14

Irgendwie gelang es ihm, in die Burg zurückzukommen, ohne angesprochen oder aufgehalten zu werden. Er erinnerte sich dunkel, vor seiner Kammer den jungen Giselher getroffen zu haben, ehe er die Tür hinter sich schloß und sich aufs Bett fallen ließ, wußte aber nicht mehr, ob und was sie miteinander geredet hatten. Es war, als hätte er selber mit all dem nichts zu tun, als beträfe es einen anderen. Der Schrecken war zu groß, als daß wirklich er es sein konnte, der all dies erlebte. Du kannst sie haben, Hagen. Das war alles, woran er denken konnte.

Wie verzweifelt mußte Gunther sein, ihm diesen Vorschlag zu machen? Wie tief hatten sich Angst und Entsetzen schon in seine Seele gefressen, daß er es wagte, diesen Gedanken auch nur zu denken? Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er sich vorgestellt, wie es wäre, auf Gunthers Vorschlag einzugehen. Wie es wäre, diesen Hund Siegfried endlich zu töten und Kriemhild in die Arme zu schließen... Hagen schob den Gedanken gewaltsam fort. Es war unvorstellbar, ein Traum, den zu träumen sogar schon verboten war, geschweige denn, wachen Sinnes daran zu denken.

Er stand auf und begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Schließlich trat er ans Fenster. Der Burghof lag unter ihm wie eine Spielzeuglandschaft, klein und bunt und von quirlender Bewegung erfüllt. Da war Giselher, der in seinem rotgoldenen Gewand aus den zahllosen Menschen hervorstach; am gegenüberliegenden Ende des Hofes, gleich bei den Ställen, das Blitzen von Stahl, wo ein Dutzend von Gunthers Kriegern darauf wartete, daß ihre Pferde gesattelt wurden. Aus den Essen stieg Rauch, und Stimmengewirr hing wie das Summen eines übergroßen Bienenschwarmes in der Luft. Er wandte sich um, von diesem Bild offenbarer Fröhlichkeit auf merkwürdige Weise angewidert, und trat an den Tisch. Wie jeden Tag hatten fürsorgliche Hände am Morgen einen Krug mit frischem Wein bereitgestellt. Für gewöhnlich rührte er ihn nicht an, sondern spülte den Nachgeschmack des Schlafes auf seiner Zunge mit einem Schluck Wasser hinunter. Jetzt griff er danach. Er goß den Becher randvoll und leerte ihn mit drei, vier gierigen Schlucken. Jemand klopfte an die Tür; leise, aber beharrlich. Hagen ging nicht, um zu öffnen. Statt dessen goß er sich den Becher noch einmal voll und starrte aus dem Fenster. Aber der Schmerz, der ihm die Brust zerriß, ließ sich auch durch den Wein nicht vertreiben. Als er den Kopf wandte, stand Alberich vor ihm. Hagen starrte den Zwerg erschrocken an und warf dann einen Blick zur Tür. Sie war verschlossen, der Riegel vorgelegt. »Wie ... wie kommst du hier herein, Zwerg?« fragte er verwirrt. Alberichs Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. »Ihr seid liebenswürdig wie immer, Hagen von Tronje«, sagte er. »Ist das eine Art, einen Freund zu begrüßen, den man seit drei Monaten nicht mehr gesehen hat?«

Hagen drehte sich ihm voll zu. Der Schmerz schlug plötzlich in Zorn um. Wütend streckte er die Hand aus, als wollte er den Zwerg packen. Alberich wich in gespieltem Entsetzen ein paar Schritte zurück. »Ich frage dich noch einmal - wie kommst du hier herein?« fuhr Hagen ihn an.

Alberich seufzte. »Seit wann halten mich verschlossene Türen auf, Hagen?« sagte er und fuhr im gleichen spöttischen Ton fort: »Und ich frage Euch noch einmal, Hagen - ist das Eure Art, alte Freunde zu begrüßen? Ihr seid seit zwei Tagen in der Stadt und habt nicht einmal nach mir gefragt Kann es sein, daß Ihr mir aus dem Weg geht? Oder versucht Ihr einfach, allen aus dem Weg zu gehen? Am Ende gar Euch selbst?« »Seit wann sind wir Freunde?« fragte Hagen.

»Ich habe Euch das Leben gerettet, nicht?« murmelte Alberich. »Und Eurem Bruder auch, wenn ich mich recht entsinne. Nennt Ihr das etwa keinen Freundschaftsdienst?« Hagens Hände ballten sich vor Zorn zu Fausten. »Was willst du hier, Zwerg?« fragte er. »Bist du gekommen, um mich zu quälen?« Alberich schüttelte den Kopf. Er schlug seine Kapuze zurück und sah Hagen mit einem prüfenden Blick an. »Ich bin hier, um Euch die Augen zu öffnen«, sagte er. »Was muß geschehen, bis Ihr endlich begreift, was Ihr zu tun habt?«

Hagen starrte den Zwerg an, ohne ihn richtig zu sehen. In seiner Seele war etwas erwacht, und es wurde stärker mit jedem Moment. Es hatte nichts mit Gunther oder Kriemhild oder selbst Siegfried zu tun. Es war ein Dämon, der am Grund jeder menschlichen Seele lauert. In ihm war er erwacht, gestärkt durch den Schmerz, der sein Lebenselixier war. Er konnte kaum noch klar denken. Alberich nickte. »Du wirst kämpfen müssen, Hagen«, sagte er ruhig. »Kämpfen wie nie zuvor in deinem Leben.« »Und... gegen wen?« fragte Hagen mühsam.

