10

Es kam Hagen vor, als wären Stunden vergangen, ehe er den Thronsaal erreichte. Kriemhilds Worte gingen ihm nicht aus dem Sinn, und er begann mit dumpfem Schrecken zu begreifen, daß sie viel mehr Wahrheit enthielten, als Kriemhild ahnen mochte. Es war ein Gutteil Eifersucht in seinen Gefühlen, Neid auf diesen strahlenden Helden, der sich mit dem Körper eines jungen Gottes, den ihm eine launische Natur geschenkt hatte, und mit einer Unverfrorenheit, die verblüffte, über alle Hindernisse hinwegsetzte und von Sieg zu Sieg eilte.

Hagen war der letzte, der den Thronsaal betrat Schon von weitem hörte er das Gewirr lauter und aufgeregter Stimmen. Auf den Gesichtern der beiden Wachen zu beiden Seiten der Tür lag ein angespannter Zug, und als Hagen an ihnen vorüberging, streiften ihn fragende und besorgte Blicke. Im Saal waren bereits alle versammelt: Gunther selbst, als einziger scheinbar ruhig und beherrscht, der mit unbewegtem Gesicht am Kopfende der Tafel saß, rechts und links von ihm Giselher und Gernot, weiters Sinold, Rumold, der Spielmann Volker, Ekkewart und Gere, am unteren Ende der Tafel, und somit dem König gegenüber, Siegfried von Xanten, Dankwart und Ortwein.

Das Reden verstummte, als Hagen eintrat. Der Tronjer verneigte sich gegen den König. »Seid gegrüßt, Hagen. Wir haben auf Euch gewartet«, sagte Gunther. Der tadelnde Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Hagen lächelte entschuldigend. »Ich wurde aufgehalten«, erklärte er und zwang sich, nicht in Siegfrieds Richtung zu blicken. »Verzeiht mein König.«

Gunther winkte ungeduldig ab und deutete mit einer Kopfbewegung auf den freien Platz neben Dankwart. Hagen blieb nichts anderes übrig, als der Aufforderung nachzukommen und sich in Siegfrieds Nähe niederzulassen.

Gunther verschaffte sich mit einer Geste Aufmerksamkeit und legte die Schriftrolle vor sich hin. »Ihr alle wißt, weswegen ihr hier versammelt seid«, begann er. »Ich habe die Botschaft gelesen, die uns Lüdeger und Lüdegast überbringen ließen. Ihr Inhalt bestätigt, was uns die Boten gesagt haben. Binnen zwölf Wochen werden die sächsischen und dänischen Heere vor den Toren vonWorms stehen, wenn wir ihre Forderung, ein Lösegeld zu bezahlen, ablehnen.«

»Lösegeld?« Siegfried spuckte das Wort aus. »Ihr erwägt doch nicht etwa, auf dieses entehrende Ansinnen einzugehen, Gunther?« »Natürlich nicht!« kam Hagen Gunther zuvor. »Aber man sollte darüber nachdenken. Vielleicht gelingt es uns, Lüdegers Beweggründe herauszufinden. Ich kenne Lüdeger nicht, wohl aber seinen Bruder Lüdegast und diese Forderung...«

»Ist ein Schlag ins Gesicht Burgunds!« fiel ihm Siegfried hitzig ins Wort »... ist vielleicht ein Fehler«, fuhr Hagen unbeeindruckt fort. »Ein Fehler, der uns zum Vorteil gereichen kann, Siegfried.« »Und wie?« schnappte Siegfried.

Hagen lehnte sich zurück und griff nach einem Becher mit Wein, trank aber nicht, sondern blickte Siegfried über seinen Rand hinweg abschätzig an. »Wie gesagt, ich kenne Lüdegast, Lüdegers Bruder. Tronje liegt näher an den Grenzen Dänemarks als an denen Burgunds; wir sind beinahe Nachbarn.«

»Wenn auch keine sehr guten«, fügte Dankwart hinzu. »Lüdegast ist ein übler Raufbold, der es dem Zufall verdankt, daß er auf dem Thron sitzt.« Siegfried sah Dankwart ungeduldig an. Hagen beobachtete die beiden und stellte eine Gereiztheit zwischen Siegfried und seinem Bruder fest wie sie ihm schon oft aufgefallen war, seit Dankwart im vergangenen Sommer von Tronje zurückgekehrt war. Es war nicht zu übersehen, daß Dankwart Siegfried ebensowenig mochte wie er selbst »Das stimmt«, sagte Hagen. »Aber Lüdegast ist auch ein Streiter - nenne ihn einen Raufbold, Dankwart -, der den Kampf um des Kampfes willen sucht; nicht aus Gier nach Gold. Und nach allem, was ich gehört habe, ist sein Bruder noch kriegslüsterner.«

