LIV

Als sie am nächsten Morgen aufwachten, waren sie allein, das Seldschukenlager und die Straße in beiden Richtungen verlassen. Sie frühstückten in dem bedrückten Schweigen, in dem sie den Vorabend verbracht hatten. Dann machte sich Vallon an das mühselige Vorhaben, in den Sattel zu kommen.

Auch Hero stieg auf. «Wohin?»

Vallon richtete sein Pferd nach Norden.

«Was ist mit Caitlin? Sie wartet auf uns.»

Vallon ritt los. «Worauf sollte sie noch warten? Sieh mich an. Ein hilfloser Krüppel. Sogar mein Plan, in die Warägergarde einzutreten, ist zum Teufel gegangen. Niemand würde einen Soldaten in meiner Verfassung in seinen Dienst nehmen.»

Hero holte zu ihm auf. «Sie weiß, in welcher Verfassung Ihr seid. Sie will trotzdem bei Euch sein. Ich habe ihre Liebeserklärung gehört.»

«Eine Liebeserklärung, in der Glut der Leidenschaft gesprochen. Inzwischen hatte sie Zeit zum Nachdenken, und ihr Verstand wird ihr gesagt haben, dass sie eine viel bessere Partie machen kann.»

Hero ließ sein Pferd in schnelleren Trab fallen, sodass er Vallon ins Gesicht sehen konnte. «Das könnt Ihr nicht wissen. Gebt ihr wenigstens die Gelegenheit, ihre Wünsche selbst zu äußern.»

Vallons düsterer Blick blieb starr geradeaus gerichtet. «Wir haben eine Abmachung getroffen. Wenn wir das Evangelium gefunden hätten, wäre ich zurückgekehrt. Aber wir haben es nicht, also ziehe ich weiter.»

«Sie will aber vielleicht nicht an Suleimans Hof bleiben.»

«Sie hat genügend Silber, um in aller Bequemlichkeit nach Konstantinopel zu gelangen.» Vallon wedelte mit der unverletzten Hand. «Vergiss Caitlin.»

Darauf ritt Hero schweigend neben Vallon dahin. Es war wieder ein schöner Tag, ein wolkenloser Porzellanhimmel wölbte sich über den blendend weißen Salzpfannen. Flamingos schwärmten wie Zeilen rosafarbener Schriftzeichen über den Salzsee. Vallon trabte weiter und war sich der Seitenblicke Heros sehr bewusst. «Ich habe gesagt, ich will kein Wort mehr darüber hören.»

«Ich denke nicht an Caitlin.»

«Woran sonst?»

«Ich habe an das Evangelium gedacht.»

Vallon stieß ein galliges Lachen aus. «Ich auch.»

«Nein, nicht auf diese Art.» Hero zögerte. «Ich weiß nicht, ob Ihr hören wollt, was ich denke.»

«Diesen Verlust kannst du nicht mehr schlimmer machen.»

Hero atmete tief ein, und dann sprach er es einfach aus. «Ich glaube nicht, dass wir es hätten verkaufen können. Und zwar, weil niemand aus der Kirche es kaufen würde.»

Vallon starrte ihn an. «Du hast mir selbst gesagt, es sei eines der wichtigsten Bücher, die je geschrieben wurden.»

«Aber wichtig aus den falschen Gründen. Wenn es jemand kaufen würde, dann nur, um es zu geheim zu halten. Oder um es zu zerstören.»

«Den Bericht eines Apostels geheim halten? Ein Stück der Bibel zerstören?»

«Die Bibel ist das Wort Gottes, aber die Kirche entscheidet, welche Worte die Welt hören soll. Ich habe über die Passagen des Thomasevangeliums nachgedacht, die ich lesen konnte, und bin zu dem Schluss gekommen, dass die obersten Kirchenherren ihrer Glaubensgemeinschaft diesen Text vorenthalten würden.»

«Und warum?»

