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Eine Hand rüttelte an seiner Schulter, nicht sehr heftig, aber ausdauernd, und ein Gesicht hing über ihm, als er die Augen aufschlug. »Dankwart?« murmelte er verschlafen. »Was ...« Dankwart schüttelte mahnend den Kopf und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Er bedeutete Hagen mit Gesten, aufzustehen und ihm zu folgen. Für einen Moment verspürte Hagen eine widersinnige Wut auf seinen Bruder; er war müde und wollte nichts anderes als schlafen. Aber dann nickte er, wickelte sich umständlich aus seinen Decken und stemmte sich hoch.

Die Kälte sprang ihn an, als er sich vom Feuer fortwandte, um Dankwart ein paar Schritte zu folgen, gerade weit genug, daß die anderen ihre geflüsterten Worte nicht verstehen konnten.

Das Schneetreiben hatte aufgehört, und im schwachen Licht des Mondes konnte man jetzt die nächste Umgebung ungefähr einen Steinwurf weit erkennen. »Was ist geschehen?« fragte Hagen etwas zu laut; er hatte vor Kälte und Müdigkeit seine Stimme noch nicht wieder unter Kontrolle. »Spuren«, flüsterte Dankwart »Es sind Spuren im Schnee.« Er ergriff Hagen am Arm und zog ihn noch ein Stück weiter vom Feuer fort. »Ich erwachte von einem Geräusch«, berichtete er. »Ich glaube, jemand gesehen zu haben: eine Gestalt, die um das Lager schlich, vielleicht auch mehrere.«

»Du glaubst?« fragte Hagen. »Was heißt das? Hast du jemanden gesehen oder nicht?«

Dankwart zögerte. »Ich ... bin mir nicht sicher«, gestand er. »Es war nicht mehr als ein Schatten. Aber ich stand auf und sah nach. Dort.« Er wies mit einer Kopfbewegung nach Norden. Dann ließ er Hagens Arm los und stapfte vor ihm her durch den Schnee. Als sie aus dem Windschatten des Felsens traten, schlug ihnen der Sturm in die Gesichter, aber wenigstens vertrieb er endgültig die bleierne Müdigkeit aus Hagens Gliedern und aus seinem Kopf.

Sie gingen nicht sehr weit. Schon nach wenigen Schritten blieb Dankwart stehen. Er bedeutete Hagen, vorsichtig zu sein, und ließ sich in die Hocke nieder. Behutsam trat Hagen neben ihn und beugte sich vor. Die Spuren waren da, wie Dankwart gesagt hatte: zwei Reihen parallel verlaufender, regelmäßiger Eindrücke im frisch gefallenen Schnee, nicht besonders tief und so klein, als stammten sie von Kinderfüßen. Sie konnten noch nicht sehr alt sein, denn obgleich der Sturm über den Boden fegte und kleine weiße Staubwirbel über die Schneedecke blies, waren die Spuren noch deutlich zu erkennen. Wer immer hier gegangen war, war noch nicht weit fort. Wenn er fort war.

Erschrocken richtete sich Hagen auf und versuchte vergeblich, die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen. Nichts rührte sich. Die Spuren verloren sich in der Schwärze der Nacht, in deren Schutz ein ganzes Heer lauern konnte.

»Soll ich die anderen wecken?« fragte Dankwart. Hagen schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er leise. Er warf einen Blick zum Lager zurück. »Geh und hole mein Schwert und meinen Schild«, bat er. »Ich werde selber nachsehen, wer sich da an uns anzuschleichen versucht.«

Dankwart machte keinen Versuch, Hagen von seinem Vorhaben abzubringen. Er wußte, daß es zwecklos war. Gehorsam wandte er sich um und stapfte die wenigen Schritte zum Lager zurück Hagen ließ sich nun ebenfalls in die Hocke sinken, wobei er sorgsam darauf achtete, daß kein Schnee in die kniehohen Schäfte seiner Stiefel geriet, streifte mit den Zähnen den Handschuh von der Rechten und berührte einen der fremden Fußabdrücke mit den Fingern. Der Schnee war so locker, daß die sanfte Berührung seines Zeigefingers ausreichte, den Finger zur Hälfte einsinken zu lassen. Und als hätte die Berührung einen Bann gebrochen, fuhr der Wind in den kaum handgroßen Abdruck und verwehte ihn binnen weniger Sekunden.

