XII

Richard erzählte hastig und aufgeregt, was geschehen war. «Gestern Mittag wollten wir das Geld holen. Aaron war verunsichert, er wollte uns nicht hereinlassen. Man hatte Erkundigungen über uns eingeholt. Die Abmachung war hinfällig. Vallon hat sich ins Haus gedrängt, sein Schwert gezogen, und zu Aaron gesagt, er würde ihn zur Hölle fahren lassen, wenn er das Geld nicht herausgäbe. Sobald wir es hatten, sind wir zu unserem Haus zurück. Dort hat Raul auf uns gewartet. Er sagte, die Soldaten würden Straße für Straße die ganze Stadt durchkämmen. Vallon hat das Geld unter einem Misthaufen hinter dem Haus vergraben, als sie in unserer Straße auftauchten. Sie haben das Tor aufgebrochen. Raul wollte sie nicht hereinlassen. Sie haben ihn gnadenlos zusammengeschlagen. Sie hätten ihn umgebracht, wenn ich nicht gesagt hätte, dass ich Graf Olbecs Sohn bin. Es waren dieselben, die Vallon und Raul am Stadttor angehalten hatten. Der Unteroffizier gab als Grund für die Verhaftung an, Drogo habe geschworen, dass sie Mörder sind. Außerdem wollten sie wissen, wo du bist, Wayland. Ich habe ihnen erklärt, dass wir dich seit dem Tag, an dem wir aus der Burg verschwunden sind, nicht mehr gesehen haben und dass sich Hero vor ein paar Tagen von unserer Gruppe getrennt hat.»

«Von dem Geldverleiher wissen sie nichts», fügte Hero hinzu. «Richard hat ihnen nur gesagt, dass er in Lady Margarets Auftrag Geschäfte zu erledigen hat.»

«Ich habe ihnen ihre Briefe gezeigt», sagte Richard, «aber das hat nichts geholfen. Es ist eine Belohnung ausgesetzt. Der Unteroffizier wird Vallon und Raul festhalten, bis Drogo eintrifft.»

«Er ist in Lincoln», sagte Hero. «Die Boten können ihn frühestens morgen erreichen, aber dann wird er augenblicklich nach Norwich reiten. Wir haben also weniger als zwei Tage, um sie zur retten.»

Richard knetete verzweifelt seine Hände. «Wir bekommen sie dort nie heraus. Sie werden Tag und Nacht bewacht.»

«Sie sind nicht in der Burg», sagte Hero. «Sie sind in dem Turm über dem Westtor. Die Soldaten wollen die Belohnung natürlich selbst einstreichen.»

«Das macht überhaupt keinen Unterschied», sagte Richard. «Sie wurden in eine Zelle im obersten Stockwerk gesperrt. Raul liegt sogar in Ketten. Die Wachen haben mich hinaufgeführt, weil ich sie sehen wollte.»

Hero setzte sich auf den Boden. Stille breitete sich aus. Dann sagte er: «Wenn wir das Geld holen, können wir sie bestechen.»

Richard schüttelte den Kopf. «Drogo lässt sie vierteilen, wenn sie Vallon gehen lassen.»

«Und wenn wir sie ablenken? Wenn wir irgendein Spektakel veranstalten, um die Soldaten aus dem Turm zu locken?»

«Und was zum Beispiel?»

«Ich weiß nicht. Vielleicht könnten wir ein Feuer legen.»

«Das ist lächerlich.»

«Schon gut.»

Hero platzierte seine Fäuste auf den angezogenen Knien und legte den Kopf darauf. Wieder legte sich Stille über die Gruppe.

«Hero?»

«Ich denke nach.»

Endlich hob er den Kopf. «Und von dem Gasthaus, in dem Wayland und Raul übernachtet haben, wissen sie nichts?»

«Sie werden bald davon erfahren, so wie sich Raul dort aufgeführt hat.»

Hero stand auf und ging ein paar Schritte auf und ab, wobei er die rechte Faust in die linke Handfläche schlug. «Beschreib mir den Turm.»

Der Torweg führt darunter durch. Auf der einen Seite schließt sich ein Stallgebäude an, auf der anderen liegt der Wachraum mit den Treppen zum Turm.»

«Wie viele Stockwerke hat er?»

«Oberhalb des Tors drei, glaube ich. Ja, drei.»

«Und wie viele Soldaten sind dort?»

«Acht – vier haben Tordienst, die anderen bewachen die Gefangenen.»

«Und du bist sicher, dass sie dir nicht gefolgt sind?»

«Ganz sicher. Ich habe ihnen erzählt, ich würde nach Lincoln reiten, um die Angelegenheit mit Drogo zu klären. Ich bin geritten, bis es zu dunkel wurde, um die Straße zu erkennen.» Richard begann zu zittern.