«Erstens erklären alle vier kanonischen Evangelien, dass Jesus der Sohn eines bescheidenen Zimmermanns war, und Lukas sagt, er habe dieses Handwerk auch selbst ausgeübt. Keiner von ihnen spricht über die Kindheit oder die Erziehung Jesu. Sie müssen etwas über sein Leben in jungen Jahren gewusst haben, aber sie haben sich dafür entschieden, es zu verschleiern. Nicht aber Thomas. Er sagt, Jesus sei der Sohn eines tekton gewesen, eines Baumeisters oder Architekten, der außerdem die Thora unterrichtete, und dass Jesus in jüdischem Recht ausgebildet worden sei und ein angesehener Rabbi wurde.»

Vallon zuckte zusammen, als sein linker Fuß heftig gegen die Flanke des Pferdes stieß. «Willst du damit sagen, dass Thomas ein Lügner und sein Evangelium eine Fälschung war?»

«Nein. Ehrlich gesagt finde ich seine Version überzeugender als die anderen. Erinnert Ihr Euch an den Bericht von Lukas? Darüber, dass Jesus seinen Eltern als Zwölfjähriger einmal in Jerusalem verlorenging? Nach fünf Tagen haben sie ihn im Tempel wiedergefunden, wo er die Gelehrten mit seinem Wissen über religiöse Themen zum Staunen brachte. Die Ältesten hätten so ein Wunderkind ganz bestimmt in ihre Schulen geholt und es als zukünftigen religiösen Führer angesehen. Und an anderen Stellen der Evangelien wird Jesus oft ‹Rabbi› oder ‹Rechtsgelehrter› genannt. Weithin respektierte jüdische Gelehrte kamen, um ihn predigen zu hören. Das hätten sie bei einem Zimmermann nicht gemacht.»

«Ich verstehe nicht, warum die Kirche ein Evangelium ablehnen sollte, das behauptet, Jesus wäre ein bedeutender Weiser und Lehrer gewesen.»

«Das ist nicht der einzige Aspekt, in dem es von den Berichten der Bibel abweicht. Thomas nennt Jesus ‹den Menschensohn› statt ‹den Gottessohn›. Das ist ein wichtiger Unterschied, einer, der den Glauben bedroht, Jesus sei wahrhaft göttlicher Abstammung gewesen. Und noch etwas. Thomas bezeichnet Jesus als chrêstos, mit einem ê geschrieben, und nicht als christos mit einem i. Die beiden Wörter werden gleich ausgesprochen, aber sie haben verschiedene Bedeutungen. Christos mit einem i bedeutet ‹der Gesalbte› – der Messias, den Gott gesandt hat, um die Wiederkunft des Herrn zu verkünden. Chrêstos mit einem ê bedeutet einfach ‹gut›.»

«Woher weißt du das alles?»

«Einer meiner Onkel ist Priester. Eine Zeitlang war ich für ein Leben als Geistlicher vorgesehen.»

«Ich bin zwar kein Gelehrter, aber mir kommt es so vor, als würdest du Haarspalterei betreiben.»

Hero schwieg einen Moment, bevor er weitersprach.

«Das tun Theologen eben. Sie haben es schon seit tausend Jahren getan, und das Ergebnis ist der Glaube, wie er heute ausgeübt wird, bis hin zur winzigsten liturgischen Kleinigkeit. Alles, was nicht in die offizielle Version passt, hat im Kanon keinen Platz. Das Schisma zwischen Rom und Konstantinopel ist ein gutes Beispiel dafür. Wisst Ihr, wodurch es ausgelöst wurde?»

Vallon dachte nach. «Ich habe keine Ahnung.»

«Im Hinblick auf die Doktrin ist der Hauptstreitpunkt ein einzelnes Wort, filioque, das die römisch-katholische Kirche in das nicänische Glaubensbekenntnis eingefügt hat. Es bedeutet, ‹und dem Sohn› und es taucht in dem Abschnitt auf: ‹Und ich glaube an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht.› Was durch diesen Zusatz unterstrichen wird, ist, dass Jesus, dem Sohn, die gleiche Göttlichkeit zugesprochen wird wie Gott, dem Vater. Die Ostkirche will diesen Zusatz nicht akzeptieren, weil sie auf der Vorrangstellung von Gott, dem Vater, besteht. Sie streiten schon seit fünfhundert Jahren über dieses Wort.»

