XI

Ihre Suche nach Snorri begann mit einem Durcheinander. Als Hero im ersten Tageslicht bei der Herberge ankam, war Raul nicht aufzufinden. Wayland hatte ihn zuletzt am Abend zuvor mit einem Becher Honigwein in der Hand und einer ängstlich wirkenden Hure im Arm herumtorkeln sehen. Auf der Straße aus Norwich hinaus verlor Heros Maultier ein Hufeisen, und es dauerte bis zur Mittagszeit, bevor sie ihren Weg von der Werkstatt eines Schmieds aus fortsetzen konnten. Um die verlorene Zeit aufzuholen, ließen sie sich von einem Bauern den kürzesten Weg beschreiben und landeten wieder an der Kreuzung, an der sie aufgebrochen waren. Als der Abend kam, waren sie noch meilenweit von Lynn entfernt, also mussten sie mit einer rattenverseuchten Scheune als Nachtquartier vorliebnehmen, nur um festzustellen, dass keiner von ihnen daran gedacht hatte, etwas zu essen mitzunehmen. Entnervt stapfte Wayland hinaus und verbrachte die Nacht unter einem alten Karren.

Es herrschte immer noch gereizte Stimmung, als sie endlich in Lynn ankamen, einem aufblühenden Hafenstädtchen, das sich an einem Haff entlangzog, bei dem die Great Ouse in den Wash mündete. In Lynn erwartete sie eine neue Schwierigkeit. Hero sprach kein Englisch, und Wayland sprach überhaupt nicht. Schließlich ging Hero allein in die Stadt, um sein Bestes zu versuchen, und Wayland wartete ein Stück flussauf bei einer Fähre auf ihn.

Es war ein ruhiger, warmer Tag. Wayland hatte sich auf den Boden gesetzt, die Arme um die Knie geschlungen, und beobachtete die Wildvögel, die über das Wattland der Küste flogen. Er war zum ersten Mal am Meer, und dieses Meer hatte nichts mit dem sturmgepeitschten Ozean gemein, den er sich nach den Erzählungen seines Großvaters vorgestellt hatte. Dennoch verzauberte ihn etwas an dieser glitzernden Einförmigkeit. Seine Gedanken schienen sich darin aufzulösen, trugen ihn über den Horizont in ein Land, in dem weiße Falken wohnten, die so groß wie Adler waren.

Da ließ sich Hero neben ihn fallen. «Ich wusste ja gleich, dass es verlorene Liebesmüh’ ist.» Er rollte sich auf die Seite und reichte Wayland einige Gebäckstücke. «Snorri war am Donnerstag hier und hat auf dem Markt Fisch verkauft. Aber das Schiff kann man vergessen. Keiner der Leute hier hat es je gesehen. Sie sagen, Snorri ist nicht ganz bei Trost.» Hero deutete über den Fluss. «Er wohnt ein Stück die Küste hinauf. Hin und zurück braucht man einen Tag. Und wir müssten einen Führer haben, um uns in den Marschen nicht zu verlaufen, andererseits dürfen wir nicht riskieren, dass jemand mitbekommt, was wir vorhaben.»

Wayland ahnte schon, worauf er hinauswollte.

Hero setzte sich auf. «Wenn es nach mir geht, dann sage ich: Zum Teufel damit. Inzwischen hat Vallon bestimmt schon das Geld. Er kann sich ein Schiff aussuchen. Wenn wir jetzt anfangen, im Marschland herumzuirren, kommen wir frühestens morgen nach Norwich zurück.» Er hielt inne. «Was meinst du

Wayland stand auf und ging in Richtung der Fähre.

«Bist du sicher, dass ich nicht mitkommen soll?»

Wayland machte eine abwehrende Handbewegung. Nein.

Hero rannte ihm hinterher und streckte ihm einen kleinen Beutel entgegen. «Das nimmst du besser mit. Falls es dort wirklich ein Schiff gibt. Dann kannst du ihm beweisen, dass wir es ernst meinen.»