«Wir oft haben sie Wachwechsel?»

«Das weiß ich nicht. Bei uns auf der Burg findet alle vier Stunden eine Ablösung statt.»

«Was ist das Leibgericht der Normannen?»

Richard sah ihn misstrauisch an. «Was hat das damit zu tun?»

Wayland stand auf, klopfte sich den Staub von der Hose, und ging zu Snorris Hütte hinüber. Er schob die schmierige Tierhaut beiseite, die als Tür diente, und ging hinein.

«Wir müssen zurück nach Norwich», sagte Hero.

Richard sah vollkommen erschöpft aus. «Ich kann unmöglich noch reiten. Ich habe letzte Nacht kein Auge zugetan.»

«Du nicht. Du bleibst hier.»

Wayland tauchte mit einem geflochtenen Fischkorb wieder aus der Hütte auf. Er stellte den Korb vor Hero auf den Boden und nahm den Deckel ab.

Hero zuckte zurück. «Wozu sollen die gut sein?»

«Du hast gesagt, du wolltest Essen», sagte Wayland.

Hero starrte ihn an, sein Blick zuckte kurz zu Richard und kehrte dann wieder zu Wayland zurück. Er war fassungslos. «Du sprichst ja. Wie …? Was …?»

Wayland sah zum Ufer hinunter. Syth war verschwunden. Er lächelte. «Mir ist ein Engel begegnet.»

Sie ritten über Nacht, und als sie vor Norwich ankamen, war es noch dunkel. Frierend dösten sie in den Sätteln, bis sich die Silhouette der Stadt langsam gegen den heller werdenden Morgenhimmel abzeichnete. Aus niedrigen Wolken fiel Nieselregen. Sie warteten ab, bis das Westtor geöffnet wurde und die Straße etwas belebter war, bevor sie näher zum Tor ritten. Hero nahm den Turm genau in Augenschein. Ein viereckiger Bau mit Strohdach, die Balkenwände von Schießscharten durchbrochen. Schafe grasten vor dem Turm, doch nach der Sperrstunde wäre die Wiese leer. Hero hob den Blick zum Himmel und betete, dass das Wetter noch eine weitere Nacht so schlecht blieb.

Er drehte sich zu Wayland um. «Wenn es heute Abend dunkel geworden ist, gehe ich bei der ersten Wachablösung in den Turm. Es könnte eine Weile dauern, bis ich Gelegenheit habe, euch ein Signal zu geben.»

Sie zogen sich in ein nahe gelegenes Wäldchen zurück. Wayland legte den Maultieren Fußfesseln an und ließ den Hund zur Bewachung zurück. Dann schlugen Hero und er einen Bogen um die Stadt und näherten sich ihr vom nördlichen Tor her. Im Durchgang riefen Hökerer ihre Ware aus. Zwei Wachen bemannten das Tor. Sie scherzten gerade mit zwei englischen Mädchen.

Wayland sah Hero an. «Bereit?»

Hero tat so, als müsse er gelangweilt gähnen. «Schon lange.»

Zuerst sah es so aus, als würden sie ganz unbehelligt durchkommen. Doch dann gestikulierte eines der englischen Mädchen herum, unwillkürlich folgte ein Wachmann ihrer Geste mit dem Blick und bemerkte Hero. Er sah ihn direkt an.

«Einfach weitergehen», sagte Wayland.

«Sie werden mich anhalten. Ich weiß es.»

«Gib mir die Aale, und bleib drei oder vier Schritte hinter mir.»

Ein Liedchen pfeifend ging Wayland voraus. Der Soldat beachtete ihn nicht. Er wandte sich von den Mädchen ab und wollte Hero gerade anhalten, als Wayland stolperte, sodass der Korb mit den Aalen zu Boden fiel. Die Hälfte der Aale rutschte heraus und die anderen wanden sich, um ebenfalls aus dem Korb zu gelangen. Ein altes Weib, das Amulette verkaufte, begann zu schreien und klammerte sich an seinen Stuhl. Ein Verkäufer von Palmblatt-Kreuzen schwenkte eines in jeder Hand, als wolle er mit den christlichen Symbolen Unheil abwehren. Die Mädchen kreischten und warfen sich in die Arme der Soldaten. Ein mit Tontöpfen beladenes Maultier scheute und stieß gegen eine Schubkarre, auf der Osterbrötchen aufgetürmt waren.

Wayland hastete mit wildem Geschrei in dem Durcheinander herum. «Meine teuren Aale! Helft mir, gute Leute. Mir geht eine Woche Arbeit verloren.»