«Die Kirche hört also nur, was sie hören will.»

«So ist es. Die Kirchenväter verlangen ja schon einen Berg klarer, unumstößlicher Argumente, wenn in den anerkannten Evangelien auch nur ein Punkt geändert werden soll. Ein Buch, das Abenteurer in Anatolien entdeckt haben, würde ihnen ganz bestimmt nicht als Beweis für die Echtheit des Thomasevangeliums reichen.»

«Rom vielleicht nicht. Die griechisch-orthodoxe Kirche könnte aufgeschlossener sein.»

Hero schüttelte den Kopf. «Auch wenn sie sich streiten, beide Kirchen würden jedes Buch, in dem das Menschsein Jesu betont wird, als verabscheuungswürdige Häresie betrachten.»

«Das heißt, dass wir, wenn wir das Evangelium noch hätten und versuchen würden, es zu verkaufen, dafür auf dem Scheiterhaufen landen könnten.»

«Ich weiß nicht, ob sie so weit gehen würden. Aber das Evangelium würden sie wahrscheinlich verbrennen.»

Eine Zeitlang ritt Vallon schweigend weiter. «Hero, wenn das als Trost für mich gemeint war, hat es nicht funktioniert.»

«Ich dachte nur, Ihr solltet es wissen.»

«Du hast nur ein paar Abschnitte gelesen. Cosmas hatte Gelegenheit, sich das ganze Buch in aller Ruhe anzusehen. Er war ein hochgebildeter Mann. Ihm müssen dieselben Zweifel gekommen sein wir dir, und das hat seinem Wunsch, das Buch in die Hände zu bekommen, trotzdem keinen Abbruch getan.»

«Cosmas hat vor allem anderen nach der Wahrheit gestrebt. Vielleicht hat ihm Thomas etwas offenbart, das die ganze Christenheit bis in die Grundfesten erschüttern würde.»

«So etwas wie die Geheimnisse, von denen Thomas sagt, sie würden Steine zum Brennen bringen.»

«Möglich. Oder etwas anderes, zum Beispiel eine Offenbarung, die Jesu Tod und Auferstehung betrifft.»

«Und wie sollte die lauten?»

«Ich weiß nicht, ob ich es aussprechen soll. Es ist blasphemisch.»

«Mach dir keine Sorgen um mein Seelenheil. Komm schon, heraus damit.»

«Also gut.» Hero sammelte sich kurz. «Einige Quellen sagen, dass Thomas in Indien evangelisiert und an der Küste viele Menschen bekehrt hat. Cosmas hat einige der Gemeinden dort besucht, auch den Thomas-Schrein in der Nähe der indischen Stadt Madras. Die Christen dort nennen sich ‹Thomaschristen›, aber Cosmas hat mir erklärt, dass sie zu einer nestorianischen Sekte gehören.»

«Über die weiß ich nichts, außer dass sie von der Kirche als Häretiker bezeichnet werden.»

«Und zwar Häretiker von der verdammenswertesten Sorte. Nestorius hat vier Jahrhunderte nach Thomas gelebt, und wie er hatte er Zweifel an der Göttlichkeit Jesu. Sogar als Patriarch von Konstantinopel hat er noch gepredigt, dass Christus zwei Naturen habe, eine göttliche und eine menschliche, und dass die Menschheit nicht in der Göttlichkeit Christi Erlösung finden würde, sondern im von Versuchungen und Leiden geprägten Leben Jesu als Mensch. Die orthodoxe Kirche fand Nestorius’ Vermenschlichung Jesu ungeheuerlich, und bei einem Konzil, das vom Papst einberufen wurde, haben sie ihn seines Amtes enthoben. Seine Lehre verbreitete sich trotzdem, vor allem Richtung Osten in Persien und Indien. Ich glaube, die christlichen Gemeinden dort nahmen den Nestorianismus so bereitwillig an, weil er der Lehre im Thomasevangelium so sehr glich.»

Vallon dachte über das Gehörte nach. «Aber das würde ja noch nicht das Christentum in den Grundfesten erschüttern. Worin soll denn nun die Offenbarung bestehen?»

«Ich glaube nicht, dass ich noch weiter spekulieren sollte.»