Pfade aus Weidenruten führten durch die Marschen. Wayland kam an Torfstichen, Salzpfannen und kleinen Inseln vorbei, deren Bewohner – die sich alle merkwürdig ähnlich sahen – ihm mit den Fäusten drohten und ihn mit Erdklumpen bewarfen, bis er sich zurückzog. Andere Wege folgten einer Logik, die Wayland nicht durchschaute, und endeten in schilfüberwuchertem Niemandsland oder morastigen Senken. Also begann er sich seinen eigenen Weg zu suchen und sprang so lange über Wasserläufe und Gräben, bis er an einen See kam, der zu tief war, um ihn zu durchwaten, und von so sumpfigem Grund umgeben, dass er ihn nicht umrunden konnte. Also wandte er sich in Richtung Küste und folgte ihrem Verlauf, wobei er an Bruchstellen und Auswaschungen vorbeikam, die tief genug waren, um einen Karren samt Pferd zu verschlucken. Es gab kaum eine Erhöhung, von der aus man sich einen Überblick über das Gelände verschaffen konnte, und einige Male geriet Wayland versehentlich auf Halbinseln, die unversehens in Morastfeldern oder Sandbänken endeten.

Es war schon Nachmittag, als er die Mündung eines tiefen, träge dahinfließenden Flüsschens erreichte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Flussauf zogen sich Schilfbänke, so weit das Auge reichte. In ihrem Schatten stand eine verwahrloste, aus Treibholz und Fellen zusammengeschusterte Hütte. Aus einem Regenfass neben der Hütte löschte Wayland seinen Durst. Dann sah er sich um. Das Rascheln im Schilf erschien ihm wie erbostes Geflüster.

Er trat auf eine Sandbank hinaus und ließ sich von der salzigen Brise umwehen. Das Sonnenlicht schillerte auf dem Wasser wie in Glasscherben. Über seinem Kopf rauschte etwas, und als er aufsah, entdeckte er einen Schwarm Watvögel, die im Kreis flogen und sich dann wieder dicht zusammendrängten, als würde Rauch in ein Abzugsloch zurückgesaugt. Ein Falke stieß hernieder und schwang sich wieder in die Lüfte, blickte über die Schulter und kippte in den nächsten Sturzflug. Erneut wich der Vogelschwarm aus und schloss sich mit sanftem Flügelrauschen neu zusammen. Der Falke suchte eine Stelle, an der er in den Schwarm stoßen konnte, und die Watvögel drehten im Flug ab und änderten ihre Richtung, sodass sie in einem Moment wie eine schwarze Wolke am Himmel standen und im nächsten vor dem gleißenden Meer beinahe unsichtbar wurden.

Dann breitete der Falke die Flügel aus und segelte zu einem gebleichten, hochaufragenden Stück Treibholz hinunter, auf dem er sich putzte und sein Gefieder aufschüttelte, bevor er in niedrigem Flug übers Meer verschwand.

Als sich Wayland umdrehte, stand ein Mädchen vor ihm auf der Wiese. Es hatte langes, blondes Haar, das die Sonne im Gegenlicht aufleuchten ließ. Waylands Eingeweide zogen sich zusammen. Er beschirmte seine Augen und sah, dass der Hund auf das Mädchen zurannte.

«Nein!»

Der Hund blieb überrascht stehen. Unsicher mit dem Schwanz wedelnd, sah er zu Wayland zurück. Wayland hastete zu ihm und hielt ihn fest. Sein Herz raste. Das Mädchen beobachtete ihn mit Augen, die so klar waren wie Wasser.

«Warum siehst du mich so an?», fragte das Mädchen.

Wayland fuhr sich mit der Hand über die Augen. «Es ist nichts. Ich dachte, du wärst … Es ist unwichtig.»

«Das ist der größte Hund, den ich je gesehen habe. Kann ich ihn streicheln?»

«Das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Man weiß nie, wie er auf Fremde reagiert.»

Doch da riss sich der Hund los, stellte sich auf die Hinterbeine und legte dem Mädchen die Pfoten auf die Schultern, sodass es rücklings umfiel. Das Mädchen lachte und schob den Hund weg. Er ließ sich auf die Seite rollen und wand sich wie ein Welpe. Das Mädchen kniete sich hin und kitzelte ihn an der Brust. Dann sah es auf und strich sich dabei eine Haarsträhne aus dem Gesicht. In Wayland schien etwas zu zerbrechen.

«Er mag mich.»

«Du erinnerst ihn an jemanden.»

«Wie heißt er?»

«Er hat keinen Namen. Ich bin nie dazu gekommen, einen für ihn auszusuchen.»

«Das ist dumm. Alle Hunde haben einen Namen. Wie die Menschen. Ich heiße Syth. Und du?»

«Wayland.»

«Du redest komisch. Wo wohnst du?»

«Nirgendwo. Ich komme aus Northumbrien.»

«Ist das weit weg?»

«Ja.»

