Das Wetter verschlechterte sich, je weiter sie nach Osten kamen. Es wurde kälter, und gleichzeitig steigerte sich der Wind zum Sturm, so daß der Schnee fast waagrecht über das Land gepeitscht wurde und wie mit Nadeln in ihre Gesichter stach. Sie ritten schnell; nicht im Galopp, aber doch in einem raschen, kräftezehrenden Trab, der mehr von Mensch und Tier verlangte, als ihnen nach einer durchwachten Nacht zuzumuten war. Der tobende Sturm und der immer dichter fallende Schnee machten es ihnen unmöglich, etwas von ihrer Umgebung wahrzunehmen. Einmal glaubte Hagen die Lichter eines Dorfes zur Linken vorüberziehen zu sehen, doch als er sich umwandte, war alles wie ein Spuk im Schneegestöber verschwunden.
Hagen mußte sich eingestehen, daß er die Orientierung verloren hatte. Er ritt, kaum eine Pferdelänge hinter Siegfried, an der Spitze des Heeres, aber beide wußten nicht mehr, wo sie sich befanden, und folgten blind dem Kundschafter. Der Sturm und der wirbelnde Schnee tauchten das Land ins Unwirkliche, Geisterhafte. Vielleicht, dachte er, würden sie Lüdegers Heer gar nicht finden. Ein kleiner Irrtum des Kundschafters, ein winziges Abweichen von der Richtung, und sie würden an den Sachsen vorbeiziehen, ohne es zu merken.
Hagen verscheuchte den Gedanken. Ein Heer von fünftausend Mann konnte nicht einfach verschwinden, auch nicht in einem Unwetter wie diesem. Sie würden Lüdeger finden. Und wenn nicht, dann fand er sie. Siegfried ließ sein Pferd langsamer traben, damit Hagen aufholen und an seine Seite gelangen konnte. »Es kann nicht mehr weit sein!« schrie der Xantener über den Sturm hinweg. Sein Gesicht war von Kälte, Schnee und Wind gerötet. Sein Haar wurde von einem Stirnband gehalten, aber er trug auch jetzt keinen Helm.
»Ja!« schrie Hagen zurück. »Und wahrscheinlich sind die Dänen bereits hinter uns her!«
»Keine Sorge, Hagen!« antwortete Siegfried. »Unser Vorsprung ist groß genug. Bis sie uns eingeholt haben, ist alles vorbei. So oder so.« Hagen zog sich in seine Gedanken zurück. Das schlimme war, daß Siegfried recht hatte. Sie waren den Sachsen vier zu eins unterlegen und konnten sich auf keinen langen Kampf einlassen. Wenn sie überhaupt eine Chance hatten, mußte die Entscheidung schnell fallen. Nach einer Weile tauchte der Schatten eines Reiters vor ihnen auf, fiel zurück und holte langsam wieder auf, als sich sein Pferd ihrem Tempo mühsam anpaßte. Hagen bedeutete Siegfried, etwas langsamer zu reiten, als er den Mann erkannte. Es war einer der Kundschafter, die sie vorausgeschickt hatten. Er war vollkommen erschöpft. Sein Pferd hatte kaum noch die Kraft, mit ihren Tieren Schritt zu halten. »Sie sind vor uns, Herr!« schrie er. »Die Sachsen!« »Gut!« brüllte Siegfried zurück. »Stoße zu Gernot und Volker und sage ihnen, daß sich das Heer bereithalten soll!« »Aber die Sachsen wissen, daß wir kommen, Herr!« »Um so besser! Dann wollen wir sie nicht warten lassen!« Siegfried gab seinem Pferd die Sporen und winkte Hagen, ihm zu folgen. »Vorwärts, Hagen von Tronje! Für Burgund und Xanten!« Schemenhaft tauchten die Nibelungenreiter aus dem Schneetreiben auf und formierten sich um ihren Herrn, und auch Hagens Pferd fiel in einen scharfen Galopp. Hagens Gedanken überschlugen sich. Sie hatten nicht mehr über die mögliche Taktik ihres Vorgehens gesprochen, denn diese hing von zu vielen Dingen ab, die erst im letzten Augenblick offenbar werden würden: dem Aufmarsch von Lüdegers Truppen, dem Gelände, der feindlichen Bewaffnung und tausend anderen Unwägbarkeiten. Hagen hatte daher angenommen, daß Siegfried kurz vor dem eigentlichen Zusammenstoß noch einmal würde anhalten lassen, um die Truppen zu formieren und einen Plan zu entwerfen. Aber wie es aussah, hatte der Xantener nichts dergleichen im Sinn. Hagen begann zu ahnen, daß Siegfrieds Art, ein Heer zu führen, sich nicht wesentlich von seiner sprunghaften Art zu kämpfen und zu reden unterschied.
