5

Über dem Lager lag das Schweigen des Todes. Das Feuer war erloschen, zertrampelt von eisenbeschlagenen Hufen und erstickt von dem leblosen Körper, der darüber lag und sein Blut in die Asche verströmte. Hagen starrte das furchtbare Bild an, und obgleich er geahnt hatte, was sie erwartete, weigerte er sich, den Anblick zur Kenntnis zu nehmen. Er spürte nicht einmal seine Schwäche, obwohl sie ihn wanken ließ, nicht einmal die Wunde in seiner Brust, obgleich sie immer stärker brannte und ihm der Schmerz die Tränen in die Augen trieb. Die letzte Meile waren sie mehr getaumelt als gelaufen. Der Wind, der ihnen auf dem Wege zum Isenstein in die Gesichter geblasen hatte, war nun in ihrem Rücken gewesen und hatte sie geschoben wie eine unsichtbare Hand, die sie nicht rasch genug hierherbringen konnte an diese Stätte des Unheils. Dennoch wollte der Weg über die heiße Lava und danach durch den frisch gefallenen Schnee anscheinend kein Ende nehmen. Erst ein paar Steinwürfe vom Lager entfernt waren sie auf die Spuren gestoßen. Spuren von Pferden, die in breiter Front dahingaloppiert sein mußten, so daß der Schnee in weitem Umkreis zertrampelt war und der schwarze Lavaboden darunter zum Vorschein kam. Trotzdem hatte Hagen bis zum letzten Moment gehofft, nicht dieses Bild sehen zu müssen: den zertrampelten, mit bräunlichen Blutflecken besudelten Schnee, in den zerbrochene Waffen und die Fetzen von Kleidern und Zaumzeug ein wirres Muster zeichneten, und schließlich die Toten, die um das erloschene Feuer und unter der Felswand lagen, wohin einige in hilfloser Verzweiflung zurückgewichen waren, um sich gegen die Übermacht der Reiter zu verteidigen.

Es mußte sehr schnell gegangen sein. Etwa die Hälfte der Männer war im Schlaf überrascht und auf der Stelle getötet worden, und auch von den anderen hatten nur die wenigsten Zeit gefunden, zu ihren Waffen zu greifen. Die Nacht mußte die Mörder wie Gespenster ausgespien haben, den Spuren nach ein Dutzend Berittener, das ohne Gnade über die gleiche Anzahl schlafender Männer hergefallen war. Nicht alle der Toten waren durch den Speer oder das Schwert gestorben; einige lagen mit verdrehten, gebrochenen Gliedern da, als wären sie wie Vieh über den Haufen geritten worden, und aus dem Nacken des Mannes, der über dem Feuer zusammengesunken war, ragte die Spitze eines schlanken Pfeiles. »Sie ... sie haben sogar die Pferde umgebracht«, murmelte Dankwart fassungslos.

Hagen wandte den Kopf und blickte in die Richtung, in die sein Bruder deutete. Die Graustute, die er aus Tronje mitgebracht und auf dem Weg hierher geritten hatte, lag mit gebrochenen Vorderbeinen wenige Schritte neben dem Feuer. Der Schnee unter ihrem Leib hatte sich dunkel gefärbt und ihre linke Flanke war eine einzige Wunde, wo eiserne Hufe ihr Fell aufgerissen hatten.

Hagen ging auf den Kadaver des Tieres zu, kniete neben ihm im Schnee nieder und streichelte seinen Hals. Sein Fell war noch warm. Das Pferd hatte ihm nicht viel bedeutet, sondern war nur von praktischem Nutzen gewesen, weil es ein gutes und ausdauerndes Tier war, aber als er in seine offenstehenden Augen blickte, spürte er einen plötzlichen, heftigen Anflug von Mitleid.

»Wer tut so etwas?« murmelte Dankwart.

Hagen hörte die Schritte seines Bruders im Schnee knirschen, während er immer schneller zwischen den Toten hin und her ging, als versuche er wider besseres Wissen, noch irgendwo eine Spur von Leben zu entdecken. Hagen antwortete nicht. Aber vor seinem inneren Auge stand das Bild eines riesenhaften, gesichtslosen Kriegers, der mit der Kraft eines Gottes und der Gnadenlosigkeit eines Dämons focht, ohne Furcht, ohne Mitleid, lautlos und schweigend wie ein Schatten. Er hatte nicht einmal geschrien, als ihn Dankwarts Schwert traf.

Hagen erhob sich, um die Toten unter dem Felsen zu betrachten. Er entdeckte Arnulf als einen der wenigen, die Zeit gefunden hatten, ihre Waffen zu ziehen. Sein Gesicht und sein Hals waren verstümmelt, sein Schwertarm gebrochen und der Ärmel zerfetzt, aber das Schwert in seiner Hand schimmerte glatt und sauber, ohne einen Tropfen Blut. Wie unter einem magischen Zwang faßte Hagens Hand an seinen Gürtel und zog das Schwert aus der Scheide.