Dankwart kam zurück, seinen eigenen und Hagens Schild und ihre beiden Schwerter im Arm. Hagen band sich mit raschen Griffen den Waffengurt um, schob die linke Hand durch die ledernen Schlaufen des Schildes und zog sie dann wieder zurück, um sich den Schild über den Rücken zu hängen. Dankwart verfuhr ebenso, mit genau den gleichen, wie aufeinander abgestimmten Bewegungen. »Geh und wecke Arnulf«, sagte Hagen leise. »Aber nur ihn. Er soll warten und die Augen offenhalten. Nicht mehr. Es hat keinen Sinn, die Männer in Panik zu versetzen, nur um eines Verdachtes willen.«

»Das habe ich schon getan«, sagte Dankwart. Hagen lächelte dankbar. Für einen Moment spürte er wieder das unsichtbare Band, das ihn mit seinem Bruder verband, so wie früher, als sie beide noch Kinder waren und die Welt für sie groß und wunderbar und voller Abenteuer war. Dann empfand er wieder nur Kälte und dumpfe Erschöpfung. Und Furcht.

Sie gingen los, ohne ein weiteres Wort der Verständigung, so, wie sie stets taten, wenn sie einen Feind in der Nähe wähnten - Hagen mit gezücktem Schwert voraus, sein Bruder zwei Schritte schräg hinter ihm, um seine linke Seite zu decken. Die Spur führte ein Stück geradeaus und bog dann plötzlich in scharfem Winkel nach rechts ab, direkt auf die zerklüftete Flanke der Felswand zu, in deren Schutz sie lagerten. Hagen blieb stehen. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, so daß er nun ein wenig besser sehen konnte; aber nicht viel. Zumindest erkannte er, daß sich die Spuren in losem Felsgestein verloren und nach wenigen Schritten wieder auftauchten, eine Schneewehe überwindend und dann in einem jäh aufklaffenden Riß verschwindend, der den Berg spaltete wie ein Axthieb. »Das gefällt mir nicht«, murmelte Dankwart.

Hagen antwortete nicht Er trat dicht an den Felsspalt heran und versuchte vergeblich, etwas darin zu erkennen.

»Es könnte eine Falle sein«, fügte Dankwart besorgt hinzu. »Ein einziger Bogenschütze dort drinnen, und wir beide sind tot.« Hagen zuckte gleichmütig mit den Schultern. Er glaubte nicht, daß es eine Falle war. Jedenfalls keine Falle dieser Art. Würde ihnen derjenige, dessen Spuren sie verfolgten, nach dem Leben trachten, hätte er sich nicht die Mühe machen müssen, sie vom Lager fortzulocken, erschöpft wie sie alle waren. Nein - wenn es eine Falle war, dann eine ganz anderer Art Und dann waren sie längst hineingetappt. Er ging weiter. Die Dunkelheit verdichtete sich zu vollkommener Finsternis, als er in den Felsspalt eindrang. Der Boden war hier nahezu schneefrei, unter seinen Stiefeln knirschten kleine Steine und von der Kälte glashart zusammengebackenes Erdreich. Aus verschiedenen Anzeichen, die er mit Händen und Füßen ertasten konnte - hier ein vorspringendes loses Felsstück, dort ein verschobener Stein, unter dem das feuchte Erdreich zum Vorschein gekommen war - schloß er, daß er einer mit Vorbedacht gelegten Spur folgte. Mit dem Wissen des erfahrenen Kriegers erkannte er, daß nichts davon Zufall war. Der Gedanke erfüllte ihn mit Zorn. Er haßte es, wenn andere bestimmten, was er zu tun hatte. Der Spalt war lang. Hagen zählte annähernd fünfzig Schritte, ehe der bleiche Schein am jenseitigen Ende des Ganges erreicht war. Hagen trat auf eine schneebedeckte Fläche hinaus, die ringsum von steil aufragenden Felswänden umgeben war. Der Himmel hatte aufgeklart Eine Krüppelkiefer, die ihre Wurzeln in den geborstenen Fels dicht am Ausgang gegraben hatte, warf im hellen Sternenlicht einen Schatten auf den Schnee, der unzählige Arme und Krallenhände von sich streckte. Das ferne Heulen des Windes klang unheimlich und bedrohlich. Hagen wartete, bis sein Bruder neben ihn getreten war und sich ebenfalls rasch und mißtrauisch umgesehen hatte. Hagen deutete schweigend auf die Spur, die nun wieder deutlich zu sehen war. Dankwart nickte. Sie gingen los.

Die Spur führte in anscheinend sinnlosen Kehren und Schleifen durch das Tal und endete abermals an einem Felsspalt, etwas schmaler als der erste, durch den sie gekommen waren. Diesmal zögerte Hagen nicht, ihn zu betreten. Der Lärm, den seine Schritte auf dem rauhen Lavagestein verursachten, mußte in der Nacht weit zu hören sein. Hagen nahm keine Rücksicht darauf. Wer immer diese Spur gelegt hatte, wollte, daß sie ihr folgten.