Mit einem Mal tauchte ein schmuddeliger Junge auf, dessen Haut von Geschwüren überzogen war, schnappte sich einen der Aale und rannte mit ihm weg. Dann wagten sich Gassenjungen vor und begannen, Brötchen in ihre Taschen zu stecken. Die Wachen unternahmen zwar nichts gegen Wayland, aber sie halfen ihm auch nicht. Stattdessen bogen sie sich vor Lachen und schlugen sich feixend auf die Schultern. Bis Wayland den letzten Aal eingesammelt hatte, war Hero längst in der Stadt.

Sie trafen sich beim White Hart.

«Dein Essen ist heute Abend fertig», sagte Wayland. «Gib der Dame einen Penny für ihre Mühe.»

«Gehen wir noch einmal durch, was du zu tun hast.»

Wayland seufzte. Sie hatten den Plan schon ein Dutzend Mal durchgesprochen. «Ich schleiche mich ins Haus und hole den Kasten. Ich kaufe eine schwere Axt und ein dickes Hanfseil.»

«Von mindestens dreißig Schritt Länge.»

«Ich verlasse die Stadt durch dasselbe Tor, durch das wir hereingekommen sind …», Wayland hielt inne. «Die Wachen werden sich vielleicht darüber wundern, dass ich mit Aalen in die Stadt gekommen bin und mit Tauwerk wieder gehe.»

«Nein, das werden sie nicht. Du bist ein Fischer, der seinen Fang gegen Takelzeug eingetauscht hat.»

«Bis sie in den Kasten schauen.»

«Kauf ein Netz, um das Silber einzuwickeln.»

«Dann gehe ich zu unserem Versteck vor dem Westtor. Dort warte ich. Und wie lange soll ich warten?»

«Wenn wir bei Sonnenaufgang nicht da sind, musst du mit dem Schlimmsten rechnen.»

Wayland sah ihn an. Hero versuchte ein Lächeln. «Willst du mir denn kein Glück wünschen?»

Linkisch streckte Wayland die Hand aus.

Hero saß in seinem Zimmer im Gasthaus und zupfte den Saum seines Gewandes auf. Dann wickelte er ein langes Stück Schnur in den Saum und nähte ihn wieder fest. Es war eine entnervende, knifflige Arbeit, doch als er sie beendet hatte, war es dennoch erst früher Nachmittag. Er streckte sich auf dem Bett aus, konnte sich jedoch nicht entspannen. Immer wieder stand er auf und schlich zur Tür, weil er sich einbildete, verstohlene Schritte auf der Treppe gehört zu haben. Es war beinahe eine Erleichterung, als er die Vesperglocke läuten hörte. Er verließ das Gasthaus, ging durch die dämmrigen Straßen Richtung Westtor und beobachtete die Wächter, bis einer von ihnen mit einem Gong die Sperrstunde einläutete. Ein paar Zuspätkommer hasteten durch das Stadttor, die Schritte des letzten beschleunigte der Wachmann noch durch einen Fußtritt, dann zogen die Wachleute die Doppelflügel des Tores zu und verriegelten es mit einem Balken. Anschließend verschwanden sie in der Wachstube, und wenig später kam die Ablösung heraus.

Hero kehrte in das Gasthaus zurück und holte den Korb mit dem frisch gekochten Essen und einen Lederschlauch voll Wein. Als er wieder zum Wachturm kam, waren die Straßen der Stadt dunkel und beinahe menschenleer. Fackeln brannten zu beiden Seiten des Tores. Einer der Wachmänner lehnte an der Tür zur Wachstube und sog an einem Zahnstocher. Die anderen drei saßen drinnen beim Würfelspiel um eine Kohlenpfanne.

Hero atmete ein paarmal tief durch und ging dann mit entschlossenem Schritt zum Tor. «Wird hier Vallon der Franke festgehalten?»

Der Wachmann nahm den Zahnstocher aus dem Mund. «Wer will das wissen?»

«Ich bin Hero, sein Diener. Warum habt ihr ihn festgenommen?»

Der Wachmann drehte sich zu seinen Gefährten um und sagte: «Hol mal einer den Unteroffizier.»

Kurz darauf hastete der Unteroffizier die Treppe herunter. Sein Gesicht war rot vor Wut, eine Seite seines Kinns blutunterlaufen und angeschwollen. «Wo hast du dich versteckt?»

«Ich war im Auftrag meines Herrn unterwegs. Ich bin erst heute Abend zurückgekommen. Sobald ich erfahren habe, dass er verhaftet wurde, bin ich hierhergekommen.»

«Was für ein Auftrag war das?»

«Das ist vertraulich.»