Dankwart fuhr erschrocken herum, als er das Scharren der Klinge hörte. »Was ist geschehen?« fragte er.

Hagen starrte die Klinge in seiner Hand an. Dann sah er zu seinem Bruder auf und sagte: »Zeig dein Schwert, Dankwart.« Dankwart schüttelte den Kopf, als zweifle er an Hagens Verstand, holte jedoch die Waffe hervor. Seine Klinge schimmerte im schwachen Licht der Sterne, als wäre sie frisch poliert. Nicht die geringste Blutspur war auf dem gehämmerten Stahl zu erkennen. So wenig wie auf der Waffe Hagens. Es dauerte einen Moment, bis Dankwart begriff. Dann warf er das Schwert von sich, als hätte es sich in eine giftige Viper verwandelt »Was ...?« stammelte er. »Bei den Göttern, Hagen, ich ... ich habe ihn erschlagen. Ich ...« Er verstummte, bückte sich entschlossen nach seiner Waffe und drehte sie vier- oder fünfmal in den Händen. »Das ist Zauberei!« rief er. »Das ist...« Wieder brach er mitten im Satz ab. Diesmal jedoch, um lauschend den Kopf zu heben. Er starrte an Hagen vorbei über die Lichtung und in die sich verdichtende Dunkelheit. Plötzlich richtete er sich auf, packte sein Schwert fester und bedeutete Hagen, sich ebenfalls zu wappnen. »Jemand kommt«, sagte er. »Reiter!«

Nun hörte es auch Hagen: ein neuer Laut hatte sich in das Singen des Windes gemischt; ein dumpfes Trommeln, das von einem leisen Zittern der Luft begleitet wurde. Er glaubte in der verschwimmenden Ferne Schatten und tanzende Bewegung zu sehen, aber er wußte, daß es Einbildung war. Endlose Minuten vergingen, ehe einer der schwankenden Schatten zum Umriß eines Reiters heranwuchs. Es waren nicht die Mörder. Hagen wußte es im gleichen Moment, in dem der Reiter sein Tier wenige Schritte vor ihm und seinem Bruder zügelte und hinter dem ersten mehr und mehr Reiter aus der Dunkelheit auftauchten. Dieser war groß und fremdartig gekleidet, aber er war ein Mensch, anders als der mordende Schatten, gegen den Dankwart und er gefochten hatten.

Der Reiter trug einen Harnisch aus blitzendem Gold, verziert mit silbernen Schlangenlinien und Symbolen, deren Bedeutung Hagen nicht kannte, darüber einen Mantel aus Eisbärenfell, weiße wollene Hosen und Stiefel aus metallbesetztem Leder, die bis über die Knie reichten. Seine rechte, mit einem schweren goldenen Kettenhandschuh gepanzerte Hand hielt die Zügel eines gewaltigen Streitrosses, während der linke Arm und die Schulter fast zur Gänze hinter einem mächtigen Rundschild - auch er aus Gold - verborgen waren, auf dem ein Wort in Runenschrift geschrieben stand. Auf den Schultern des Reiters schließlich saß ein goldener, bis auf zwei dünne Sehschlitze vollkommen geschlossener Helm, gekrönt von zwei weitgespreizten Adlerschwingen. An seinem Sattel, dort, wo andere einen Speer getragen hätten, klirrte ein mannslanger Bihänder. Hagen musterte schweigend den Reiter und das gute Dutzend gleichartiger Gestalten. Die Reiter starrten ebenfalls wortlos auf ihn und seinen Bruder hinab.

Endlich senkte Hagen sein Schwert, bis dessen Spitze den Schnee zwischen seinen Füßen berührte, steckte es jedoch noch nicht weg. Nach kurzem Zögern folgte sein Bruder seinem Beispiel. Dann teilte sich der Halbkreis der Reiter und gab den Blick auf eine weitere zu Pferde sitzende Gestalt frei. Hagen traute seinen Augen nicht, als er Alberich erkannte, der wie ein Kind im Sattel des riesenhaften Streitrosses hockte. »Alberich!«