«Ich kenne keinen Ort, der weiter weg ist als Lynn. Außer dem Himmel. Suchst du Snorri?»

«Das kommt darauf an. Hat er ein Schiff?»

«Nein, nur einen kleinen Stechkahn.»

Abgesehen von dem blonden Haar und den großen hellen Augen, hatte das Mädchen kaum Ähnlichkeit mit Waylands Schwester. Syth war so mager, dass er sie beinahe für ein Hungerleiderkind gehalten hätte, doch in Wahrheit konnte sie kaum jünger sein als er selbst. Ihr fadenscheiniges Gewand war am Halsausschnitt eingerissen, sodass eine ihrer blassen schmutzigen Brüste beinahe vollständig entblößt war.

Sie verschränkte die Arme und packte ihre knochigen weißen Schultern mit den Händen. «Du starrst mich dauernd an. Das ist unanständig.»

«Es tut mir leid.»

«Ich verzeihe dir.»

«Was?»

«Ich verzeihe dir.»

Plötzlich wurde er von Trauer überwältigt. «Ich muss gehen», sagte er. «Wo ist der kürzeste Weg nach Lynn?»

Sie antwortete nicht.

«Macht nichts. Ich finde auch so hin.» Er bohrte die Spitze seines Schuhs in die Erde. «Na dann.»

«Ich habe sein Schiff noch nie gesehen. Er hat es im Marschland versteckt.»

Wayland sah zu dem schwankenden Schilf hinüber. «Weißt du, wann er zurückkommt?»

«Bald. Er ist fischen. Er ist schon seit heute früh weg.»

«Wie ist er?»

«Ekelhaft.»

Wayland setzte sich auf den Boden. Das Mädchen setzte sich auch. Sie betrachteten einander. Wayland brach ein Gebäckstück in zwei Hälften. «Wie heißt du noch mal?»

«Syth. Das habe ich dir schon gesagt. Du solltest besser aufpassen.»

Er unterdrückte ein Lächeln. Das hatte allerdings sehr nach seiner Schwester geklungen.

Sie nahm das Gebäckstück in beide Hände und schlang es, gelegentlich zu ihm hinüberblickend, wie ein Tier hinunter. Sie war so schmal, dass er glaubte, ihre Knochen durch die Haut schimmern zu sehen. Er gab ihr seine eigene Hälfte des Gebäcks. «Ich habe schon gegessen», sagte er und stand auf, um aufs Meer hinauszusehen.

«Da kommt er.»

Vom Marschland her stakte sich ein Mann einhändig heran, die Stake an der Brust und dem Stumpf seines anderen Arms abgestützt. Seine Stirn war entstellt – eine Verbrennung war bis auf den Knochen gedrungen. Er war eine hässliche Erscheinung mit gedrungenem Körperbau, fliehendem Kinn und einem spärlichen, mit Essensresten und Rotz verklebten Bart.

Er ging an Land, band den Kahn fest und hob einen Binsenkorb heraus. Ohne Wayland zu beachten, griff er in den Korb, zog einen riesigen Aal heraus und ließ ihn vor dem Mädchen baumeln. Ein sich windendes, schwarz-bronzefarbenes Durcheinander füllte den Korb zur Hälfte.

«Das sind mal ein paar Schönheiten, was? Hab einen Ertrunkenen im Graben gefunden, den hab ich ihnen hingeworfen, damit sie sich fett fressen. Haben ihn in einer Nacht bis auf die Knochen blankgeknabbert. Die verkauf ich in Norwich. Die Normannen mögen Aal. Werd ihnen nicht erzählen, wie sie so dick geworden sind.» Er sprach in einer merkwürdigen Mischung aus Nordisch und einem Dialekt aus der Gegend, der klang, als würde jemand durch schmatzenden Schlick waten.

Wayland trat vor ihn. «Wie ich höre, bist du ein Schiffsmeister.»

«Haben sich schon ne Menge Fremde in den Marschen verirrt», sagte Snorri mit erhobener Stimme. «Stimmt doch, Schätzchen, oder?»

«Wir wollen das Schiff mieten.»

Snorri deutete auf seinen Kahn. «Die kleine Nussschale. Kauft euch selber eins. Das da brauch ich zum Fischen.»

«Ich rede von der Knarr, mit der du von Norwegen hierhergesegelt bist.»

Snorri lachte schnarrend. Mit ausgebreiteten Armen drehte er sich im Kreis. «Siehst du hier irgendwo eine Knarr?»