In unvermindertem Galopp bewegten sie sich nach Osten, sprengten einen Hügel hinan und auf der anderen Seite wieder hinab, ritten an einem schmalen Waldstück vorbei und schlugen, der Krümmung des Tales folgend, einen leichten Bogen in südlicher Richtung. Vor ihnen waren Geräusche: Pferdegetrappel, das Scheuern von Metall auf Leder, gedämpfte Rufe und das Raunen einer großen Menschenmenge, dann ein plötzlicher, überraschter Aufschrei. Die Sachsen.
Der Xantener stieß einen gellenden Schrei aus, riß den Balmung aus der Scheide und jagte los, daß Hagen und die Nibelungen Mühe hatten, ihm zu folgen. Immer mehr Reiter tauchten aus dem Schneesturm auf. Ihr Anblick schien Siegfrieds Kampfeslust noch zu steigern.
Dann stießen sie zusammen.
Hagen vermochte sich hinterher nicht mehr an Einzelheiten zu erinnern: Die ersten Augenblicke des Kampfes waren wie ein Alptraum, eine schreckliche Vision von stürzenden Leibern, reißendem Leder, zerbrechendem Stahl, sich aufbäumenden Pferden und Blut. Die Sachsen waren durch den plötzlichen, überraschenden Angriff wie erstarrt - vielleicht lahmte sie auch der Anblick Siegfrieds, der allen voran, schreiend, mit flammendem Gesicht wie ein Dämon aus dem Schneegestöber brach und seine gewaltige Klinge schwang; sekundenlang schienen sie unfähig, sich zu wehren oder gar selbst zum Angriff überzugehen, und als sie endlich ihren Schrecken überwanden, hatten Siegfried und seine Reiter ihre Reihen bereits durchbrochen und eine blutige Bresche in ihre Formation getrieben. Und bevor sich die Lücke hinter ihnen schließen konnte, war das Hauptheer der Burgunder heran. Die Luft war plötzlich voller schwirrender Pfeile. Rings um Hagen und die Nibelungen schrien Getroffene auf und sanken kraftlos aus den Sätteln. Die Erde bebte, als die beiden Heere wie zwei gepanzerte Ungeheuer aufeinanderprallten. Die Sachsen, durch Siegfrieds ungestümen Angriff überrumpelt, wichen schon unter dem ersten Ansturm der burgundischen Reiterei zurück. Ehre Reihen wankten; Fußsoldaten versuchten, sich vor den heranjagenden Reitern in Sicherheit zu bringen, und liefen rückwärts in die gesenkten Lanzen ihrer Hintermänner, Berittene stürzten aus den Sätteln, als ihre Pferde getroffen zusammenbrachen oder sich in wilder Panik aufbäumten. Hagen erhaschte einen Blick auf Gernot, der Seite an Seite mit Dankwart und Volker focht. Hagen sah mit Genugtuung, wie sie sich mit vereinten Kräften in die Bresche warfen und die nachdrängenden Sachsen zurückschlugen. Dann wandte er sich um und suchte den Xantener.
Siegfried war bereits weit vor ihm. Sein Schwert hieb eine blutige Bahn durch die Reihen der Sachsen, und kaum einer von ihnen machte einen ernsthaften Versuch, sich ihm in den Weg zu stellen. Der Xantener kämpfte wie ein Besessener. Allein sein Anblick raubte den Sachsen jeglichen Mut und Kampfgeist Selbst Hagen spürte den Sog jener übernatürlichen Kraft, der den Xantener wie ein unsichtbarer Schild umgab, gefährlicher noch als das Schwert in seinen Fäusten. Hagen war für einen Moment abgelenkt, und um ein Haar hätte ihn dieser Moment der Unaufmerksamkeit das Leben gekostet. Siegfrieds Reiter waren vorausgestürmt, um ihrem Herrn zu folgen; Gernot und die anderen waren hinter ihm. Sekundenlang war Hagen allein in einem Meer von Feinden.