»Stellt Euch nicht unwissend, Hagen«, antwortete Alberich zornig. »Ihr wißt sehr wohl, von wem ich rede. Siegfried wird Euch fordern, sobald die Hochzeitsfeierlichkeiten vorüber sind.«

»Ich werde ihm keine ... Gelegenheit dazu geben«, murmelte Hagen. Er wankte und mußte sich an der Tischkante festhalten, um nicht zu stürzen.

Alberich tat so, als hätte er es nicht bemerkt. »Ihr wißt so gut wie ich, daß er einen Weg finden wird, einen Streit vom Zaun zu brechen, Hagen. Also spielt nicht den Narren. Das könnt Ihr tun, wenn Gunther oder einer der anderen in der Nähe ist. Aber wir sind allein.« »Verschwinde«, stöhnte Hagen. »Geh, Alberich. Ich ... ich will nicht.« »Was wollt Ihr nicht?« fauchte Alberich. »Mit mir reden? Oder die Wahrheit hören?« Er packte Hagen am Ärmel. »Was muß noch geschehen, bis Ihr begreift? Siegfried hat gewonnen, versteht Ihr das noch immer nicht?« Zornig rüttelte er an Hagens Arm. »In weniger als zwei Tagen wird dies alles hier ihm gehören.«

»Aber es gehört ihm doch längst«, murmelte Hagen. »Noch nicht«, fauchte Alberich. »Noch ist es nicht zu spät, Hagen! Solange der Bund zwischen ihm und Kriemhild noch nicht besiegelt ist, könnt Ihr ihn noch aufhalten.«

Hagen schloß die Augen. »Wie sollte ich ihn aufhalten können, Alberich?« fragte er. »Siegfried ist...«

»Zehnmal schneller und hundertmal stärker als Ihr«, fiel ihm Alberich ins Wort. »Und trotzdem könnt Ihr ihn besiegen. Ihr seid der einzige, der ihn schlagen kann. Siegfried weiß das. Warum, glaubt Ihr wohl, fürchtet er Euch so sehr?«

»Fürchten?« Hagen versuchte zu lachen. Er griff nach dem Krug, füllte seinen Becher und trank, ohne darauf zu achten, daß der Wein auf seine Brust herabtropfte.

»Ja«, sagte Alberich. »Er fürchtet Euch, Hagen. Ihr kennt die Geschichte vom Drachenkampf, die man sich über ihn erzählt. Seine Haut soll in Drachenblut gehärtet sein, das ihn unverwundbar macht. Nur eine Stelle zwischen seinen Schultern blieb ungehömt, weil dort ein Lindenblatt niederfiel und seine Haut bedeckte.« »Unsinn«, sagte Hagen.

»O nein«, erwiderte Alberich ernsthaft. »Dieses Lindenblatt hat einen Namen. Sein Name ist Hagen, und Siegfried weiß es. Er hat zweimal versucht, Euch zu töten, und er wird es wieder versuchen. Ich weiß nicht, wie oft ich Euch noch schützen kann. Auch meine Macht ist begrenzt« Hagen wandte sich mit einem Ruck um und trat ans Fenster. Schon zu Anfang ihres Gespräches hatte Alberich - indirekt - zugegeben, daß er es gewesen war, der Dankwart und ihn in jener Nacht in Island vom Lager fortgelockt und dadurch gerettet hatte. Hagen hatte es vom ersten Moment an geahnt, aber er hätte niemals gedacht, daß der Zwerg den Verrat den er an Siegfried begangen hatte, so offen zugeben würde. »Was willst du?« fragte er zum zweitenmal. »Sag, was du willst, Zwerg, oder verschwinde endlich. Ich bin es müde, immer nur zu reden und zu reden.«

»Dann hört damit auf und kämpft«, antwortete Alberich. Hagen drehte sich um. Er stand am Fenster; sein Schatten legte sich über die schmale Gestalt des Albenkönigs, und für einen Moment sah es aus, als löse sich Alberich in fließender Schwärze auf. »Es ist sinnlos, Alberich.«

»Ihr gebt auf?« fragte Alberich ungläubig. »Ihr, Hagen von Tronje, gebt einen Kampf verloren, ehe er beendet ist?« Hagen nickte. »Wenn du es so nennen willst - ja.« Sonderbarerweise antwortete der Zwerg nicht mehr. Lange blickte er ihn an, dann schüttelte er den Kopf und starrte an Hagen vorbei aus dem Fenster.