Dann hatten sie den engen Tunnel durchschritten und standen am Fuß einer weiten, sanft abfallenden Ebene. Durch das Tosen des Sturmes war ein anderes, dumpfes Donnern zu hören, und in der Ferne, sicher noch Meilen entfernt, aber in der nun sternenhellen Polarnacht scheinbar auf Armeslänge herangeholt, dehnte sich nach beiden Seiten das Meer wie ein riesiger, matt glänzender Spiegel. Davor, direkt aus der Ebene emporwachsend, erhob sich der Isenstein. Hagen schauderte. Der schwarze Block, auf dessen Gipfel sich die Festung der Walküre reckte, war kaum hundert Manneslängen hoch, aber so steil, daß seine Flanken nahezu lotrecht in die Höhe strebten, dem Gipfel zu sogar überhingen, als wäre der Berg ein versteinerter Riesenpilz. Gewaltige Risse und Spalten klafften im Fels und ließen Hagen an ein ungeheures Spinnennetz denken, das den ganzen Berg einspann. Nur an einer einzigen Stelle schien es so etwas wie einen Weg zu geben, eine steile, vielfach gewundene Rampe, die in kühnem Winkel in die Höhe führte.

Und die Burg? Hagens Atem stockte für einen Moment, als er sie sah. Wie der Berg, von dem sie ihren Namen entliehen hatte, war die Burg nicht sehr groß; kaum größer als Tronje und längst nicht so gewaltig wie Worms. Aber sowie Hagen einen Blick darauf geworfen hatte, wußte er ; daß sie nicht von Menschenhand geschaffen war. Die alten Sagen hatten recht. Dies war die Wohnung der Walküren, eine Burg, wie sie nur die Götter und unter ihnen nur Odin selbst erschaffen konnte. Burgen wie diese mußten es gewesen sein, in denen die Asen mit den Wanen fochten, in den alten Zeiten, ehe die Menschen kamen, Burgen aus geballtet Finsternis und gestaltgewordener Kraft, gewaltige vieltünnige Gebilde von der Farbe der Nacht, deren Anblick den Menschen schwindeln machte. Isenstein glich einer geballten Faust aus Granit, ihre Türme waren wie abgebrochene Pfeiler, die einst den Himmel getragen hatten, und obwohl sie - wieder einmal meldete sich der Krieger in Hagen zu Wort - die vollendetste Verteidigungsanlage war, die er je gesehen hatte, schien nichts daran künstlich geschaffen oder von Menschenhand bearbeitet zu sein. Ihre Zinnen waren spitze Lavaströme, und ihre Tore waren pupillenlose Dämonenaugen, die aufmerksam auf das Land unter sich hinunterblickten. Selbst ihre Farbe war mit nichts zu vergleichen, was Hagen jemals gesehen hatte. Die Nacht ließ ihre Mauern schwarz erscheinen, aber es war ein Schwarz, das schwärzer war als die Nacht, schwärzer als die vollkommene Finsternis. Es war nicht die Abwesenheit von Licht, die dieses Schwarz ausmachte, dachte er schaudernd, sondern die Anwesenheit von etwas anderem; etwas Fremdem und Abweisendem. Geht fort schien ihnen diese Farbe zuzuschreien. Flieht diesen Ort, der den Sterblichen verboten ist, solange ihr es noch könnt! Endlich gelang es Hagen, seinen Blick von der Burg loszureißen. Trotz des heftigen Schneefalls der vergangenen Stunden war die Ebene, die sich vor ihnen erstreckte, nahezu schneefrei, und im Umkreis des Felsens war der Boden vollkommen schwarz. Vereinzelte Flocken fielen jetzt wieder vom Himmel, und Hagen meinte tatsächlich durch das Heulen des Sturmes und das Donnern der Brandung das leise Zischen zu hören, mit dem die Flocken schmolzen, kaum daß sie den heißen Stein berührten. Plötzlich war er nicht mehr so sicher, daß die Geschichte von der Waberlohe wirklich nur ein Märchen war.

Dankwart deutete nach vorne, dorthin, wo die Spur weiterging. Der Schnee dicht vor ihnen hatte sich in braungrauen Morast verwandelt und verschwand bald vollkommen, wo der Boden immer heißer wurde, und mit ihm verschwand auch die Spur. An ihrem Ende stand der Schatten.

