vasili lehnte sich zurück. «So. Ich habe Euch Eure Aussichten beschrieben. Seid Ihr immer noch entschlossen, es zu riskieren?»

«Hero hat mir einmal gesagt, dass eine abgebrochene Reise ist wie eine nur zur Hälfte erzählte Geschichte. Wir werden bis zum Ende gehen, wo auch immer es uns begegnet.»

Vasili warf lachend den Kopf zurück. «Mein Freund, wenn Ihr Euer Ziel tatsächlich erreicht, hoffe ich, dass Ihr einen Barden findet, der Eure Abenteuer unsterblich macht.»

Wie Vallon feststellte, hatten seine Leute so viel gegessen, dass sie sich kaum noch rühren konnten. Einige gähnten unverhohlen. «Herr Vasili, verzeiht uns unseren Mangel an gutem Benehmen, aber meine Gefährten sind immer noch von den Strapazen erschöpft, und Eure freigebige Gastfreundschaft hat sie überwältigt. Wenn Ihr erlaubt …»

Vasili erhob sich sofort. «Lasst sie schlafen. Ja, nach Essen und Trinken ist der Schlaf eine Wohltat.»

Die Reisenden standen auf und verbeugten sich, während Vallon ihrem Gastgeber erneut für seine Großzügigkeit dankte.

Vasili winkte ab. «Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite. Vielleicht würdet Ihr mir die Ehre eines Gesprächs unter vier Augen erweisen?»

«Selbstverständlich. Aber mein Nordisch ist sehr schlecht. Kann ich jemanden mitbringen, der …»

«Natürlich.»

Vallon nickte Wayland zu. Vasili geleitete sie in eine Kammer mit Fensterscheiben aus Frauenglas. Er bot seinen Gästen auf einer mit Fellen belegten Bank Plätze an, sagte etwas zu seinem Verwalter und setzte sich dann zu ihnen.

«Nachdem ich Eure Reiselust nicht habe eindämmen können, will ich, dass Ihr unter günstigen Bedingungen reist. Ich habe einen Empfehlungsbrief geschrieben, der Euch in Kiew die Türen öffnen wird. Mein Verwalter wird Euch bei der Suche nach geeigneten Booten helfen, und ich gebe Euch einen Führer mit, der auch auf meinen eigenen Reisen mitfährt. Oleg kennt jeden Zoll Weg der Portage und die Flussmänner, die Euch hinüberbringen werden. Das sind ehrliche und bereitwillige Arbeiter. Wenn es Euch beliebt, könnt Ihr Euch also während der Portage ein Liedchen pfeifen und die Hände in die Hosentaschen stecken.»

«Ich bin Euch sehr verbunden. Wir werden natürlich dafür bezahlen.»

Vasili winkte ab. «Oleg gehört zu meinen Leuten, und ich komme für ihn auf. Er wird dafür sorgen, dass die Träger Euch einen fairen Preis machen.» Vasilis Mundschenk trug auf einem Emaille-Tablett eine Glaskaraffe und drei Silberbecher herein. «Griechischer Wein. Ich hoffe, Euer Arzt erlaubt Euch seinen Genuss.»

Vallon schnupperte genießerisch an dem purpurroten Getränk. Als er daran nippte, stieg Wärme in ihm auf. Doch er ahnte, dass von Vasili noch etwas kommen würde.

«Wenn es etwas gibt, das wir als Gegenleistung tun können …»

«Nein, nichts. Der Handel ist das Lebenselixier von Groß-Nowgorod. Berichtet Euren abenteuerlustigen Händlerfreunden von dem großzügigen Empfang, mit dem sie hier rechnen können.» Vasili trank einen Schluck und dachte kurz nach. «Allerdings gäbe es da tatsächlich einen kleinen Gefallen, den Ihr mir tun könntet. Ich habe einige Dokumente nach Kiew zu schicken. Da nun der Winter vor der Tür steht, war ich davon ausgegangen, damit bis zum nächsten Jahr warten zu müssen, aber nachdem Ihr zum Aufbruch entschlossen seid, würde es Euch vielleicht nicht stören …»

«Keineswegs. Entschuldigt mich einen Augenblick.» Vallon lächelte und sagte auf Französisch zu Wayland: «Hör auf, ihn so finster anzustarren.» Dann wandte er sich immer noch lächelnd wieder an Vasili. «Er trinkt normalerweise keinen Wein. Ich habe ihm gesagt, er soll ihn sich nicht zu Kopf steigen lassen.»