Der Unteroffizier packte Hero am Hals. «Was für ein Auftrag?»

«Für Lady Margaret. Mehr darf ich dazu nicht sagen.»

«Immer mit der Ruhe, Meister», sagte einer der Soldaten.

Der Unteroffizier ließ ihn los. Hero massierte sich die Kehle. «Welche Anklage wird gegen meinen Herrn erhoben?»

Der Unteroffizier baute sich dicht vor ihm auf. «Spiel mir hier nicht das Unschuldslamm vor, verdammt noch mal. Es geht um Mord, die Anklage wurde von einem Richter in Durham bestätigt.»

«Mord? Das ist lächerlich. Wer wurde denn ermordet?»

Einer der Soldaten trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. «Ich weiß nicht recht. Er benimmt sich nicht wie ein Mann, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt ist. Und diese Papiere von Olbecs Frau sehen echt aus. Ich habe mit Drogo auf dem Schlachtfeld gestanden. Ein guter Kämpfer, den man gern an seiner Seite hat, wenn es brenzlig wird, aber auch ein Hitzkopf, der ständig Streit sucht. Das Ganze könnte auch nur eine Familienfehde sein.»

«Das macht überhaupt keinen Unterschied, zum Teufel! Der Franke hat sich als Beauftragter des Königs ausgegeben. Hat hier den großen Herrn gespielt und sich mit gefälschten Dokumenten an mir vorbeigeschummelt. An mir! Das kann keiner mit mir machen!» Er trat an Heros Korb. «Was ist da drin?»

«Das Abendessen für meinen Herrn.» Mit zitternden Fingern zog Hero das Leintuch weg, das über dem Korb lag, und zog es durch seinen Gürtel.

Der Unteroffizier schnupperte. «Das ist viel zu gut für diese Dreckskerle.» Dann zog er den Weinschlauch aus dem Korb.

«Das ist für den Deutschen. Er bekommt immer schlechte Laune, wenn er zu lange nichts zu trinken hat.»

Der Unteroffizier verzog das Gesicht. «Siehst du das hier? Das war der Deutsche. Hat mir beinahe den Kiefer gebrochen. Den stell ich an die Geißelsäule. Und ich peitsche ihn höchstpersönlich aus. Von seiner Haut wird nicht viel übrig bleiben. Ich will sein nacktes Rückgrat vor mir sehen, verflucht.»

Hero konnte vor Angst kaum sprechen. «Er hat nur seine Aufgabe erfüllt. Wenn er etwas Strafbares getan hat, bezahlen wir das Bußgeld. Ihr braucht wegen Eures Schadens keine Beschwerde vor Gericht einzureichen.»

Ein Lächeln breitete sich über das Gesicht des Unteroffiziers aus. «Freunde, sieht so aus, als wäre hier noch einiges für uns drin.»

Einer der Soldaten steckte den Finger in den Eintopf und leckte ihn ab. «Mmm. Aalsuppe mit Pflaumen, wie meine Mutter sie gemacht hat.»

Der Unteroffizier schlug ihm auf die Hand. «Du bekommst deinen Anteil, wenn dein Dienst vorbei ist.» Dann nickte er den anderen Wachsoldaten zu. «Durchsucht ihn.»

Nach einer ruppigen Überprüfung traten die Wachen kopfschüttelnd zurück.

«Bringt ihn rauf.»

Zwei Soldaten packten Hero an den Armen und führten ihn die Treppe hinauf. Während er in das Turmgebäude stieg, versuchte er sich die Lage der Räume genau einzuprägen. Im ersten Stockwerk befanden sich ein Lagerraum und eine Waffenkammer. Bis er an den Schlafquartieren im zweiten Stockwerk vorbeikam, waren von unten keinerlei Geräusche mehr vernehmbar. Als der Unteroffizier die Tür zum obersten Stock aufzog, sah Hero als erstes Vallons Schwert und Rauls Armbrust. Sie lehnten an der Wand hinter einem Tisch, an dem die Wachen saßen, die gerade dienstfrei hatten. Vallon hockte auf einer Pritsche hinter eng gesetzten Stangen, die den Raum wie eine durchlässige Wand von der Decke bis zum Boden teilten. Raul lag wie eine bösartige Puppe in einer Ecke der Zelle, an Händen und Füßen an einen in die Wand eingelassenen Ring gekettet. Seine verschwollenen Augen waren nur noch Schlitze, und sein von Schlägen aufgedunsener Mund schien zu einem schrecklichen Lächeln verzerrt.

Vallon sprang auf und umklammerte mit beiden Händen die Stangen. «Es wird auch Zeit. Hast du für unsere Freilassung gesorgt?»