Ein halbes Dutzend Sachsen griff ihn gleichzeitig an. Hagen riß seinen Schild hoch, fing gleich zwei Schwerthiebe damit auf und schlug eine Lanze, die nach seiner Brust stach, mit dem Schwert beiseite. Etwas traf seinen Hinterkopf und warf ihn nach vorne; ein dumpfer Schmerz schoß durch seinen Schädel und seine Schultern, aber er beachtete ihn nicht, riß abermals seinen Schild in die Höhe und hieb wie wild um sich. Ein Schwert traf ihn, zerschnitt seinen Mantel und sein Wams und zerbrach an dem Kettenhemd, das er darunter trug. Sein Pferd kreischte, als die Klinge an seiner Flanke entlangschrammte und eine lange, blutige Spur hinterließ. Hagen tötete den Mann mit einem blitzschnellen geraden Stich, stieß einen zweiten mit dem Schild aus dem Sattel und wankte unter einem Hagel von Hieben, die plötzlich auf ihn herunterprasselten, blieb aber im Sattel. Ein harter Schlag traf seinen Helm; die Klinge rutschte am Eisen ab und schnitt eine Linie aus brennendem Schmerz in sein Gesicht, als würde ein glühender Draht in seine Haut gepreßt. Hagen schrie auf, schlug blind um sich, spürte, wie er etwas traf, und versuchte gleichzeitig das Blut wegzublinzeln, das ihm die Sicht nahm.
Dann war es vorüber. Ein Pfeil jagte mit häßlichem Zischen an ihm vorbei und bohrte sich durch das Kettenhemd des Sachsen, der ihm den Hieb versetzt hatte, und plötzlich waren die Mäntel der Männer, die ihn umgaben, rot.
Eine Hand berührte ihn an der Schulter. Hagen fuhr herum, ließ erleichtert Schwert und Schild sinken und strich sich mit dem Handrücken über die Augen. Die Berührung schmerzte, aber er konnte wenigstens mit dem rechten Auge wieder klar sehen.
»Hagen!« Gernot sog erschrocken die Luft ein, als er in Hagens Gesicht blickte. »Großer Gott! Was ist mit Eurem Gesicht?« Hagen tastete mit der Hand nach seiner Stirn. Sein linkes Auge war geschlossen und schmerzte, und er fühlte Blut. Aber die Anspannung verhinderte, daß er den Schmerz in seinem vollen Ausmaß spürte. »Das ist nichts«, sagte er. »Nur ein Kratzer. Wie ist die Lage?« Gernot sah ihn zweifelnd an, mußte sich aber sagen, daß jetzt nicht der richtige Moment war, mit Hagen zu streiten. Die Gasse, die Siegfried mit seinem ungestümen Vorpreschen geschaffen hatte, war breiter geworden und hatte sich mit Männern aus den eigenen Reihen gefüllt, und mehr und mehr Reiter in den flammendroten Umhängen Burgunds drängten nach und vertieften die Wunde, die das sächsische Heer davongetragen hatte. Rings um Gernot und Hagen war der Kampf zum Erliegen gekommen, da keiner der Angreifer überlebt hatte. Aber es war nur eine winzige Insel der Ruhe, um die herum die Schlacht mit unverminderter Wucht tobte.
»Nicht schlecht«, antwortete Gernot mit einiger Verspätung auf Hagens Frage. »Sie laufen davon wie die Hasen. Aber wenn sie erst einmal merken, wie wenige wir sind, kann sich das schnell ändern.«
»Dann dürfen wir nicht zulassen, daß sie es merken«, sagte Hagen. Er hob sein Schwert und wollte nach den Zügeln greifen, um sich wieder in den Kampf zu stürzen, aber Gernot hielt ihn zurück. »Ihr seid verwundet. Hagen«, sagte er. »Reitet zurück - Ihr habt genug getan, und es ist keinem damit gedient, wenn Ihr fallt«
Statt einer Antwort schlug Hagen seine Hand herunter und preschte los. Es war der unheimlichste Kampf, den Hagen jemals erlebt hatte. Der Sturm tobte mit ungebrochener Kraft und begleitete die Schreie der Sterbenden und Verwundeten mit Hohngelächter, und der wirbelnde Schnee machte es unmöglich, weiter als zehn oder fünfzehn Schritte zu sehen. Oft genug konnte Hagen nur ahnen, ob er Freund oder Feind vor sich hatte. Ein- oder zweimal glaubte er Siegfried vor sich zu erkennen, aber es gelang ihm nie, ihn einzuholen. Er verlor die Orientierung. Sie mußten sich bereits tief