Siegfried schwieg und schien zu überlegen, worauf Hagen hinauswollte. »Wenn er jetzt für den Preis eines Lösegeldes auf einen Heereszug gegen uns zu verzichten bereit ist, bedeutet das, daß er Geld braucht«, zog Hagen seine Schlußfolgerung. »Lüdeger und Lüdegast sind seit mehr als einem Jahr auf Kriegszug. Krieg zu führen kostet Geld, und ihre Kriegskassen müssen leer sein. Ich habe die beiden Boten belauschen lassen. Sie sind nicht sehr gesprächig, aber einige ihrer Äußerungen bestätigen meine Vermutung. Lüdeger und Lüdegast brauchen dringend Geld, um ihre Truppen zu bezahlen.«

»Aber selbst wenn es so ist«, sagte Siegfried, »was nutzt das? Söldner, die nicht bezahlt werden, sind vielleicht schlechte Krieger. Aber sie kämpfen um so besser, wenn ihnen mit dem Sieg reiche Beute winkt.« »Und es würde uns nichts nützen, selbst wenn wir zahlen«, fügte Gernot hinzu. »Ihr wißt es, Hagen. Sie würden das Gold nehmen und uns trotzdem angreifen; wenn nicht jetzt, dann im nächsten oder übernächsten Jahr.«

»Es war nicht die Rede davon, der Erpressung nachzugeben«, erwiderte Hagen gereizt. »Aber wir sollten überlegen, wie wir ihre Schwäche zu unserem Vorteil nutzen können.«

»Ich fürchte, gar nicht«, sagte Gunther. »Ich werde also nicht auf ihr Angebot eingehen, nicht einmal zum Schein, um Zeit zu gewinnen.« »Dann also Krieg«, sagte Giselher.

»Ein Krieg, den wir nicht gewinnen können«, ergänzte Gernot. Gunther wollte auffahren, aber Gernot ließ sich nicht beirren und sprach auf seine ruhige, überlegte Art weiter. »Du weißt es so gut wie ich, Gunther. Lüdegasts und Lüdegers Heere zusammen zählen mehr als vierzigtausend Mann, und...«

»Diese Schätzung ist viel zu hoch«, unterbrach ihn Hagen. »Lüdeger hat zur Zeit kaum mehr als fünftausend Mann unter Waffen und sein Bruder vielleicht halb so viele. Außerdem sind ihre Heere getrennt. Sie brauchen zwei Wochen, um sie zu vereinen.«

Gernot wollte etwas erwidern, aber Gunther kam ihm zuvor. »Diese Zahlen scheinen mir wahrscheinlich«, sagte er. »Aber sie ändern nicht viel an den Gegebenheiten. Wir können gegen achttausend Feinde so wenig bestehen wie gegen vierzigtausend. Unsere Truppen sind über das ganze Land verteilt, und uns bleibt nicht viel Zeit, ein Heer aufzustellen. Der Frieden hat sehr lange gedauert.« »Wir haben zwölf Wochen«, wandte Ekkewart ein. »Wohl kaum, mein Freund«, sagte Gunther. »Nach allem, was wir über Lüdeger wissen, müßte er ein Narr sein, wenn er uns zwölf Wochen gäbe, um ein Heer zu sammeln und unsere Städte zu befestigen.« Er lachte bitter. Seine Finger spielten mit dem Trinkbecher. Hagen fiel auf, daß er nur noch den Siegelring Burgunds trug und allen anderen Schmuck abgelegt hatte. »Wenn er zwölf Wochen sagt, so meint er sechs und wird versuchen, in vier Wochen anzugreifen. Seine Fahnen werden am Ufer des Rheins auftauchen, während wir noch die Waffen schärfen und Kriegsröcke nähen.« Er schüttelte den Kopf und trank einen Schluck Wein. »Nein, Ekkewart«, sagte er. »Wir haben keine zwölf Wochen. Wir haben nicht einmal zwölf Tage. Die Entscheidung muß heute fallen.« »Ist sie das nicht bereits?« fragte Siegfried. Hagen sah auf. Siegfried hatte sich bis jetzt, von seiner kurzen Einmischung abgesehen, auffallend zurückgehalten. Vielleicht hatte er nur auf ein passendes Stichwort gewartet.

Gunther nickte sorgenvoll. »Ja, aber sie gefällt mir nicht. Wir werden kämpfen. Aber ich kämpfe nicht gerne einen Kampf, der von vornherein aussichtslos ist. Burgunds Schwerter sind scharf und gut, doch der feindlichen Übermacht können sie nicht standhalten.« »Dann laßt mich mit Euch und für Euch kämpfen«, sagte Siegfried. Gunther antwortete nicht sofort. »Euer Angebot ehrt Euch, Siegfried«, sagte er schließlich, »aber es ist Burgund, das gefordert wird. Ich kann nicht erwarten, daß Ihr unseren Krieg ausfechtet« »Ich war ein Jahr lang Euer Gast, Gunther«, erwiderte Siegfried. »Ich habe unter Eurem Dach geschlafen, Euer Brot gegessen und Euren Wein getrunken. Jetzt laßt mich bezahlen, was ich Euch schulde.« »Ihr schuldet mir nichts«, entgegnete Gunther. »Wir...« »Warum schlagt Ihr seine Hand aus, mein König?« unterbrach Hagen. In Gunthers Augen blitzte es zornig auf, aber Hagen übersah die Warnung und fuhr fort: »Ich glaube nicht, daß wir Siegfrieds Angebot ablehnen sollten, ehe wir es überhaupt gehört haben.«