«Oh, in Gottes Namen!»

«Was könnte es sein, das Thomas an der Göttlichkeit Jesu zweifeln ließ?»

«Da fragst du den Falschen. Ich kann mein Glaubensbekenntnis und mein Vaterunser, und damit sind die Grenzen meiner religiösen Bildung erreicht.»

«Es gibt im Johannesevangelium einen Hinweis, es wird beschrieben, wie sich der wiederauferstandene Jesus all seinen Aposteln außer Thomas gezeigt hat. Die Geschichte habt Ihr doch schon einmal gehört, oder?»

«Natürlich! Der ungläubige Thomas. Er wollte nicht glauben, dass Jesus von den Toten auferstanden ist, bis er Ihn gesehen und seinen Finger in die Wunden gelegt hätte.» Vallon warf Hero einen scharfen Blick zu. «Ja, er hat gezweifelt, und Jesus hat seine Zweifel ausgeräumt. Wir sind keinen Schritt weiter.»

Hero antwortete nicht.

Vallon sah zum Himmel hinauf, als würde er dort oben einen göttlichen Lauscher vermuten. Dann beugte er sich etwas zu Hero hinüber und sagte mit gesenkter Stimme: «Behauptest du, Thomas hat den auferstandenen Jesus überhaupt nicht gesehen?»

«Ich sage nur, dass er keine Zweifel an der Göttlichkeit Jesu gehabt haben könnte, wenn er Zeuge der Auferstehung gewesen wäre.»

Vallons Stimme wurde noch leiser. «Also meinst du, Thomas sagt, Jesus sei nicht von den Toten auferstanden? Dass er sterblich war wie jeder Mensch?»

«Es ist nur eine Spekulation, weiter nichts.»

Vallon setzte sich im Sattel auf und bekreuzigte sich. «Da rudern wir in ziemlich dunklen Gewässern. Aber wie dem auch sei, wir werden es nie erfahren. Inzwischen ist das Evangelium schon ein Häufchen Asche.»

«Da bin ich nicht so sicher. Ich glaube, die Seldschuken werden es in irgendeiner Bibliothek verstecken. Es hat tausend Jahre überstanden, seit es geschrieben wurde. Wer weiß? Vielleicht taucht es in tausend Jahren wieder auf.»

Das Ende des Sees kam in Sicht. Vallon hörte Hero seufzen und sah, wie er den Kopf schüttelte.

«Was macht dir denn jetzt Sorgen?»

Hero schnitt ein Gesicht. «Ich habe Richard geliebt, Drogo gefürchtet und gehasst, und für Walter habe ich nichts als Verachtung empfunden. Und trotzdem bereitet mir der Gedanke an ihre Eltern Kummer, die in Northumberland auf die Rückkehr ihrer Söhne warten und nicht ahnen, dass keiner von ihnen nach Hause kommen wird. Sosehr es mir auch widerstrebt, aber ich glaube, ich muss ihnen schreiben, damit sie nicht länger umsonst warten.»

Vallon war derselben Meinung. «Ich habe gerade an Aarons Prophezeiung gedacht, dass unsere Mission zum Scheitern verurteilt wäre. Er hatte recht.» Vallon runzelte die Stirn. «Beinahe. Wir sind nicht schlechter dran als vor dem Aufbruch.»

Hero schüttelte seine Überlegungen ab. «Wir sind sogar viel besser dran. Wir haben genug Silber, um nach Konstantinopel zu reisen, und wir haben immer noch den Brief von Priester Johannes.»

Vallons Stimmung hob sich. «Glaubst du wirklich, dass er an einem Tisch aus Gold und Amethyst speist, in einem Bett aus Saphir schläft und auf einem goldenen Sitz in Form einer Burg auf einem Elefantenrücken in die Schlacht reitet?»

Hero lachte. «Ich habe Ihre Königliche Hoheit im Verdacht, die Wahrheit ein bisschen ausgeschmückt zu haben.»

«Der Priesterkönig webt lauter Phantasien zusammen, geht mit Träumen hausieren, um unsere Sehnsucht nach dem Unbekannten anzustacheln. Wahrscheinlich wohnt er in einer Lehmburg und isst Haferbrei aus Holzschalen.»

«Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.»

Vallon musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. «Ich dachte, du hättest genug vom Herumreisen. Bist du noch nicht genügend wilde Flüsse hinuntergefahren und durch ausreichend viele Wüsten gezogen?»

«Wenn nur ein Zehntel der Behauptungen von Priester Johannes stimmen, wären sie die Reise wert.»

«Du siehst so aus, als würdest du sie schon planen.»

Hero schüttelte den Kopf. «Vielleicht eines Tages.»

«Bitte mich nicht, dich zu begleiten. Diese Expedition hat mich von jeder Wanderlust geheilt.»

Hero lächelte. «An dem Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind, habt Ihr gesagt, dass eine Reise nichts weiter ist als ein anstrengender Weg zwischen einem Ort und einem anderen.»

«Damit habe ich ja nicht falschgelegen, oder? Du kannst nicht bestreiten, dass das letzte Jahr das unbequemste, leidvollste und brotloseste deines Lebens gewesen ist.»

«Und das lehrreichste und aufregendste. Gebt es zu, Herr, es ist sehr befriedigend, eine Reise abgeschlossen zu haben, die noch kein Mensch zuvor unternommen hat.»

Vallon nickte zurückhaltend. «Das stimmt. Wir beide haben einen Vorrat an Geschichten gesammelt, aus dem wir schöpfen können, bis wir alt und grau sind.»

Sie ritten weiter. Immer wieder ließ Vallon seinen Blick mit der Wachsamkeit des Soldaten über die einsamen Hügelrücken schweifen. «Nicht alle Flüsse münden ins Meer.»

Hero war mit den Gedanken weit fort gewesen. Er blinzelte. Vallon deutete auf den See.

«Wir haben uns einmal abends in England darüber unterhalten, dass ein Menschenleben seinen Lauf nimmt wie ein Fluss, um schließlich schwach und müde im Meer zu enden.»

«Ja, ich erinnere mich daran.»

«Dieser See hat keinen Abfluss. Die Flüsse, die in den See münden, werden das Meer niemals erreichen.»

Erneut sah Hero Richards Leiche vor sich, wie sie auf die weite Mündung des Dnjepr hinausgetrieben wurde. «Richards Reise hat aber im Meer geendet. Er war erst siebzehn. Seine Reise hatte kaum begonnen.»

«Jede Reise, sei sie kurz oder lang, hat einen Anfang und ein Ende. Einige Reisende machen sich auf und sterben zufrieden, auch wenn sie ihr Ziel nicht erreicht haben. Andere kämpfen sich jahrelang zu einem schillernden Ziel durch, nur um bei der Ankunft feststellen zu müssen, dass es doch nicht der Ort war, nach dem sie gesucht haben.»

Hero stiegen Tränen in die Augen. «Ich wünschte, sie wären alle hier. Ich wünschte, die Reise wäre nicht vorüber.»

Vallon legte ihm sanft die Hand auf den Arm. «Jetzt komm. Du hast noch einen sehr langen Weg vor dir.»

Sie kamen ans Nordufer des Salzsees, wandten sich westwärts über eine Hochebene und folgten ihren eigenen Schatten durch das menschenleere Land. Vallon warf einen Blick zurück. Dort lagen die Zwillingsgipfel, die mit dem sanften Schmelz eines Feueropals schimmerten, derselben Farbe, die sein Wetterring hatte. Weit hinter ihnen entdeckte Vallon eine Staubwolke, die vorher nicht da gewesen war. Er hielt sein Pferd an, sein Mund war vor Hoffnung und Angst wie ausgetrocknet.

Doch Meilen, bevor die Reiter sie erreicht hätten, wandte sich die Staubwolke nach Norden und wurde zusehends kleiner. Unbekannte Reisende auf ihren eigenen Pfaden.

Vallon lenkte sein Pferd nach Westen.

Hero aber rührte sich nicht. «Ihr habt gehofft, sie wäre es.»

«Sie war es nicht. Reiten wir weiter.»

«Ihr könnt immer noch umkehren. Morgen ist es zu spät, dann könnt Ihr Eure Entscheidung nur noch bereuen.»