im Herzen des sächsischen Heeres befinden, ein gewaltiger Stoßkeil, der die Flanke des feindlichen Heeres gespalten hatte und sich wie ein tödlicher Pfeil tiefer und tiefer in seinen Leib bohrte. Aber Hagen erkannte auch die Gefahr, die ein solches Vorgehen barg. Irgendwann würde der Strom von Reitern, die scheinbar aus dem Nichts auftauchten und die Bresche füllten, versiegen. Die Burgunder kämpften besser als ihre Gegner, und nur ganz wenige von denen, die erschlagen auf dem Boden lagen, trugen das Rot Burgunds. In diesem Punkt hatte der Kundschafter die Wahrheit gesagt: Lüdegers Männer waren in schlechter Verfassung, und ihre Bewaffnung konnte sich mit der der Burgunder nicht messen. Aber für jeden, den sie erschlugen, warteten drei andere hinter der tosenden Wand aus Schnee. Sie hatten das feindliche Heer gespalten, aber in Wahrheit waren sie in der Lage eines todesmutigen kleinen Hundes, der sich wütend in die Flanke des Bären verbissen hatte und dessen Kraft früher oder später erlahmen mußte. Der Kampf dauerte erst wenige Minuten, und bisher beteiligte sich nur ein Bruchteil des sächsischen Heeres überhaupt an der Schlacht. Wenn die Sachsen ihre Überraschung erst überwunden hatten und sich den Burgundern mit ihrer ganzen Macht entgegenwarfen, konnten sie sie allein durch ihre Überzahl erdrücken.
Der Kampf wogte hin und her. Die Sachsen wichen weiter zurück, aber der Vormarsch der Burgunder geriet allmählich ins Stocken, und Hagen wußte, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis er zum Stillstand gekommen sein würde. Hagen kämpfte jetzt kaum noch, sondern beschränkte sich darauf, zurückzuschlagen, wenn er angegriffen wurde. Sein Gesicht schmerzte unerträglich, und sein linkes Auge war noch immer blind. Siegfried blieb weiter unsichtbar, statt dessen erspähte Hagen nun Giselher. Der junge König hatte alle Warnungen und Befehle Gernots in den Wind geschlagen und kämpfte in vorderster Linie. Sein Umhang war zerfetzt und mit Blut getränkt, doch er selbst schien unverletzt zu sein. Hagen fluchte. Er gab seinem Pferd die Sporen, als er die Gefahr erkannte, in der Giselher schwebte. Einer der Sachsen mußte das Königswappen auf dessen Schild erkannt haben. Mit einem Aufschrei stürzte er sich auf Giselher, und eine ganze Schar Sachsen mit ihm. Giselher blutete bereits aus mehreren Wunden, als ihm eine Anzahl burgundischer Reiter zu Hilfe kam.
Hagen schwang seine Klinge und schlug einen Sachsen nieder, der sich mit der Linken an Giselhers Sattel krallte und mit der anderen Hand einen Dolch zückte, mit dem er nach Giselhers Gesicht zu stechen versuchte. Der Mann sackte lautlos zurück, als ihn Hagens Hieb traf, aber sofort war ein anderer an seiner Stelle und schwang eine Keule. Hagen fing den Hieb mit seinem Schild auf und schlug gleichzeitig zurück. Er traf, aber der doppelte, jähe Aufprall ließ ihn den Halt verlieren und kopfüber aus dem Sattel stürzen. Er fiel, rollte sich blitzschnell zur Seite, um nicht unter die wirbelnden Hufe seines eigenen Pferdes zu geraten, und sprang wieder auf die Füße, gerade rechtzeitig, um einem heimtückischen Schwertstreich zu entgehen. Wütend schlug er zurück, aber mit nur einem Auge fiel es ihm schwer, die Entfernung zu schätzen; sein Hieb ging ins Leere, und der Sachse nutzte die Gelegenheit, ihm einen tiefen Stich in den Oberschenkel zu versetzen.
Hagen taumelte, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Der Sachse stieß einen triumphierenden Schrei aus und setzte ihm nach. Aber er kam nicht dazu, den entscheidenden Hieb anzubringen. Ein gewaltiges Streitroß erschien hinter ihm, eine Klinge blitzte, und das Frohlocken in seinen Augen verwandelte sich in blankes Entsetzen, als die Klinge auf ihn herabfuhr. Lautlos kippte er zur Seite.