«Hört euch bloß den an», sagte der Unteroffizier. Er ging zu den Stangen. «Die einzige Freiheit, mit der du noch rechnen kannst, erwartet dich am Ende eines Stricks. Aber vorher spieße ich dich noch vom Arsch bis zu den Augen auf einen Stock. Noch eine Nacht, dann ist Drogo mit deinem rechtskräftigen Todesurteil hier. In der Zwischenzeit kannst du uns dabei zusehen, wie wir uns das Essen schmecken lassen, das dein Diener für dich gebracht hat.»

Vallon trat mit dem Fuß gegen die Stangen und wandte sich ab.

Der Unteroffizier fummelte an einem schweren Holzzapfen herum, der von einem groben Fallriegelschloss gesichert wurde. Dann zog er die Tür auf und schob Hero in die Zelle.

Vallon nahm seinen Arm. «Wie haben sie dich erwischt?»

«Das haben sie nicht. Ich habe mich freiwillig ergeben.»

Vallon zuckte zurück. «Das heißt die Treue wirklich zu weit treiben.»

«Nein, Herr. Ich bin gekommen, um Euch herauszuholen.»

«Und wie?»

«Ich habe etwas in den Wein gemischt.»

Sie beobachteten, wie sich die Soldaten an den Tisch setzten. Der Unteroffizier verteilte Suppe und schenkte Wein aus. Dann hob er seinen Becher in Richtung der Gefangenen. «Seid ihr sicher, dass ihr nichts davon haben wollt? Er schmeckt köstlich.»

«Uff. Dieser Wein hat’s wirklich in sich», sagte einer der Soldaten.

«Das ist das Lieblingsgetränk der Deutschen», sagte Hero. «Aber vielleicht ist es für Normannen zu stark.»

Einer der Wachmänner knurrte: «Ich kann jeden von diesen beschränkten Deutschen unter den Tisch trinken.»

«Ich habe ihn aber einmal zwei Schläuche an einem Abend leeren sehen.»

Vallon schubste Hero mit dem Fuß an, um ihn vor allzu viel Übertreibung zu warnen. «Was ist drin?», flüsterte er.

«Opium, Schafkraut und Alraune. Da ist ein Betäubungssaft, den die Wundärzte in Salerno verwenden.»

«Wie lange dauert es, bis die Wirkung einsetzt?»

«Das weiß ich nicht. Konstantinus hat es Cosmas gegen seine Brustschmerzen verschrieben – ein Löffel voll sollte ihm beim Einschlafen helfen.»

«Und wie viel davon hast du in den Wein gemischt?»

«Ungefähr einen Schoppen.»

Als die Soldaten mit dem Essen fertig waren, wirkten sie außerordentlich entspannt. Einer von ihnen gähnte. «Zeit, dass ich in die Falle komme», sagte er und taumelte zur Tür hinaus.

«Für mich auch», sagte ein anderer. Er stand auf und hielt sich am Tisch fest. Dann schaute er zur Tür, als wollte er ein Ziel anpeilen, stieß sich vom Tisch ab und torkelte in die falsche Richtung. «Hoppla.» Er korrigierte seinen Kurs und kreuzte zur Tür hinüber. «Hoppla.»

Als sie gegangen waren, legte der Unteroffizier ein Damebrett heraus. «Fünf Spiele. Der Gewinner kriegt einen Viertelpenny.»

Mitten im zweiten Spiel lachte sein Gegenspieler mit einem Mal kehlig auf und rieb sich die Augen. «Verflixt, dieser Wein steigt einem mächtig zu Kopf. Ich sehe schon zwei Spielbretter.» Blinzelnd saß er da, mehrmals sank ihm der Kopf auf die Brust, und er riss ihn wieder hoch, doch mit jedem Mal sackte der Mann tiefer und unausweichlicher Richtung Tischplatte, bis er schließlich darauf eingeschlafen war.

Der Atem des Unteroffiziers ging immer schwerer. Unter großer Anstrengung gelang es ihm, seinen Kopf zu wenden, zu spät dämmerte ihm die Erkenntnis. Fluchend versuchte er aufzustehen und wischte dabei die Essschalen vom Tisch. Fast hatte er es geschafft, auf die Füße zu kommen, als seine Beine nachgaben und er zusammenbrach. Sein Kopf schlug auf die Sitzbank, und er blieb als schlaffes Gliederbündel liegen.

«Allmächtiger», murmelte Vallon. «Und was jetzt?»

«Welche der Wände geht stadtauswärts?»

«Diese hier.»

Hero ging zu einer Schießscharte, zog das Leinentuch unter seinem Gürtel heraus, streckte den Arm durch die Schießscharte und begann mit dem Tuch zu wedeln.

