Wie er den Weg nach Worms zurückfand, wußte er nicht mehr, und es war wohl auch eher sein Pferd, dem sein Instinkt den Weg in den heimatlichen Stall wies, als die Hand seines Reiters, die es lenkte, denn die nächste klare Erinnerung, die er hatte, war die an Kriemhilds Kemenate und das Bett neben der Feuerstelle, in dem er lag und mit dem Fieber kämpfte. Gesichter kamen und gingen, wechselten sich ab mit bizarren Bildern aus den Fieberträumen, die ihn peinigten, und ein paarmal wachte er auf und schrie und schlug um sich, ohne zu wissen, warum. Wie oft bei einer schweren Krankheit war der Rückfall schlimmer als der Anfang. Zwölf Tage kämpfte er einen zähen Kampf gegen das Fieber. Er verlor dreißig Pfund an Gewicht und war so schwach, daß er gefüttert werden mußte. Und in den seltenen Augenblicken, die sich manchmal zu Stunden dehnten - in den Momenten, in denen er wirklich wach war und nicht phantasierte oder auf dem schmalen Grat zwischen Wachsein und Bewußtlosigkeit balancierte, lag er stumm da und stürzte in immer tiefere Verzweiflung. Er war aus Worms fortgeritten, um zu sterben. Er war zu feige - oder vielleicht auch zu tapfer - gewesen, seinen Dolch zu nehmen und ihn sich selbst ins Herz zu stoßen. Es mußte wohl so sein, wie die Alte gesagt hatte: Die Götter hatten ihre eigenen Pläne mit seinem Schicksal, und nicht einmal er war stark genug, sich gegen ihren Willen zu stellen.
Unmerklich ging eine Veränderung mit Hagen vor. Bisher war er ein Held gewesen, ein Mann aus Stahl, der nicht gebeugt, sondern höchstens zerbrochen werden konnte. In Zukunft würde er das nicht mehr sein. Es waren nicht die Wunden, die sein Körper davongetragen hatte - die würde er verschmerzen, so oder so; und es war nicht einmal das Gefühl der Niederlage, mit dem er sich noch immer nicht abfinden konnte, es vielleicht nie ganz lernen würde.
Er hatte einen Blick in eine andere Welt getan. Das war es, was die Veränderung bewirkte. Es hatte mit seiner Begegnung mit Helge begonnen, vor einem Jahr, dann war Alberich gekommen und Siegfried mit seinem Dutzend unirdischer Reiter, und schließlich die Alte, deren Worte mehr als nur ein böses Omen waren. Mit jedem Mal hatte sich der Vorhang, der die Welt der Menschen von der der Götter und bösen Geister trennte, ein wenig mehr gehoben, hatte ihm das Schicksal einen winzigen Ausschnitt eines anderen, vollkommen fremden Seins gezeigt, einer Welt, die neben der der Menschen existierte und so erschreckend und fremd war, daß der bloße Gedanke, sie könne wirklich sein, ihn an den Rand des Wahnsinns trieb. Er hatte nie wirklich an jene Welt geglaubt. Er hatte nur eine vage Vorstellung vom Wirken der Götter, von guten und bösen Mächten gehabt, nicht aus Überzeugung, sondern aus Gewohnheit, aber er hatte nicht an sie geglaubt als an etwas, was tatsächlich existierte. Jetzt wußte er es besser.
Und die Erkenntnis führte eine zweite, weit schlimmere im Geleit - ein Gedanke, der einem seiner Fieberträume entsprungen sein könnte, es aber nicht war. Wenn er die Existenz der Götter als wirklich annahm, nicht als bloße Vorstellung, so mußte er auch andere, schlimmere Erscheinungen als Tatsache akzeptieren. Dann mußte er akzeptieren, daß Siegfried vielleicht wirklich das war, was er während der Schlacht gegen die Sachsen und Dänen in ihm zu sehen geglaubt hatte. Und wenn es so war, dann mußte alles, was er, Hagen, tat, vergebens sein, denn er war trotz allem nur ein Mensch, und wenn sich die Sterblichen gegen die Götter erhoben, dann stand der Ausgang dieses Kampfes von vornherein fest. Er wußte, daß es so war. Er wußte, daß sich die Prophezeiung der Alten erfüllen würde. Das Geschlecht der Gibikungen würde untergehen, und alles, was er erreichen konnte, war, die Leiden des Unterganges noch zu verlängern. Wie die Alte gesagt hatte: ganz gleich, was er tat, es war falsch. Er befand sich in der Lage eines Mannes, der vor der Wahl stand, einen Freund zu opfern, um den anderen zu retten, und er wußte, daß seine Entscheidung Unheil und Leid heraufbeschwören würde, ganz gleich, wie sie ausfiel.
Sein Entschluß reifte, während er dalag und sein Körper sich langsam zum zweiten Mal vom Fieber erholte und neue Kräfte gewann. Es war ein langer und schmerzhafter Prozeß, aber am Ende erkannte er, daß ihm nur diese einzige Möglichkeit blieb. Sie würden ihn für einen Feigling halten, auch wenn niemand es aussprach, einen Mann, der sich wie ein Dieb in der Nacht davonschlich, weil er nicht den Mut hatte, zu seinem Wort zu stehen, aber vielleicht war es besser, sie verachteten ihn, als daß sie ihn haßten.
Er würde gehen. Er würde warten, bis er stark genug war, eine zehntägige Schiffsreise zu überstehen, dann würde er gehen. Er würde nicht dasein, wenn Siegfried um Kriemhilds Hand anhielt und Gunther sich mit hilfesuchendem Blick an ihn wandte und seinen Rat verlangte. Es war noch viel Zeit bis zum Pfingstfest, Zeit genug, gesund zu werden und zu gehen, still und ohne großes Aufsehen. Und wenn der Tag kam, an dem Kriemhild und Gunther die Entscheidung von ihm verlangten, eine Entscheidung, die, ob so oder so, einem von ihnen Unglück und vielleicht den Tod bringen würde, würde er nicht mehr da sein, sondern dort, wo er hingehörte und wo sein Platz war: in den eisigen weißen Einöden seiner Heimat. In Tronje.