Hagen stemmte sich hoch, hob automatisch Schwert und Schild auf und sah zu seinem Retter empor. Es war Giselher. Sein Gesicht war zu einer grinsenden Grimasse verzerrt. »Alles in Ordnung, großer Held?« Hagen nickte. »Danke.«
Giselher winkte ab. »Dazu besteht kein Grund, Hagen. Ich zahle meine Schulden immer schnell zurück, das wißt Ihr doch.« Hagen sah sich nach seinem Pferd um. Der Schecke war im Kampfgetümmel verschwunden, aber es gab genug herrenlose Tiere, und kurz darauf saß er wieder im Sattel. Der Kampf hatte sich ein Stück weiter nach vorne verlagert, aber Hagen sah auch, daß der Vormarsch der Burgunder immer mehr ins Stocken geriet. Sie hatten ihre Kraft verbraucht und flössen nun wie eine Brandungswelle langsam zurück. Der Sturm spie immer mehr Sachsen aus, und ihre Zahl schien unbegrenzt »Was ist mit Euren Wunden, Giselher?« fragte Hagen. Giselher machte eine wegwerfende Bewegung. Er hatte drei üble Stiche an Armen und Beinen, die stark bluteten und heftig schmerzen mußten. »Nicht der Rede wert«, sagte er.
»Nicht der Rede wert?« Hagen runzelte die Brauen. »Mir wäre trotzdem lieber, wenn Ihr Euch zurückziehen würdet.«
»Seht Euch selbst an, Hagen«, erwiderte Giselher trotzig. »Außerdem gibt es kein Zurück mehr - schaut Euch doch um.«
Hagen folgte seinem Blick. Das Schneetreiben hatte fast vollständig aufgehört, so daß man jetzt einen großen Teil des Schlachtfeldes überblicken konnte. Sie befanden sich in einem schmalen, rechts und links von spärlich bewaldeten Hügeln gesäumten Tal, fast genau in dessen Mitte und im Zentrum des sächsischen Heeres. Dieses bestand aus zwei gleichstarken Abteilungen, die sich in einigem Abstand voneinander vorwärts bewegt hatten und deren eine sie mit ihrem plötzlichen Angriff in einen kopflos flüchtenden Haufen verwandelt hatten.
Aber die zweite Hälfte von Lüdegers Heer, die sich über die Hügel verteilt hatte, wälzte sich bereits auf der linken Seite heran, eine gewaltige, quirlende Masse von Männern und Tieren, die sich über die Flanke des Hügels ergoß, um den Burgundern in den Rücken zu fallen und die Falle, in die diese sich selbst gebracht hatten, zuschnappen zu lassen .., Hagen fluchte. »Wo ist Siegfried?«
Giselher deutete voraus zur Spitze des burgundischen Stoßkeils. »Irgendwo dort vorne. Er scheint sich vorgenommen zu haben, den Krieg ganz allein zu gewinnen.«
Hagen gab seinem Pferd die Sporen und jagte los. Er entdeckte Siegfried bald. Nun, da die Sicht klar war, überragte seine breitschultrige Gestalt das wogende Meer der Kämpfenden. Siegfrieds Klinge blitzte immer wieder auf und fuhr mit Hieben, die nichts an Kraft und Schnelligkeit eingebüßt hatten, auf die Sachsen herunter. Es war jetzt nur noch Siegfried allein, der die Burgunder weiter vorwärts trug. Hagen versuchte schneller zu reiten, aber es ging nicht. Die Bresche, die sie in das sächsische Heer geschlagen hatten, begann sich zu schließen, als von den Hängen zu beiden Seiten frische Krieger herbeiströmten und die wankenden Schlachtreihen der Sachsen verstärkten. Hagen wurde immer öfter in Kämpfe verstrickt, und mehr als nur einmal bewahrten ihn nur Schild oder Kettenhemd vor einer neuen Verletzung. Aber er näherte sich Siegfried; langsam, aber stetig.