«Ich meine die Knarr, die du in den Marschen versteckt hast.»

Snorri warf einen finsteren Blick auf das Mädchen. «Kannst dich ja danach umsehn, wenn du willst. Von mir aus das ganze Jahr. Aber ich will keine Klagen hören, wenn dir was passiert. Die Marschen und ihre Wasserläufe sind nichts für Leute, die nicht damit geboren und aufgewachsen sind.»

«Wir bezahlen dich dafür.»

Zum ersten Mal sah Snorri Wayland direkt an. «Verzieh dich. Du hast doch sowieso nichts außer den Hosen über deinem blanken Hintern.»

Wayland zog die Schnur des Beutels auf, sodass schimmerndes Silber sichtbar wurde. Snorri fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Wayland zog den Beutel wieder zu.

«Zeig mir das noch mal.»

Wayland steckte den Beutel weg.

Snorri grinste anzüglich. «Ich verkauf dir das Mädchen, wenn du scharf auf sie bist. Würde ’ne hübsche Mutter abgeben. Und ’ne gute Frau.»

Wayland warf dem Mädchen einen Blick zu. «Sie gehört dir nicht. Du kannst sie nicht verkaufen.»

«Hat doch sonst keinen. Die ganze Familie ist tot. Wenn ich nicht so ein Menschenfreund wär, läg sie auch schon unter der Erde. Hab dich nicht so. Sie ist noch Jungfrau, soweit ich weiß. Hütet hier mein Haus. Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht wüsste, wie sie einen Kerl um den Verstand bringt.» Er ließ seinen Armstumpf auf- und niederfahren. «Sie ist meine rechte Hand, wenn du verstehst, was ich meine.»

Das Mädchen raffte sein fadenscheiniges Gewand zusammen und lief weg.

«Die kommt wieder», sagte Snorri. «Kann ja sonst nirgends hin.»

Wayland kämpfte den Drang nieder, den Mann zu erwürgen. Der Hund fletschte drohend die Zähne. «Ich habe kein Interesse an dem Mädchen.»

«Wenn ihr so dringend ein Schiff braucht, wieso mietet ihr dann keins in Norwich oder Lowestoft?»

«Komm», sagte Wayland zu dem Hund.

«Wo willst du denn jetzt hin?»

Wayland wedelte unbestimmt mit der Hand und ging.

Er hörte hastige Schritte hinter sich. Snorri zupfte ihn am Ellbogen. «Ich will dieses Silber prüfen.»

Wayland hielt ihm eine Münze hin. Snorri grabschte danach, leckte daran, biss darauf und schloss die Augen wie ein Feinschmecker, der eine Delikatesse verzehrt. Wayland nahm ihm die Münze wieder aus der Hand.

«Zufrieden?»

«Deutsch. Davon kann man nie genug haben.»

«Hast du nun ein Schiff oder nicht?»

«Komm mit, Meister, dann sehen wir, was Snorri anzubieten hat.»

Er stieg auf den Kahn und streckte Wayland die Hand hin. Wayland stieg ohne seine Hilfe ein. Snorri stieß den Kahn vom Ufer ab.

«Die Leute sagen, ich wär nicht ganz richtig im Kopf, aber das is mir egal. Tatsache ist, dass ich den Scharfsinn eines Mannes danach beurteile, für wie dumm er mich hält. Snorri Snorrason lässt sich nämlich nich austricksen. In den Marschen ist Snorri König. Wenn mir was passiert, findest du nie im Leben allein hier raus.»

Wayland sah ihn über ein Messer streichen, dessen Klinge bis auf einen schmalen, spitzen Metallgrat abgenutzt und heruntergeschliffen war.

Snorri kicherte. «Ich mach dich nervös, stimmt’s? Wirst ganz zappelig.»

«Wirf mal einen Blick auf den Hund. Los, sieh ihn an.»

Snorri schaute auf den Hund. Sein Grinsen erstarrte.

«Wenn hier einer nervös ist, dann ist es der Hund. Wie du gesagt hast, allein kommst du hier nicht raus.»

Snorri steuerte von dem breiten Flussarm weg in ein sumpfiges Dickicht. Manche Wasserläufe waren so breit wie Felder, andere fast schmaler als der Stechkahn. Wayland und der Hund saßen im Bug und bewunderten die üppige Tierwelt. Riesige schwarze Blesshuhnschwärme flüchteten über die Gewässer wie panische Mönche. Enten drängten sich auf den Sandbänken zusammen. Gänsescharen rauschten über sie hinweg. Vögel, deren Wuchs und Gefieder Wayland noch nie zuvor gesehen hatte, stelzten und gackelten im Schilf.