«Ich weiß nicht, wie viel Zeit wir haben», sagte Vallon. «Die wachhabenden Soldaten kommen manchmal herauf.»

Hero legte den Finger auf die konzentriert zusammengepressten Lippen.

Von draußen war ein Fuchsschrei zu hören.

«Das ist Wayland. Er wartet unten mit einem Seil.»

Vallon betrachtete stirnrunzelnd die Schießscharte.

«Nein, nicht dort entlang», sagte Hero und hob den Daumen Richtung Dach.

Vallon lächelte. Dann ging er in die Hocke. «Auf meine Schulter.»

Er erhob sich, und Hero schlang seine Arme um einen der Dachbalken. Vallon schob ihn schwungvoll noch weiter hinauf, sodass Hero über dem Balken hing. Von dort zog er die Beine nach und stellte sich schwankend auf den Balken. Während er sich mit einer Hand an einem Dachsparren festhielt, schob er sich weiter nach rechts und begann die Latten herauszuzerren, zwischen denen das Stroh steckte.

Vallon versuchte zu dem Balken hochzuspringen, doch er erreichte ihn nicht. Raul stemmte sich mit den Füßen gegen die Wand und mühte sich, den Ring, in den seine Ketten eingehängt waren, aus der Wand zu zerren. Vallon kam ihm zu Hilfe. Mit einem knirschenden Geräusch löste sich der Ring aus der Wand. Raul legte seine gefesselten Hände zu einem Steigbügel zusammen und schob Vallon zu dem Balken hinauf. Dort riss er zusammen mit Hero so lange Latten von den Dachsparren und zog Dachstroh herunter, bis Hero spuckend und blinzelnd endlich den Himmel über sich sah.

«Weitermachen», sagte Vallon.

Sie vergrößerten das Loch in dem Strohdach weiter, bis sie ein gutes Stück zwischen den Dachsparren freigelegt hatten.

«Rück zur Seite», sagte Vallon.

Er ging auf dem Querbalken in die Hocke, schnellte durch das Loch in die Höhe und schlang rechts und links je einen Arm um nebeneinanderliegende Sparren. So hing er zappelnd da, keuchend vor Anstrengung, und zog sich schließlich durch die Öffnung ins Freie. Dann legte er sich auf das Dach, hielt sich mit einer Hand an einem Dachsparren fest und streckte Hero die andere entgegen.

«Gib mir deine Hand.»

Er erwischte Hero am Handgelenk und zog ihn nach oben. Hero bohrte seine Füße ins Dachstroh, bis er auf einen Balken traf, an dem er sich abstützen konnte. Nebeneinander saßen sie auf dem Dach und sahen über die Stadt hinweg. Der Himmel im Osten wurde heller. Mondlicht ließ die Ränder einer Wolkenbank leuchten. Von unten herauf hörten sie Wortfetzen und Gelächter.

Hero riss den Saum seines Gewandes auf und zog die Schnur heraus. Er band ein Bleigewicht an ein Ende und ließ sie in die Tiefe hinab. Als er schon begann, sich Sorgen darüber zu machen, ob er die Länge falsch berechnet hatte, spürte er, wie die Schnur schlaff wurde. Und einen Augenblick später spürte er, wie dreimal kurz daran gezogen wurde.

«Wayland hat die Schnur.»

«Gib sie mir.»

Vallon holte die Schnur ein, an deren Ende ein Seil über das Dach heraufkroch. Vallon rollte es neben sich auf. Nach einer Weile straffte sich das Seil, und von unten war ein dumpfer Stoß zu hören.

«Vorsichtig», sagte Hero. «Wayland hat eine Axt ans Ende gebunden.»

Vallon zog so behutsam weiter, als wäre die Axt ein Korb voll roher Eier. Doch dann spannte sich das Seil und bewegte sich nicht mehr. Vallon ließ locker und zog dann noch einmal. «Sie hat sich unter dem Dachvorsprung verfangen.» Er ruckelte an dem Seil, doch die Axt hing fest. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. «Halt das fest», sagte er und gab Hero das Seil. Dann nahm er das andere Ende des Seils und ließ sich durch das Loch im Dachstroh wieder hinunter. Er band es an dem Querbalken fest und ließ es ein Stück herunterhängen.

Dann zog er sich erneut auf das Dach hinaus, wartete ab, bis sich seine Atmung beruhigt hatte, und hangelte sich dann rückwärts an dem Seil über das Dach hinunter. Als er den Dachvorsprung erreicht hatte, beugte er sich halb liegend weit darüber hinaus und tastete nach der Axt.

«Lass ein bisschen locker.»

Hero gab ein bisschen nach.