»Lüdeger!« brüllte Siegfried. »Wo seid Ihr? Hier ist Siegfried von Xanten, der Euren Bruder schlug! Kommt her und rächt ihn, wenn Ihr den Mut dazu habt!« Trotz des unbeschreiblichen Getöses der Schlacht war seine Stimme weithin zu vernehmen. »Kommt her, Lüdeger! Oder seid Ihr zu feige?« Der Ansturm der Sachsen nahm zu, und die Reihen der Burgunder lichteten sich mehr und mehr; Lücken, die nicht mehr geschlossen werden konnten, denn während die Sachsen nach Belieben frische Truppen in die Schlacht werfen konnten, war die Zahl der Burgunder begrenzt, und jeder Tote oder Verwundete zählte doppelt und dreifach. »Lüdeger!« rief Siegfried wieder. »Wo seid Ihr? Seid Ihr ein Mann oder eine feige Memme, die sich hinter den Röcken ihrer Amme versteckt?« Ein zorniges Brüllen antwortete ihm. Vor dem Xantener öffnete sich eine Gasse in den Reihen der sächsischen Reiter, durch die ein einzelner, in flammendes Rot und Gold gekleideter Reiter heranjagte. Es war Lüdeger, mußte Lüdeger sein, nach allem, was Hagen über ihn gehört hatte. Er war ein Riese, fast so groß wie Siegfried und ebenso breitschultrig, aber massiger und von einer Statur, die nur scheinbar plump und schwerfällig war. Das Schwert in seiner Hand war eine Waffe, die ein normal gewachsener Mann höchstens als Einander hätte fuhren können. Und dazu sein Pferd: es war das gewaltigste Streitroß, das Hagen jemals gesehen hatte, ein Ungeheuer von einem Pferd. Ein würdiger Gegner für den Xantener, dachte Hagen. Gebannt starrte er Lüdeger entgegen. Er merkte kaum, daß der Kampf rings um Siegfried und den heranstürmenden Sachsenkönig zum Erliegen kam und die sächsischen Krieger, die den Xantener gerade noch bedrängt hatten, ihre Waffen senkten und zurückwichen, um eine Arena für die beiden gewaltigen Gegner zu bilden. Der Ausgang des Zweikampfes würde die Schlacht entscheiden.
Lüdeger und sein Roß jagten heran wie eine Lawine aus Fleisch und Zorn. Siegfried erwartete sie scheinbar gelassen. Als sich der Kreis um ihn weitete, zwang er sein Pferd mit kleinen, tänzelnden Schritten zurück, senkte das Schwert ein wenig und warf den Schild fort. Gegen eine Waffe wie die Lüdegers war er nutzlos.
Lüdeger sprengte in vollem Galopp heran. Das Schwert beschrieb blitzende Kreise über seinem Kopf, und unter den Hufen seines Pferdes spritzten Steine und Schlamm davon. Siegfried wich ein weiteres Stück zurück Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck äußerster Gespanntheit. Er schien zu überlegen, auf welche Weise er seinen Gegner am besten empfangen konnte. Lüdegers Erscheinung mußte selbst ihn überrascht haben.
Der Sachsenkönig nahm ihm die Entscheidung ab. Wie Siegfried zuvor gegen das Heer der Sachsen, so stürmte er nun mit ungebremstem Tempo heran, um seinen Gegner gleich im ersten Ansturm über den Haufen zu reiten. Hagen hielt den Atem an.
Siegfried wartete bis zum letzten Moment, ehe er reagierte. Aber er riß sein Pferd nicht etwa herum oder zur Seite, um Lüdeger auszuweichen, sondern lenkte es mit einem gewaltigen Satz direkt auf den König der Sachsen zu.
Die Flanken der beiden Tiere berührten sich, als sie aneinander vorüberjagten. Lüdegers Schwert fiel herab, verfehlte Siegfried und riß eine tiefe Furche in den Boden; gleichzeitig zuckte der Balmung hoch und schlug Funken aus Lüdegers Waffe. Siegfried versuchte, seine Wunderklinge einzusetzen, um Lüdegers Waffe zu zerbrechen. Aber ganz offensichtlich hatte er den Sachsenkönig unterschätzt Lüdeger riß sein Pferd gewaltsam herum, packte sein Schwert mit beiden Händen und ließ es mit aller Kraft auf den Xantener heruntersausen. Diesmal kam Siegfrieds Reaktion zu spät Es war nicht mehr möglich, dem Hieb auszuweichen oder die Klinge abzulenken, und so blieb ihm nur eines: er riß den Balmung hoch, packte die Klinge mit beiden Händen an Griff und Spitze und fing Lüdegers Schlag auf. Hagen hatte das Gefühl, den Hieb in den eigenen Knochen zu spüren. Siegfried schrie auf, brach wie vom Blitz getroffen im Sattel zusammen und fand im letzten Moment sein Gleichgewicht wieder. Lüdegers Schwert sprang mit hellem Klingen zurück, aber die ungeheure Wucht des Schlages ging durch Siegfrieds Körper, ließ ihn zum zweiten Male aufschreien und schließlich sein Pferd mit einem schmerzerfüllten Kreischen in die Knie brechen.