Ein Zucken lief über Vallons Gesicht. «Was weißt du denn schon von Herzensangelegenheiten.»

Hero sagte ruhig: «Ich kenne die Liebe.»

Vallon hob entschuldigend die Hand. «Verzeih mir. Natürlich tust du das.»

«Herr, Ihr dürft nicht darauf warten, dass sie Euch folgt. Das ist nicht ritterlich. Wenn Ihr sie liebt, müsst Ihr umkehren.»

«Als wir uns kennengelernt haben, hast du gesagt, ich würde an der Liebeskrankheit leiden.» «Und das war kein Irrtum. Auch jetzt irre ich mich nicht. Wenn Ihr sie nicht wiederfindet, werdet Ihr nie mehr glücklich.»

Vallons gequälte Miene verriet seine Unentschlossenheit. «Ich kann dich nicht allein nach Konstantinopel reiten lassen.»

«Ich bin nicht derjenige, der Hilfe braucht. Ihr aber kommt ohne meine Hilfe nicht einmal vom Pferd. Vom Aufsteigen ganz zu schweigen.»

Vallon sah auf. «Also würde es dir nichts ausmachen, diesen ganzen elenden Weg zurückzureiten?»

Hero verdrehte die Augen. «Schließlich bin ich derjenige, der Euch ständig dazu überreden will.»

Vallon prüfte den Sonnenstand. Aufregung machte sich in ihm breit. «Wenn wir uns beeilen, können wir vorm Dunkelwerden bei dem Turm sein. Und wenn wir Glück haben, sind wir in drei Tagen in Konya.»

Sie waren wieder zurück am Nordufer des Salzsees, als Vallon eine Staubwolke entdeckte, die sich von Süden her näherte. Er betrachtete sie lange und sagte: «Zwei schnelle Reiter.»

Hero kniff die Augen zusammen. «Ist es Caitlin?»

«Sie sind zu weit weg, als dass ich es sagen könnte.»

Mit schmerzhaftem Herzklopfen sah Vallon den Reitern entgegen. Langsam wurden ihre Gestalten besser erkennbar, dann ihre Gesichter. Er legte sich die Hand über die Augen, mit einem Mal war ihm ganz schwach zumute. «Sie ist es», sagte er. «Caitlin und Wayland.»

Hero stieß einen Jubelruf aus. «Seid Ihr denn nicht froh, dass Ihr umgekehrt seid? Jetzt könnt Ihr Caitlin als Ehrenmann entgegentreten.»

«Wahrscheinlich wirft sie nur einen flüchtigen Blick auf mich und reitet dann mit erhobener Nase weiter, so wie sie es bei unserer ersten Begegnung gemacht hat.» Vallon funkelte Hero wütend an. «Was ist denn so lustig?»

«Vor zwei Tagen habt Ihr noch mit einem gebrochenen Arm und einem Sehnenanriss auf Leben und Tod gekämpft, aber wenn die Frau in Eure Nähe kommt, die Ihr liebt, zittert Ihr wie ein ängstlicher Jüngling.»

«Zu kämpfen ist leicht. Aber sein Herz zu verschenken nicht … jedenfalls nicht für jemanden mit meiner blutigen Vergangenheit.»

Hero wurde wieder ernst. Sie warteten. Endlich kamen Wayland und Caitlin nach atemlosen Galopp mit staubbedeckten Gesichtern bei ihnen an. Caitlin trug einfache Gewänder und keinen Schmuck. Zunächst sagte niemand etwas.

Hero brach das Schweigen. «Es tut uns leid, dass Ihr so weit reiten musstet, um uns einzuholen.»

Caitlin lenkte ihr Pferd neben das von Vallon und starrte ihn mit blitzenden Augen an. «Wayland hat mir gesagt, dass was immer du gesucht hast in dem Turm war, an dem wir vor einem halben Tag vorbeigekommen sind. Du bist weggeritten, oder? Du wolltest mich nicht holen kommen.»

Vallon sah zu Boden. «Ich war sicher, dass du mich nicht mehr haben willst.» Er blickte auf. «Aber schließlich wollte ich es doch aus deinem eigenen Mund hören.»