«Ziehen.»

Hero zog, und die Axt glitt auf das Dach. Vallon kroch an dem Seil entlang wieder bis nach oben, band die Axt los und warf sie Raul hinunter, bevor er selbst erneut zu ihm abstieg. Das alles dauerte viel länger, als Hero erwartet hatte.

«Leg dich auf die Seite und streck die Arme aus», sagte Vallon keuchend zu Raul. Er hob die Axt, ließ sie niederfahren und zertrennte die Kette zwischen Rauls Händen und Füßen. «Und jetzt die an den Füßen», sagte er und schlug auch sie entzwei.

Von seinem Platz auf dem Dach aus konnte Hero einen Teil des Raumes sehen, der von der Zelle abgetrennt war. Ein Bein des Unteroffiziers befand sich in seinem Sichtfeld. Hero glaubte zu erkennen, dass sich das Bein bewegte. Als er gerade den Mund öffnen wollte, verstellte ihm Vallon die Sicht.

«Breite die Arme aus», sagte Vallon zu Raul. «Und rühr dich nicht.»

Die Axt fuhr nieder, und Raul sprang auf. Vallon wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn.

«Herr?»

Vallon sah zu Hero hinauf. «Was ist?»

«Der Unteroffizier. Ich sehe ihn nicht mehr.»

Vallon wirbelte herum und erstarrte. Raul wusste zunächst nicht, wohin er laufen sollte, und hastete schließlich zu dem herabhängenden Seil.

«Keine Zeit!», rief Vallon.

Raul hieb mit so mächtigen Axtschlägen auf das Schloss ein, dass der gesamte Turm zu erzittern schien.

«Schnell!»

Das Schloss splitterte, und Raul trat die Tür auf. Vallon und er rannten aus der Zelle und griffen sich ihre Waffen.

«Was ist mit mir?», schrie Hero.

«Klettere draußen am Turm hinunter. Warte nicht auf uns. Wenn du unten bist, mach, dass du wegkommst.»

Hero hörte ihre Schritte über die Treppe poltern. Entsetzt spähte er an dem steilen Dach hinunter. Er wusste, dass er nicht kräftig genug war, um den Abstieg ohne Hilfe zu schaffen. Aus dem Gebäude drang ein erstickter Schrei. Darauf folgte lange Stille. Dann hörte er jemanden vom Fuß des Turms aus in die Stadt rennen, verfolgt von wütendem Geklirr, bis auch diese beiden Geräusche erstarben. Irgendwo wurde ein Fensterladen geöffnet, und jemand rief etwas. Hero zögerte und verlor Zeit, bis er endlich einsah, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als ebenfalls die Treppe zu nehmen. Er ließ sich auf den Balken hinunter, schürfte sich die Hände auf und sprang auf den Boden der Zelle. Der Wächter, der beim Damespiel eingeschlafen war, lag noch immer über dem Tisch. Auf Zehenspitzen ging Hero zur Tür und spähte in das Schlafquartier der Soldaten. Die Treppe war verlassen, und zwei Wachmänner lagen im Betäubungsschlaf auf ihren Pritschen. Hero schlich Stufe für Stufe abwärts und tastete dabei mit einer Hand an der Wand entlang. Als er das Stockwerk darunter erreicht hatte, lauschte er mit klopfendem Herzen und ging dann durch die Tür. Auf dem Treppenabsatz unter ihm lag der Unteroffizier, Arme und Beine weit von sich gestreckt, den Kopf vom Scheitel bis zur Kehle gespalten. Unterhalb von ihm war ein Soldat halb enthauptet am Türpfosten zusammengesunken. Überall war Blut – die Wände bespritzt, Lachen auf dem Boden. Hero rutschte beinahe darin aus. Hinter der Tür saß ein weiterer Soldat und hielt sich den Bauch. Er lebte noch. Als er Hero sah, bewegten sich seine Lippen.

«Hilf mir.»

«Es tut mir leid», wimmerte Hero. «Es tut mir leid.»

Die Wachstube war leer, das Feuer in der Kohlenpfanne brannte, die Würfel lagen, wie sie beim letzten Wurf des Spiels gefallen waren. Einer der Soldaten lag bäuchlings draußen vor der Tür. Dann entdeckte Hero Vallon, der schwer atmend versuchte, den Balken zu heben, mit dem das Stadttor versperrt war. Er drehte sich um, sein Gesicht war mit Blut bespritzt. «Nimm das andere Ende.»

«Wo ist Raul?»

«Einer der Soldaten ist geflohen. Raul verfolgt ihn.»