Ein vielstimmiger, ungläubiger Aufschrei erhob sich aus den Reihen der Männer, die den Kampf beobachteten. Hagen erbleichte. Das Undenkbare war Wahrheit geworden, das Unmögliche geschehen! Siegfried, der Drachentöter, besiegt, von der Hand eines sterblichen Menschen geschlagen!
Aber Siegfried fiel nicht. Sein Pferd brach schreiend in die Knie, doch Siegfried riß es zurück, fing den Sturz mit seiner ganzen Körperkraft auf und zog es wieder in die Höhe. Das Tier kreischte abermals vor unerträglichem Schmerz. Hagen sah, wie sein Kopf mit furchtbarer Kraft in den Nacken gerissen wurde und Blut aus seinem Maul schoß, als Siegfried mit aller Gewalt an den Zügeln riß. Das Pferd bäumte sich auf, stieg auf die Hinterhand und schrie. Siegfrieds Schwert blitzte. Ehe Lüdeger, der wie alle anderen gebannt mit einer Mischung aus Furcht und schierem Unglauben auf Siegfried starrte - ehe Lüdeger sich versah, krachte der Balmung auf seine Waffe herab und zerbrach sie in zwei Teile. Lüdeger wankte. Die ungeheure Erschütterung durch den Schlag ließ ihn zusammensacken und vornüber auf den Hals seines Rosses sinken. Siegfrieds Pferd bäumte sich auf und versuchte den Peiniger von seinem Rücken zu werfen. Aber mit der gleichen Kraft, mit der der Xantener vorher seinen Sturz aufgefangen hatte, brach er nun seinen Willen und zwang es mit einem Satz erneut dem Sachsenkönig entgegen.
Lüdeger stemmte sich mühsam im Sattel hoch. Sein Gesicht war verzerrt, nicht aus Angst vor dem tödlichen Streich, sondern vor abgrundtiefer, hilfloser Furcht, die einen Menschen im Angesicht eines tobenden Gottes ergreift »Gnade!« keuchte er. »Ich ... bitte Euch, verschont mich, Herr. Ich bin geschlagen.«
Siegfrieds Schwert, bereits zum Schlag erhoben, verharrte. Seine Augen flammten.
»Schwörst du Burgund die Treue und gelobst, den Frieden zu halten, solange du lebst?« fragte er. »Ich ... schwöre es«, antwortete Lüdeger. Seine Stimme zitterte, und er hatte Mühe, sich im Sattel zu halten. Siegfrieds Hieb mußte ihn bis ins Mark erschüttert haben. »Alles, was mein ist, soll Gunther von Burgund gehören - mein Reich, mein Gold und mein Waffenarm. Schenkt mir das Leben, und ich bin sein Sklave.«
Siegfried senkte langsam das Schwert, beugte sich vor und ergriff Lüdegers Pferd am Zügel. »Der Krieg ist vorbei!« rief er. »Hört ihr es, Männer aus Sachsen? Der Krieg ist zu Ende! Legt die Waffen nieder. Euer König ist besiegt.« Seine Worte waren weithin zu vernehmen, und die Nachricht pflanzte sich mit Windeseile fort Hagen erwachte wie aus einem Traum. Burgunder und Sachsen, die soeben noch erbittert gekämpft hatten, ließen die Waffen sinken. Da und dort war noch ein Handgemenge im Gange, aber das Klirren der Waffen verstummte mehr und mehr. Es war vorbei. Sie hatten gesiegt Hagen fühlte sich wie betäubt. Sie hatten die Sachsen geschlagen. Das Unmögliche war geschehen. Sie hatten einen Gegner geschlagen, der ihnen an Zahl viermal überlegen war, nicht durch List oder einen taktischen Geniestreich, sondern durch die Kraft eines einzelnen Mannes. Zum zweiten Mal war es Siegfried gewesen, der den Krieg für sie gewonnen hatte. Ganz allein.
Hagens Wunde begann stärker zu schmerzen. Er hob den Arm, zerrte den Handschuh mit den Zähnen herunter und fühlte warmes, klebriges Blut über seine Wangen rinnen. Sein Gesicht war unförmig geschwollen und fühlte sich trotz der Schmerzen taub an, und für einen Moment wurde ihm übel. Er schob sein Schwert in den Gürtel zurück, hängte den Schild an den Sattelgurt und wendete sein Pferd. Er gewahrte Gernot ein Stück hinter sich, preßte dem Tier sanft die Schenkel in die Seiten und ließ die Zügel schleifen, weil er nicht mehr die Kraft hatte, sie zu halten. Trotzdem straffte er die Schultern; Gernot und die anderen sollten nicht sehen, daß er sich nur noch mit letzter Kraft im Sattel hielt. Von links näherte sich Volker, begleitet von einem Troß Reiter und die Lanze mit dem Wimpel Burgunds stolz erhoben, und kurz darauf stießen auch Giselher und Rumold zu ihnen.