»Ganz recht, Hagen von Tronje«, sagte der Zwerg. Mit einem Schenkeldruck lenkte er sein Pferd zwischen den behelmten Reitern, die - wie Hagen sehr wohl bemerkte - vor ihm zurückwichen, hindurch, ritt auf Hagen zu und verhielt so dicht vor ihm, daß seine baumelnden Füße beinahe in Hagens Gesicht stießen. Hagen hatte das Gefühl, daß sich der Zwerg verändert hatte. Er schien ernster und von Sorge erfüllt, worüber das starre Grinsen auf seinen blutleeren Lippen nicht hinwegtäuschen konnte. »Ich frage mich«, begann Alberich, nachdem sie sich einen Moment lang schweigend gemustert hatten, »ob ich gekränkt sein soll, daß Ihr so wenig Freude zeigt, mich wiederzusehen. Ist das eine Art, alte Freunde zu begrüßen?« Er drehte den Kopf mit kleinen, vogelartigen Rucken nach rechts und links. »Sind wir zu früh gekommen oder zu spät? Habt Ihr diese Männer erschlagen?« Er wartete nicht auf die Antwort, sondern lenkte sein Pferd zu dem erloschenen Feuer, blickte auf den Toten und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Das wart Ihr nicht. Hagen von Tronje hätte sauberere Arbeit geleistet. Nicht eine solche Schlächterei.«

»Wo kommst du her?« fragte Hagen leise. Er hatte seine Überraschung noch nicht ganz überwunden. Sein Bruder sagte kein Wort, sondern starrte nur abwechselnd den Zwerg und die maskierten Reiter an. »Ich komme geradewegs vom Isenstein«, antwortete Alberich mit einer Kopfbewegung in die Nacht hinaus. »Mein Herr und ich sind Gäste Brunhilds, und...«

»Das weiß ich«, unterbrach ihn Hagen ungeduldig. »Spiel nicht den Narren, Zwerg. Du weißt genau, was ich wissen will! Was tust du hier, und wer sind diese Reiter?«

Alberich stemmte die Hände in die Hüften und blickte Hagen strafend an. »Ihr habt Euch nicht geändert«, sagte er spöttisch. »Aber bitte, wenn Ihr Euch nicht gedulden könnt: Brunhilds Reiter brachten Kunde von Fremden, die in ihr Reich eingedrungen seien, und da es nur wenige gibt, die die Tollkühnheit besitzen, sich ungebeten dem Isenstein zu nähern, wußte ich, daß Ihr...« »Woher wußtest du...?«

Alberich kicherte. »Der Wind, Hagen«, sagte er. »Der Wind und die Nacht. Habt Ihr vergessen, daß es für den König der Alben keine Geheimnisse gibt?«

»Dann weiß es auch Siegfried«, murmelte Dankwart »Natürlich. Aber bevor Ihr jetzt falsche Schlüsse zieht, laßt Euch sagen, daß er es war, der Brunhild bat, nach euch suchen zu lassen und für eure sichere Ankunft auf Isenstein zu sorgen.« Alberich seufzte und fügte hinzu: »Zu Recht, wie mir scheint. Was ist geschehen?« »Das wissen wir nicht«, sagte Hagen schnell, um Dankwart mit der Antwort zuvorzukommen. Er spürte, daß die Selbstbeherrschung seines Bruders nicht mehr lange anhalten würde. Dankwarts Gesicht war weiß vor Wut Vielleicht hielt er den Zwerg für schuldig oder wenigstens für mitschuldig an dem, was hier geschehen war.

»Ihr wißt es nicht?« fragte Alberich ungläubig. »Ich finde euch mit dem Schwert in der Hand inmitten eines Dutzends toter Männer, und Ihr wißt nicht, was geschehen ist?« »Wir waren nicht hier«, sagte Hagen. »Habt ihr etwas Bestimmtes gesucht?«

»Das geht dich nichts an, Zwerg«, erwiderte Hagen grob. »Als wir zurückkamen, lagen unsere Begleiter erschlagen da. Wir wären wohl auch tot, wären hier hier gewesen.«

Alberich nickte und stieß Hagen mit der Fußspitze gegen die Brust. Hagen unterdrückte einen Schmerzenslaut, als er die frische Wunde traf. »Mir scheint, jemand hat andernorts versucht, dies nachzuholen«, sagte der Zwerg ernsthaft Hagen schlug seinen Fuß beiseite. »Was geht das dich an!« fauchte er. »Steck deine Nase nicht zu tief in meine Angelegenheiten, sonst schneide ich sie dir ab!« Er hob drohend das Schwert.