»So hat er gesiegt«, flüsterte er. Seine Stimme klang traurig. »Ihr wart meine letzte Hoffnung, Hagen. Jetzt gibt es niemanden mehr, der ihn aufhalten kann. Gunther wird sterben, und seine Brüder und Ihr auch, und viele andere dazu.«

»Sterben wir nicht alle früher oder später?« fragte Hagen. »Aber nicht so sinnlos. Nicht so!« Alberich stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Wollt Ihr alles aufgeben? Wollt Ihr all Eure Freunde ihrem Schicksal überlassen? Was ist mit dem Schwur, den Ihr Gunthers Vater geleistet habt, mit Eurem Leben für das Wohl seiner Söhne und Kriemhilds einzutreten?«

»Und was ist mit deinem?« fragte Hagen. »Hast du nicht Siegfried die Treue geschworen? Jetzt stehst du hier und sagst mir, daß ich ihn töten soll. Wie geht das zusammen?«

»Besser, als Ihr glaubt«, sagte Alberich. »Ich habe ihm Treue geschworen, und ich halte diesen Schwur. Würde er mich auffordern, Euch zu töten, täte ich es. Trotzdem stehe ich auf Eurer Seite.«

»Siegfried wäre niemals hierhergekommen, gäbe es dich nicht Vielleicht sollte ich dich erschlagen statt Siegfried.«

»Dann tut's doch!« schrie Alberich. »Zieht endlich Euer Schwert und tut etwas, Hagen!«

Hagen machte eine hilflose Geste. »Laß mich, Zwerg«, sagte er tonlos. »Ich will nicht mehr. Ich bin müde.«

Alberich starrte ihn böse an. »Ihr lügt«, sagte er. »Ihr seid nicht müde. Ihr habt Angst. Angst, einen Fehler zu begehen, noch einmal das Falsche zu tun, wie vorhin, als Ihr Gunther geschlagen habt« »Du weißt es?« Hagens Stimme war frei von Überraschung oder Zorn. Ja, es hätte ihn gewundert, hätte Alberich nicht davon gewußt »So weit hat er Euch schon getrieben«, sagte Alberich, ohne auf Hagens Frage direkt einzugehen. »Weit genug, daß Ihr die Hand gegen den Mann erhoben habt, den Ihr notfalls mit Eurem Leben schützen würdet Was muß noch geschehen? Muß Siegfried erst Kriemhild ein Leid antun, bevor Ihr endlich zur Vernunft kommt?« »Das wird er nicht«, antwortete Hagen ruhig. Alberich kniff die Augen zusammen, daß sein Gesicht zu einer häßlichen, faltigen Grimasse wurde. »Bist du sicher?« fragte er. Hagen nickte. »Vollkommen. Er liebt sie, Alberich.« »Liebe! Pah!« Alberich machte eine wegwerfende Handbewegung. Hagen lächelte. »Siehst du, Alberich, es gibt doch etwas, was du nicht verstehst. Er liebt sie. Wenn auch auf seine Art.« »So wie du?«

Hagen zuckte zusammen. Wieder begann sich alles zu verwirren und um ihn zu drehen. Alberich wurde zu einem tanzenden Schatten, den er nicht festhalten konnte, sosehr er sich auch bemühte. Hagens Hände schlössen sich so fest um den leeren Becher, daß er zwischen seinen Fingern zerbrach. »Jetzt wolltest du mich erwürgen, nicht?« fragte Alberich, und Hagen war plötzlich davon überzeugt, daß der Zwerg seine Gedanken las. »Aber du willst es gar nicht wirklich, Hagen, so wenig, wie der Schlag, den du Gunther versetzt hast, in Wahrheit ihm galt. Er galt dir selbst. Du haßt dich, weil du schwach gewesen bist.« Er lachte. »Oh, Hagen, wie mußt du leiden, wenn du am Sonntag den Nibelungen mit Kriemhild zum Altar schreiten siehst.«

»Das werde ich nicht«, sagte Hagen bestimmt.

Er drehte sich unvermittelt um, ging zu seinem Bett und streifte das Gewand über den Kopf. Mit schnellen Bewegungen legte er sein altes schwarzes Gewand an, schlüpfte in Kettenhemd und Stiefel und band sich den metallbeschlagenen Gurt um, an dem sein Schwert hing. »Du gehst also fort«, stellte Alberich fest.

Hagen nickte, ohne den Zwerg anzusehen. Langsam nahm er den Helm auf, stülpte ihn über und befestigte den ledernen Kinnriemen. Er wandte sich um, ging zur Wand neben dem Fenster und nahm den zerschrammten Rundschild herunter, der dort hing. Sein Gewicht zerrte schwer an seinem Arm. Er stieß Alberich aus dem Weg und ging zur Tür. »Du überläßt Kriemhild ihrem Schicksal?« fragte Alberich. Hagen starrte ihn an.

»Du gibst sie dem Nibelungen? Das kann ich nicht glauben. Nicht die Frau, der dein Herz gehört.«

»Vielleicht gerade darum«, antwortete Hagen. »Und nun geh mir aus dem Weg, Zwerg.«

Alberich seufzte und schüttelte den Kopf.

»Es ist noch nicht vorbei, Hagen!« rief er ihm nach. »Wir werden uns wiedersehen!«

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