Ohne Gunthers Antwort abzuwarten, fragte Siegfried: »Wie viele Krieger habt Ihr, König Gunther?«

»Nicht mehr als tausend Berittene«, antwortete Gunther ohne langes Nachdenken. »Dazu fünfhundert Mann Fußtruppen und vielleicht noch einmal die gleiche Zahl, die ich zu den Waffen rufen kann, wenn uns Zeit genug bleibt.«

»Tausend vollwertige Krieger aus Burgund also«, sagte Siegfried, »gegen achttausend Sachsen und Dänen. Es könnte schlimmer sein.« »Ist das Euer Ernst?« fragte Hagen und fügte spöttisch hinzu: »Wollt Ihr etwa ins Nibelungenreich senden und zehntausend von Euren Reitern kommen lassen, um die Sachsen und Dänen hinwegzufegen?« Siegfried blieb ernst. »Der Weg wäre zu weit«, sagte er. »Es ist ein langer Ritt ins Nibelungenland und ein noch längerer zurück für ein Heer. Burgund könnte verwüstet sein und Worms in Trümmern liegen, ehe es eintrifft. - Nein«, sagte er bestimmt, »tausend Reiter sind genug. Die burgundischen Krieger sind besser als die der Dänen und Sachsen, und wenn wir angreifen, bevor die anderen ihre Heere vereinigen können, und wir den Vorteil der Überraschung auf unserer Seite haben, können wir sie schlagen. Welches der beiden Heere ist uns näher?« »Die Dänen«, antwortete Hagen. »Ein Reiter mit einem schnellen Pferd kann sie in einer Woche erreichen.«

»Dann braucht ein Heer zehn Tage«, sagte Siegfried. »Sie werden vor Schreck davonlaufen, wenn sie unsere Fahnen über den Hügeln auftauchen sehen. Wie schnell könnt Ihr die tausend Reiter bereitstellen?« Gunther überlegte. »Schnell«, sagte er dann. »Aber eine Entscheidung wie diese will gut überlegt sein. Begehe ich einen Fehler, kostet sie vielen tapferen Männern das Leben.«

»Es wäre ein Fehler, auch nur einen Tag länger zu warten!« widersprach Siegfried. »Die einzige Möglichkeit, die uns bleibt, ist ein überraschender Schlag gegen den schwächeren Teil ihres Heeres. Wir können die Dänen schlagen und Lüdegast gefangensetzen. Mit ihm als Geisel haben wir ein Mittel, das Lüdegers Übermut ein wenig kühlen dürfte.« Gunther blickte unentschlossen. Hagen schwieg. Siegfrieds Plan war nicht so wahnwitzig, wie er sich im ersten Moment anhörte. Vielleicht war dies wirklich die einzige Möglichkeit, die ihnen blieb. »Haltet die Boten fest, bis Euer Heer bereit ist«, fuhr Siegfried fort. »Tragt Sorge, daß sie nichts bemerken. Danach schickt sie zurück mit der Antwort, daß Ihr die Herausforderung annehmt und Euch binnen zwölf Wochen zum Kampf stellen werdet. Wir folgen ihnen noch am gleichen Tag.«

»Warum sie dann überhaupt zurückschicken?« fragte Giselher. Siegfried lächelte verzeihend. »Solange sie nicht zurück sind, werden die Dänen auf der Hut sein und mit einem Angriff rechnen. Kehren ihre Boten aber wohlbehalten zurück, läßt ihre Aufmerksamkeit vielleicht ein wenig nach.«

»Der Plan erscheint mir gut«, meldete sich schließlich Hagen wieder zu Wort. Siegfried, der von seiner Seite am wenigsten mit Unterstützung gerechnet hatte, drehte sich überrascht zu ihm um. »Tolldreist, aber gut«, fuhr Hagen fort. »Die Zahlen sprechen gegen uns, aber gerade deshalb werden Lüdeger und Lüdegast kaum mit einem Angriff von unserer Seite rechnen.«»Was Ihr tolldreist nennt, erscheint mir eher als ein Akt der Verzweiflung«, warf Ortwein ein.

»Der Mut der Verzweiflung hat schon manchen Mann befähigt, Dinge zu vollbringen, die ihm sonst nicht gelungen wären«, entgegnete Hagen. »Ich bin dafür, Siegfrieds Vorschlag zu folgen. Wenn wir den Krieg wählen, dann so.«

Damit war die Entscheidung gefallen. Wie Gunther der König und Volker die Stimme des Reiches war, war Hagen das Schwert Burgunds, und alle beugten sich seinem Entschluß.

»So sei es«, sagte Gunther feierlich. »In drei Tagen, vom heutigen Tag an gerechnet, reitet ihr.«

Загрузка...