Natürlich war es Giselher, dessen Stimme alle anderen übertönte. »Wir haben gesiegt!« rief er aufgeregt. »Gernot, Volker - wir haben sie geschlagen!«
»Nicht wir«, sagte Hagen scharf. »Siegfried.«
Giselher wollte auffahren, hielt jedoch erschrocken inné, als er Hagens Gesicht sah. »Gütiger Gott!« rief er. »Hagen, Euer Auge! Ihr...« Hagen schnitt ihm mit einer ärgerlichen Bewegung das Wort ab. Er war nicht bereit, sich von dem, was er Giselher zu sagen hatte, ablenken zu lassen. Giselhers Gesicht flammte trotz seiner eigenen Verletzungen vor Erregung und Freude. Es war Giselhers erste Schlacht gewesen, sein erster ernsthafter Kampf, und die Begeisterung leuchtete ihm noch aus den Augen. Was Hagen sich vorgenommen hatte, war grausam, aber es mußte sein, und zwar jetzt gleich; nicht später, wenn das Gift, von dem Giselher gekostet hatte, bereits in seine Seele gesickert war. Hagen bewegte sich vor, packte Giselhers Handgelenk und drückte zu, so fest, daß Giselher vor Schmerz aufstöhnte. Mit einem Ruck riß Hagen seinen Arm herum und zwang ihn, seine eigene Hand anzusehen. »Siehst du diese Hand?« herrschte er ihn an. »Es ist deine Hand, Giselher. Sieh sie dir genau an! An ihren Fingern klebt Blut, und es ist nicht deines. Glaubst du, daß Gott dir diese Hand gegeben hat, um zu töten?« Er ließ Giselhers Arm los und stieß ihn von sich; so heftig, daß er beinahe aus dem Sattel gestürzt wäre. »Gott hat dir deine Hände gegeben, um zu arbeiten, um Häuser zu bauen und den Boden zu bestellen, Giselher. Um zu streicheln und Wunden zu heilen, nicht, um sie zu schlagen. Sie sind zum Erschaffen da, nicht zum Zerstören.«
Giselher starrte ihn an. Alle Freude und aller Triumph waren aus seinem Blick gewichen. Seine Lippen zuckten, und in seinen Augen schimmerten plötzlich Tränen, aber es waren Tränen der Wut. In diesem Moment haßte er Hagen, aber das war gut so, denn dem Haß würde - vielleicht - Einsehen folgen. Sekundenlang starrten sie sich an, und Hagen konnte den Kampf, der hinter Giselhers Stirn tobte, deutlich sehen. Dann riß Giselher sein Pferd herum, gab ihm die Sporen und galoppierte davon. Gernot blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Das war hart, Hagen«, sagte er leise. »Glaubt Ihr, daß es wirklich nötig war - so?« »Es ist nichts anderes, als was ich Euch gelehrt habe, und Euren Bruder Gunther«, erwiderte Hagen. Schmerzen zogen sich wie ein dünnes feuriges Geflecht durch sein Gesicht, und für einen Moment begann sich Gernots Gestalt auf unmögliche Weise zu verbiegen, als betrachtete er ihn durch einen Zerrspiegel.
»Nicht so«, widersprach Gernot. Seine Stimme klang fremd, merkwürdig hallend und dumpf. »Nicht so scharf, Hagen.«
Hagen fror. Seine Arme und Beine begannen zu zittern. »Es mußte... sein«, antwortete er schleppend. »Oder wollt Ihr, daß Euer Bruder... zu einem zweiten... Siegfried wird?« Er wollte noch mehr sagen, aber er konnte es nicht. Ein weißglühender Dolch bohrte sich durch sein linkes Auge tief in seinen Schädel. Er stöhnte, begann im Sattel zu wanken und hörte wie aus weiter Ferne, wie Gernot erschrocken aufschrie und nach dem Wundscher rief, dann wurde alles unwirklich, und die Welt versank in Schwärze und Blut und Schmerzen. Gernot und Volker fingen ihn auf, als er aus dem Sattel stürzte.