Es gelang ihnen, den Balken zu heben. Vallon drückte die Torflügel auf. Hinter ihnen auf der Straße wurden Schritte hörbar, und er drehte sich mit gezogenem Schwert um. Doch es war Raul, der auf sie zukam. Er hielt sich die Seite, und immer noch hingen die Kettenstücke an seinen Armen und Beinen. «Hab ihn verloren», keuchte er.

Aus der Stadt erklangen Rufe.

«Machen wir, dass wir wegkommen», sagte Vallon. «Hast du die Maultiere mitgebracht?»

«Sie sind bei Wayland.»

«Wie viele sind es?»

«Zwei.»

«Das sind nicht genug. Zu Fuß können wir unmöglich entkommen.» Vallon hastete zu den Stallungen hinüber. «Raul, du hilfst mir. Hero, pass auf die Straße auf.»

Nur halb drang in Heros Bewusstsein, dass immer mehr Fensterläden geöffnet wurden und Warnrufe erschollen. Er sah immer noch den flehenden Blick des sterbenden Soldaten vor sich. Dann berührte jemand seinen Arm. Wayland war aus der Dunkelheit aufgetaucht. Er deutete mit dem Kinn auf den Soldaten, der vor dem Eingang zur Wachstube lag.

«Drinnen sind noch mehr. Es ist ein Leichenhaus.» Heros Magen hob sich.

Vallon und Raul eilten mit zwei gesattelten Pferden aus dem Stall. Auf dem Burgwall wurden Fackeln entzündet. Ein Horn wurde geblasen.

«Sie kommen», sagte Vallon. Er half Hero auf eines der Maultiere und stieg auf sein Pferd. «Reitet wie der Teufel.»

Sie galoppierten fort von der Stadt. Vallon zerrte Heros Maultier am Zügel neben sich her. Sie kamen an einen Fluss und ritten hindurch, das Wasser umspülte ihre Knie. Auf der anderen Seite hielt Vallon an. Im Morgengrauen warf das Massiv der Stadt einen riesigen Schatten, aus dem sich drei Fackelwürmer herausbewegten.

«Jetzt ist uns nicht mehr nur Drogo auf den Fersen», sagte Vallon. «Die Normannen werden jeden Stein umdrehen, um uns zu finden. Sie werden sämtliche Häfen überwachen. Wir müssen nach Westen, uns in einem Wald verstecken.»

«Wir haben das Schiff gefunden.»

«Ihr habt es gefunden! Wo?»

«Wayland wird es Euch erklären.»

«Es ist beschädigt», murmelte der Falkner.

Vallon blieb der Mund offen stehen. «Er spricht. Träume ich? Ist das heute die Nacht der Wunder?» Er packte Wayland am Arm. «Beschädigt? Wie schwer? Wie lange brauchen wir, um es seetüchtig zu machen?»

«Ich weiß nicht. Tage, sagt Snorri.»

«Wir haben aber nicht tagelang Zeit», sagte Raul. «Drogo wird über den Geldverleiher von dem Schiff erfahren.»

Vallon dachte darüber nach. «Aaron wird von dem Schiff nichts verraten, und sogar Drogo wird es sich zweimal überlegen, bevor er einem Goldesel des Königs etwas antut.» Er wandte sich an Wayland. «Wo liegt das Schiff?»

«Nicht in einem Hafen. Es ist in den Marschen versteckt.»

Einer der Fackelzüge bewegte sich in ihre Richtung. «Besser, wir verschwinden jetzt», meinte Raul.

«Reitet los», sagte Vallon. Er lenkte sein Pferd neben Heros Maultier. Der Mond kam hinter den Wolken hervor und beschien eine Seite seines blutbespritzten Gesichts. Er breitete die Arme aus, um Hero zu umarmen, doch Hero schlug sie zur Seite.

«Wir mussten die Soldaten töten», sagte Vallon. «Wenn wir es nicht getan hätten, wären wir jetzt alle drei tot. Und wir hätten keinen schönen Tod gehabt. Bevor wir gehängt worden wären, hätten sie uns auf der Streckbank die Knochen aus den Gelenken gerissen, und sie hätten uns den Schädel zusammengepresst, bis uns die Augen aus den Höhlen gequollen und uns das Gehirn zu den Ohren herausgelaufen wäre.»

«Dafür bin ich nicht zurückgekommen!», rief Hero.

«Und deshalb habe ich dich weggeschickt.»

Hero schluchzte. Tränen rannen ihm übers Gesicht. «Ich wollte Arzt werden. Ich wollte Leben retten.»

Vallon schüttelte ihn. «Das hast du doch. Du hast mir das Leben gerettet. Und Raul. Und du hast dich selbst gerettet.» Er nahm die Zügel. «Und jetzt sei still und reite.»

Загрузка...