Vasilis Blick ruhte kurz auf Wayland, bevor er zu Vallon zurückwanderte. «Verehrter Freund, ich muss einen letzten Versuch machen, Euch von Eurer Entscheidung abzubringen. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn Euch etwas zustieße. Kann ich Euch denn gar nicht davon überzeugen, in Nowgorod zu bleiben und Eure Angelegenheiten in meine Hände zu legen?»

«Wir reisen ab, sobald wir geeignete Boote gefunden haben. Wie gesagt, die Falken stehen nicht zum Verkauf, aber falls Ihr an unseren anderen Waren Interesse habt …»

Vasili wedelte mit den Fingern. «Ich bin immer bereit, einen Freund zu unterstützen. Wenn Ihr wollt, nehme ich Euch das Walross-Elfenbein und den Schwefel ab. Ich schicke Euch morgen meinen Verwalter vorbei. Und nun will ich Euch nicht länger vom Schlafen abhalten.»

Vasili begleitete seine beiden Gäste bis zum Tor seines Grundstücks. «Gute Nacht, geschätzter Freund. Denkt über meinen Vorschlag nach.»

Das Tor schloss sich hinter ihnen. Sie gingen müde durch die verlassenen Straßen. Das Glockengeläut der Kathedrale klang fremdartig in Vallons Ohr.

«Du hast dich wie ein Flegel benommen», sagte er.

«Ich traue ihm nicht.»

Vallon blieb stehen. «Wenn ein Mann dein Misstrauen erregt, dann lässt du dir deinen Verdacht nicht anmerken.» Er ging weiter. «Und warum traust du ihm nicht?»

«Es stimmt, dass Nowgorod vom Handel lebt, und mit einer üppigen Mahlzeit ist unser Entgegenkommen nicht teuer erkauft. Außerdem war unsere neue Kleidung trotz Richards Verhandlungskünsten nicht billig.»

«Als wir in Nowgorod angekommen sind, wollte Vasilis Verwalter die Falken kaufen. Sein Herr hat heute Abend dasselbe Interesse bekundet. Ich habe heute Nachmittag ein paar Preise eingeholt. In Rus wird eine Sklavin für einen Nogata verkauft. Das entspricht etwa zwanzig Pennies. Und was glaubst du, wie viel ein Gerfalke einbringt?»

«Doppelt so viel? Fünfmal so viel?»

«Ein Gerfalke kostet so viel wie zwanzig Sklaven. Mit dem Silber, das wir durch ihren Verkauf einnehmen würden, könnten wir genügend Sklaven kaufen, um uns huckepack nach Byzanz tragen zu lassen.»

«Vielleicht sagt das mehr über die Wertlosigkeit eines Menschenlebens in Rus aus als über den Wert eines Gerfalken. Aber ich habe Vasili beobachtet. Ich habe gesehen, wie es in seinem Kopf gearbeitet hat. Er hat erkannt, dass wir die Vögel nicht verkaufen werden, ganz gleich, wie viel Geld er uns bietet, aber er ist entschlossen, sie trotzdem an sich zu bringen.»

«Was bedeutet?»

«Fragt Euch doch selbst, warum Vasili uns so bereitwillig seinen eigenen Führer angeboten hat.»

«Als Dank dafür, dass wir seinen Brief mitnehmen.»

«Erst erzählt er uns, wir würden diese Reise auf keinen Fall überleben, und dann vertraut er uns Dokumente an? Das ergibt keinen Sinn.»

«Vielleicht sind sie ja nicht so wichtig. Und er weiß, dass wir zu der Reise entschlossen sind.»

«Aber was mich hat aufhorchen lassen, war, dass er sagte, hinter Nowgorod kämen wir in ein Niemandsland, in dem unser Verschwinden keiner Menschenseele auffallen würde. Und diese Geschichte über den Magier-Prinzen …»

«Es gelingt dir bestens, mir den Abend zu verderben.»

«Das tut mir leid. Es ist nur … Ich weiß nicht … Irgendetwas stimmt da nicht.»

Sie hatten die Tür zu ihrer Unterkunft erreicht. Vallon zog an der Klingelschnur und drehte sich zu Wayland um. «Wenn du eine böse Ahnung hast, wäre ich närrisch, sie nicht ernst zu nehmen.» Es gelang ihm nicht, sein Gähnen zu unterdrücken. «Aber im Moment kann ich nur noch an mein Bett denken.»

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