Snorri zeigte grinsend seine gelblichen Zähne. «Weißt schon nicht mehr, wo du bist, stimmt’s?»

Wayland sah sich um. Sie befanden sich mitten in einem Gewirr aus Wasserläufen und Meeresarmen. Auch die Sonne half wenig bei der Bestimmung der Richtung, in die sie fuhren. Einmal hatte er sie vor sich, und in der nächsten Minute schien sie von der Seite auf den Kahn. Als er sich umdrehte, konnte er nicht einmal sagen, auf welchem Wasserlauf sie gerade eben noch gefahren waren.

«Habe fünf Jahre gebraucht, um den Weg hin und zurück zu finden, ohne mich zu verirren. Und auch das nur, weil ich bei einem Mann in die Lehre gegangen bin, dessen Leute in diesen Marschen gelebt haben, seit sie nach der Sintflut hier gestrandet sind. Er hatte sechs Schwimmzehen an jedem Fuß, und das ist wahr. Hat mir alles beigebracht, was er wusste.» Snorri tippte sich an die Schläfe. «Alles hier drin. Schilder oder Wegmarken gibt’s hier keine. Die Wasserläufe ändern sich von Jahr zu Jahr, von Sturm zu Sturm.»

«Ich habe gehört, du hast bei Stamford Bridge gekämpft.»

Darauf sagte Snorri nichts, und nach einer Weile wartete Wayland nicht mehr auf eine Antwort.

Schließlich sagte Snorri: «Zweihundert Schiffe waren von Norwegen gekommen, und als der Kampf vorbei war, konnten nur noch dreißig heimsegeln. Auf dem Rückzug hab ich meinen Arm verloren, und die beiden, mit denen ich zusammen war, hatten noch schwerere Verletzungen. Der eine hatte seine eigenen Därme auf dem Schoß liegen. Die zwei waren noch am selben Tag tot, und die Segler waren verschwunden. Auch wenn ich noch beide Arme gehabt hätte, kein Mann kann allein nach Norwegen rudern. Drei Tage lang hat der Wind mich vor sich hergetrieben, und am vierten Tag bin ich hier angeschwemmt worden. So hat mich mein Meister gefunden.»

«Hat er dir das Brandzeichen auf die Stirn gemacht?»

Snorri fasste sich an die Stirn. «Das ist eine Lüge. Das ist in der Schlacht passiert.»

Vor sich hin murrend stakte er weiter. Sie kamen aus einem Wasserlauf zu einem See, wo ihr Erscheinen einen Reiher aufschreckte, der sich flügelklatschend in die Lüfte hob. Snorri hörte auf zu staken. Der Kahn glitt übers Wasser, bis er am Ufer auf Grund lief. Die kleinen Riffelwellen legten sich.

Vorsichtig stieg Wayland auf das schwammige Uferland. Snorri zog den Kahn aus dem Wasser und führte Wayland zu einem Schilfdickicht. Kurz davor blieb er stehen.

«Ich sehe nirgends ein Schiff», sagte Wayland.

«Sollst du ja auch nicht.»

Wayland musterte die Umgebung erneut.

«Es liegt genau vor dir», sagte Snorri. Dann packte er das Schilfdickicht und zog daran. Eine sechs Fuß breite Öffnung tat sich auf, und Wayland hatte einen Abschnitt Klinkerbeplankung vor sich.

«Das ist sie. Die Shearwater. Mein Seebezwinger, mein Wellenreiter.»

«Sie ist ein Wrack.»

Snorri wurde wütend. «Sie ist nicht einmal sieben Jahre alt.» Er klopfte an den Schiffsrumpf. «Hörst du das? Eiche. Kernholz. Kein einziger Wurm drin. Und sieh dir das mal an», sagte er und deutete auf den Vordersteven. «Der stammt von einem Schiff, das unter Knut mit einer Flotte nach Norwegen gesegelt ist. Aus einem einzigen Stamm gehauen. Was sagst du dazu?»

«Mein Großvater hat mit Knut gekämpft.»