Caitlin verzog erbittert das Gesicht. «Ich habe dir bereits gesagt, wie ich mich entschieden habe. Wie oft soll ich es dir noch erklären?» Sie sah sich um. «Anscheinend hast du nicht gefunden, was du gesucht hast.»

Vallon zuckte mit den Schultern. «Wie gewonnen, so zerronnen.»

«Und was war es?»

«Ein Buch. Aber auch, wenn wir es hätten behalten können, hätte es sich als weniger wertvoll erwiesen, als wir gehofft hatten. Unser gesamtes Vermögen besteht aus dem Silber, das Wayland mit seinem Falken gewonnen hat.»

«Das ist mehr Silber, als die meisten Leute in ihrem gesamten Leben zu sehen bekommen.»

«Was ist mit dem Schmuck, mit dem dich Suleiman überhäuft hat?»

«Der Eunuche, der über den Harem wacht, hat ihn für Suleiman zurückgeholt.» Caitlin lächelte rätselhaft und legte Vallon die Hand auf den Arm. «Alles, bis auf den Goldgürtel mit dem Jadeanhänger», flüsterte sie. «Den konnte ich einfach nicht hergeben.»

Wayland hielt Vallon einen Beutel hin. «Syth und ich haben beschlossen, dass das hier Euch gehören soll. Ihr wart zu großzügig.»

Vallon winkte ab. «Behalt es. Du hast an eine Familie zu denken.»

Caitlin strich mit einem Finger über Vallons eingefallene Wange. «Es wird Zeit, dass du einmal an dich selbst denkst.» Dann fuhr sie Hero an: «Was hast du dir dabei gedacht, ihn in diesem Gemäuer nach versteckten Büchern suchen zu lassen? Er kann in diesem Zustand nicht nach Konstantinopel reiten. Wir suchen uns in der nächsten Stadt eine Unterkunft, bis es ihm wieder gut genug geht, um weiterzureisen.»

Hero vollführte eine Bewegung zwischen Zusammenzucken und Verbeugung.

Vallon versuchte, Widerspruch einzulegen. «Ich bin in Suleimans Herrschaftsgebiet nicht mehr willkommen. Je früher wir Byzantium erreichen, desto sicherer.»

Caitlin wischte seinen Einspruch beiseite. «Du hast von den Seldschuken nicht das Geringste zu befürchten. Heute Vormittag sind wir Faruq begegnet, und er hat gesagt, ich solle mich gut um dich kümmern.»

«Faruq?»

Sie lächelte. «Du unterschätzt den Respekt, den dir die Seldschuken entgegenbringen. Ihre Soldaten erzählen sich schon Geschichten über dich, als wärest du ein Held aus alten Zeiten.»

Wayland sah zu, wie seine Freunde sich darauf vorbereiteten, aus seinem Leben zu verschwinden, und fühlte sich seltsam abgeschnitten von ihnen. Vallon ritt an seine Seite. «Danke, dass du Caitlin hergebracht hast.»

«Sie hat sich selbst hierhergebracht, und wenn ich sie nicht begleitet hätte, wäre Syth persönlich mit ihr geritten.»

Vallon blickte nach Süden. «Die liebe Syth. Schon der Gedanke an sie bringt einen zum Lächeln, und dieses Lächeln wird mich mein Leben lang begleiten.» Er klopfte Wayland aufs Knie. «Bestimmt vermisst sie dich schon. Reite so schnell wie möglich zurück.»

Wayland betrachtete aufmerksam die Landschaft, um den Abschied noch ein wenig hinauszuzögern. «Wenn es Euch nichts ausmacht, reite ich noch ein Stückchen mit Euch weiter.»

Sie ritten nach Westen, und gegen Abend kamen sie auf einen Hügel, vor dem sich die Hochebene unter ihnen in sanftem Grau und Violett ausbreitete. Die Sonne war schon halb hinter dem Horizont versunken, und über den Himmel in Pfirsich- und Lavendeltönen zogen sich ein paar langgestreckte, feuerrote Wolken. Vallon zügelte sein Pferd und sah Wayland entschlossen an. «Jetzt geht es wirklich ans Abschiednehmen.»