Die Bewegung war so schnell, daß Hagen sie nicht einmal sah. Einer der Reiter stieß einen scharfen, bellenden Laut aus, schmetterte HagensSchwert mit der Kante seines Schildes beiseite und setzte Hagen die Spitze seiner eigenen Klinge auf die Kehle, daß der geschliffene Stahl seine Haut ritzte, jedoch ohne einen Tropfen Blut hervorzulocken. Hagen bog den Kopf in den Nacken, um der Klinge auszuweichen, aber vergeblich. Als er in das dunkle Augenpaar hinter den Sehschlitzen des goldenen Helmes blickte, wußte er, daß der Reiter zustoßen würde, wenn er nur eine falsche Bewegung machte. »Was ... was soll das?« keuchte er. »Ruf ihn zurück, Zwerg!«

Alberich kicherte. »Wie kommt Ihr auf die Idee, daß es in meiner Macht stünde, Brunhilds Leibgarde irgend etwas zu befehlen, Hagen von Tronje?« fragte er.

Hagen schluckte den Fluch herunter, der ihm auf der Zunge lag, und ließ endlich sein Schwert fallen. »Gut so.« Alberich nickte. »Ich sehe, Ihr seid zwar unbeherrscht, aber vernünftig, Hagen. Laßt ihn. Es war nur ein Scherz, wenn auch kein guter. Laßt ihn gehen.« Die letzten Worte waren an den goldgepanzerten Reiter gerichtet, und dieser senkte nach kurzem Zögern seine Waffe und ließ sein Pferd einige Schritte rückwärts gehen.

Vorsichtig bückte sich Hagen nach seiner Waffe, rieb mit dem Handballen die Schneespuren von der Klinge und steckte das Schwert hastig in die Scheide.

»Wie hast du ihn genannt?« fragte er. »Brunhilds Leibgarde?« »Sie«, verbesserte Alberich. »Ihr solltet wissen, Hagen, daß Brunhild keinen Mann in ihrer Nähe duldet.« Er lachte hämisch. »Ich hoffe, es verletzt nicht Euren Stolz, von einer Frau besiegt worden zu sein.« Alberich sprang behende vom Pferd, kniete neben dem Toten im erloschenen Feuer nieder und zog mit einem Ruck den Pfeil aus dessen Hals. »Das ist sonderbar«, murmelte, er nachdem er das schlanke Geschoß eine Zeitlang in den Händen gedreht und betrachtet hatte. »Was?« Hagen trat neugierig neben ihn.

»Dieser Pfeil.« Alberich hielt ihm das Geschoß hin und machte eine auffordernde Kopfbewegung, als Hagen zögerte, danach zu greifen. Der Pfeil fühlte sich seltsam an. Im ersten Moment glaubte Hagen, es wäre die Kälte, die seine Haut taub machte, so daß sich das Holz anfaßte wie glattpolierter Stahl. Aber dann hob er ihn näher an die Augen und sah, daß er wirklich aus einem ihm unbekannten Material gefertigt war. Der Pfeil war glatt wie Glas und wog scheinbar nichts in seiner Hand, dazu war er dünner als jeder übliche Pfeil, aber als Hagen versuchte, ihn zu zerbrechen, ging es nicht: Der Pfeil bog sich durch wie frisches Weidenholz und federte mit einem sirrenden Laut zurück in seine Form, als Hagen losließ.

Und noch etwas. Es war, als lebte der Pfeil. Als strömte durch ihn eine dunkle, geheimnisvolle Kraft, wie Blut durch die Adern eines Lebewesens. Die Kraft, zu töten um jeden Preis.

Hagens Hände begannen zu zittern, so daß er Mühe hatte, den Pfeil zu halten. »Was ist das?« Alberich zuckte mit den Schultern. »Wie sollte ein dummer Alb wie ich mehr wissen als der große Hagen von Tronje?« Der Klang seiner Stimme täuschte. In Alberichs Augen flackerte Angst Und plötzlich, ganz leise, sagte Hagen: »Dieser Pfeil wurde nicht von Menschenhand geschaffen.« Alberich nickte. »Ich weiß«, antwortete er. »Aber woher weiß du es?« Hagen antwortete nicht, sondern warf den Pfeil von sich in den Schnee. Alberich stellte keine weitere Frage. Statt dessen winkte er eine von Brunhilds Kriegerinnen herbei. Hagen verstand nicht, was sie miteinander redeten, denn sie bedienten sich einer Sprache, der er nicht mächtig war. Schließlich wandte sich die Reiterin um und verschwand in der Dunkelheit. Kurz darauf kehrte sie mit zwei gesattelten Pferden am Zügel zurück »Du hast an alles gedacht«, sagte Hagen anerkennend. Alberich nickte. »Dazu bin ich da.«

»Wie hast du gewußt, daß wir nur zwei Pferde brauchen würden?« Alberich zögerte einen Moment mit der Antwort. »Ich habe es nicht gewußt. Ich habe gehofft, daß noch zehn mehr nötig sein würden und ich sie nicht mit leeren Sätteln zurück in den Isenstein würde bringen müssen.«

Hagen starrte ihn an. Dann wandte er sich wortlos um und schwang sich in den Sattel.

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