Snorri betrachtete ihn. «Könnte sein, dass du einen Tropfen Wikingerblut in dir hast.» Er strich über die Nieten, von denen die Planken zusammengehalten wurden. «Hat mein Onkel geschmiedet, war der geschickteste Schmied in ganz Hordaland. Und hier», sagte er, beugte sich über das Dollbord und deutete auf die Verbindung zwischen den Planken und den unterhalb der Wasserlinie gelegenen Spanten. «Das ist kein billiger Fichtenwurzelbast. Das ist Walbein.»

Wayland schwang sich an Deck. Das Schiff war wesentlich größer, als er erwartet hatte. «Es hat ein Loch.»

«Klar hat sie ein Loch. Wenn sie unbeschädigt wäre, säße ich jetzt mit meinen Freunden daheim in Hordaland beim Ale.»

Das Schiff lag mit Schlagseite in einem versandeten Wasserlauf. Wayland blickte zu dem See zurück. «Die bringst du nie wieder hier weg. Das Wasser ist zu flach.»

«Nicht flacher als an dem Tag, an dem ich sie hierhergeschafft habe. Sie hat ohne Ladung weniger als zwei Fuß Tiefgang. Davon abgesehen schaust du in die falsche Richtung.» Snorri deutete mit seinem Armstumpf auf die gegenüberliegende Seite. «Der Fluss liegt nur ein klitzekleines Stück weiter da vorne.»

«Wie viele Männer brauchst du zum Rudern?»

«Oje, o weh, dieser Mann hat nicht die blasseste Ahnung von Schiffen. Das ist ein Segelschiff, du Holzkopf. Bei günstigem Wind kann ich ganz allein bis nach Norwegen segeln.»

«Und wenn der Wind nicht günstig ist?»

«Zur Not vier Ruderer, sechs wären besser. Über acht würde ich mich auch nicht beschweren.»

«Kann man das Schiff reparieren?»

Snorri strich stolz über den Rumpf. «Ein Schiff, das so gut gebaut ist wie meine Shearwater verkraftet eine Menge, bevor es nicht mehr seetüchtig ist. Sie heilt beinahe von selbst, genau wie ein lebendes Wesen.»

«Und wie lange dauert die Reparatur?»

«Immer langsam. So weit sind wir noch lange nicht.»

«Sag mir einfach, was getan werden muss.»

Snorri zwirbelte seinen schmutzigen Bart. «Erst mal braucht man Eichenholz für die neuen Planken. Und zwar nicht irgendeine alte Eiche, sondern einen Baum, der zweihundert Jahre lang auf Lehmgrund gewachsen ist und dessen Holz grün gespalten wurde. Außerdem müssen die Plankenverbindungen mit ölbehandelten Nieten gemacht werden, die bei schwerer See etwas nachgeben. Ein Schiff ist wie ein Pferd. Du willst, dass es dir gehorcht, egal, wie anstrengend der Ritt ist. Außerdem wär ein neues Segel aus dichtgewebter Wolle oder Leinen nötig. Es gibt guten Flachs aus Suffolk, aber die Wolle aus Norfolk ist haltbarer. Man müsste die Kalfaterung überprüfen, und dann noch …»

«Wie viel?»

Snorri saugte schmatzend Spucke zwischen seinen Zahnlücken an. «Material und Arbeit, damit wärst du so bei sechzehn Pfund.»

«Sei still.»

Snorri zuckte zusammen. «Es käme natürlich darauf an, wohin du willst. Aber wenn’s übers Meer gehen soll, bringt es nichts, an allen Ecken und Enden zu sparen. Diese Pennies bereust du, sobald es ein bisschen Seegang gibt. Aber wenn du nur an der Küste entlang willst, ginge es vielleicht auch mit Kiefernplanken, und …»

«Ich habe gesagt, sei still.»

Der Hund hatte die Ohren aufgestellt.

«Das ist nur ein Moorochse», sagte Snorri. «Eine Menge Sumpfvögel hören sich beinahe menschlich an. Aber ich sag dir, es gibt Stellen, um die sogar Snorri Snorrason nach dem Dunkelwerden einen Bogen macht, wo die Seelen irrlichtern und der Laternenmann unterwegs ist.»

«Bring mich zurück.»

Nun hörte auch Snorri die Rufe. «Du hast nicht gesagt, dass du noch mehr Fremde mitgebracht hast.»

Drei Männer warteten bei Snorris Hütte – Hero, Richard und ein stämmiger, bärtiger Mann, den sie als Führer angeheuert haben mussten.

Hero war in Weltuntergangsstimmung. «Wir sind am Ende», sagte er. «Vallon ist festgenommen worden. Und Raul auch.»

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