Sie wünschten sich ohne große Gefühlsausbrüche Lebewohl, nur Caitlin drückte Wayland einen Kuss auf die Lippen und befahl ihm, Syth bis ans Ende seiner Tage in Ehren zu halten.

Hero wischte sich ein Staubkorn aus dem Augenwinkel, und seine Stimme klang ein bisschen höher als gewöhnlich. «Also, sieht so aus, als ob sich das gute Wetter hält.»

Vallon hob die Hand, um das zu überprüfen, und starrte auf seinen leeren Finger. «Der Ring ist weg.» Er sah über die Schulter. «Er muss mir vom Finger gerutscht sein.»

Alle drehten sich um und blickten über die weite, karge Landschaft.

«Habt Ihr eine Vorstellung, wo Ihr ihn verloren haben könntet?», fragte Hero.

Vallon schüttelte den Kopf. «Bewusst habe ich ihn zuletzt heute Morgen bei unserem Aufbruch gesehen. Er könnte überall sein.» Dann schüttelte er sich und atmete tief ein. «Er ist weg. Es hat keinen Zweck, ihn zu suchen.»

«Seid Ihr sicher? Der Ring ist wertvoll. Er hat Zauberkräfte.»

«Und genau deshalb habe ich ihn verloren. Ich wette, das verdammte Ding ist jetzt schon wieder bei Cosmas.»

Ein letztes Nicken in Waylands Richtung, ein letzter brennender Blick und eine Berührung mit der Hand, dann ritt Vallon mit Caitlin und Hero los. Die beiden drehten sich immer wieder zum Winken um, Vallon aber warf keinen einzigen Blick zurück, und das erwartete Wayland auch nicht von ihm.

Wayland behielt sie über Meilen im Blick. Die Schatten, die sie hinter sich warfen, wurden länger, verschmolzen miteinander und lösten sich schließlich in der heranziehenden Dämmerung auf.

Eine Bewegung in der Luft brachte ihn dazu, aufzusehen. Im letzten Licht glitt ein Falke auf der Wanderung in geschmeidigen Ellipsen herum, den Blick konzentriert auf den Boden weit unter sich gerichtet. Seine Flügel zuckten, und plötzlich schoss er vorwärts, ballte sich zu einem Geschoss zusammen und jagte in einer immer steiler werdenden Kurve abwärts, bis er so gerade wie ein Schnurlot auf die Erde zuraste. Dann verschlang ihn die Schattenflut über der Hochebene, und obwohl Wayland abwartete, tauchte der Falke nicht wieder auf. Als er wieder nach Westen sah, waren Vallon, Hero und Caitlin verschwunden.

Er wartete noch ein bisschen länger. Eine einzelne Wolke, deren Ränder von den letzten Strahlen der unsichtbaren Sonne entzündet worden waren, glühte wie ein Stück verglimmendes Pergament. Als die Flamme erlosch, ließ Wayland sein Pferd wenden. Die Zwillingsgipfel lagen unter der Horizontlinie, und die Hügel schwangen sich so weich und zart wie Lampenruß in die Ferne.

Auf seinem einsamen Ritt nach Hause kam er nur wenige Schrittlängen entfernt an Cosmas’ Ring vorbei, der im Wintergras am Wegesrand lag. Der Edelstein verzeichnete Waylands Vorüberkommen, sein Bild tauchte in länglicher Verzerrung auf, als er sich näherte, und zog sich dann zu einem immer kleiner werdenden Punkt zusammen. In wenigen Augenblicken war die Erscheinung Vergangenheit, und im Gras lag nur noch ein blankes, schwarzes Auge, in dem das Licht der Sterne schimmerte.

Wayland ritt weiter, wünschte sich nach Hause zu Syth und bedauerte zugleich, dass die Reise zu Ende war. Ein einziges Mal schaute er zurück – um sich den Augenblick einzuprägen, um einen Schlussstrich zu ziehen, um die Erinnerungen für immer in seinem Herzen zu bergen. Bevor er weiterritt, hob er einen Arm zum Gruß.

Hier oder in der anderen Welt.

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