Hagen sah ihn nur für einen Bruchteil einer Sekunde; das Huschen einer schattenhaften Gestalt vor dem Hintergrund der Nacht. Die Gestalt war nicht größer als ein Kind, und sie verschwand im gleichen Augenblick, in dem Hagen sie erblickte.

Wortlos gingen sie weiter. Sie verließen die Schneedecke und standen plötzlich auf Lava, die so heiß war, daß sie die Wärme unangenehm durch die Sohlen ihrer Stiefel hindurch fühlten. Hagen versuchte sich zu erinnern, in welche Richtung der Schatten entglitten war, aber das war unmöglich.

Dann sah er ihn wieder, etwas deutlicher als beim ersten Mal, aber trotzdem viel zu weit entfernt, um mit Sicherheit auf ein menschliches Wesen schließen zu lassen.

»Er will, daß wir ihm folgen«, murmelte Dankwart. Seine Stimme klang fremd.

»Dann sollten wir ihn nicht warten lassen.«

Sie gingen weiter, erreichten die ungefähre Stelle, an der sie den Schatten erblickt hatten, und wie Hagen erwartete, tauchte er ein drittesmal auf, wieder weiter im Westen und mehr zur Küste als zum Isenstein hin. Einmal blieb Hagen stehen und sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Aber seine Befürchtung, daß sie sich im Dunkeln verirren und den Rückweg nicht mehr finden würden, erwies sich als grundlos: Die Felswand war von Schnee und Eis bedeckt und glitzerte wie ein weißer Strich vor dem Horizont, und der Spalt, der sie zurück zum Lager fuhren würde, war selbst über die große Entfernung wie eine keilförmige dunkle Narbe zu erkennen.

Hagen wußte nicht, wie lange sie so gingen. Selbst die Zeit schien ausgelöscht auf diesem verbrannten Stück Erde, und den Versuch, seine Schritte zu zählen, gab er bald wieder auf. Große und kleine Lavabrocken, die überall verstreut lagen, erschwerten das Gehen. Schließlich wurde der Boden ein wenig glatter, so daß sie besser vorankamen, aber sowie sie ihre Schritte beschleunigten, wurde auch der Schatten schneller, und es gelang ihnen nicht, ihn einzuholen.

Dann erreichten sie die Küste, und wäre ihr geheimnisvoller Führer nicht einen Moment stehengeblieben und hätte warnend die Arme gehoben, wäre Hagen vielleicht über ihren Rand in die Tiefe gestürzt. Es gab keinen merklichen Hinweis, kein Senken des Bodens, keine Böschung, sondern nur einen gewaltigen glatten Schnitt, als hätte ein Axthieb das Land gespalten. Hundert Klafter tiefer brandete das sturmgepeitschte Meer gegen den Felsen. Was immer der Grund war, aus dem der unheimliche Fremde sie hierher gelockt hatte, dachte Hagen schaudernd, während er in die Tiefe starrte, ihr Tod war es nicht Wie zum Hohn war der Mond hinter einer Wolke hervorgekommen und beleuchtete das Bild. Vorsichtig trat Hagen bis an die Felskante vor und ließ sich auf ein Knie nieder. Sie waren dem Isenstein nahe gekommen, und Hagen sah jetzt, daß ein schmaler, aus dem Fels gehauener Weg von der Flanke der Burg bis hinunter zum Strand führte. Vor den schwarzen Riffen kg ein Boot, sorgsam verankert und vertäut und mit Ketten an eisernen, im Meer befestigten Stangen gesichert. Ein schlankes, drachenköpfiges Boot mit einem blütenweißen Segel und einem blutroten Wimpel. Trotz der dutzendfachen Verankerung bewegte es sich so stark in der Brandung, daß Hagen seinen Rumpf stöhnen hörte.

»Siegfrieds Boot!« sagte Dankwart erregt. »Das muß das Schiff sein, mit dem Siegfried und Gunther gekommen sind!«

Hagen wandte den Kopf - und ließ sich mit einem Schrei seitlich nach hinten fallen. Sein Fuß kam hoch, traf den völlig überraschten Dankwart vor die Brust und schleuderte ihn meterweit zurück. Im gleichen Augenblick schlug die Klinge des Angreifers Funken aus dem Stein, an derselben Stelle, an der Dankwart noch vor einem Atemzug gehockt hatte. Der Mann war lautlos hinter ihnen aufgetaucht, auch er nur ein düsterer Schatten in der Dunkelheit. Dennoch war klar, daß es nicht der war, dem sie hierher gefolgt waren, denn er war ein Riese, eine Spanne größer als Dankwart und so breitschultrig, daß er schon fast mißgestaltet wirkte. Aber seine Bewegungen waren nicht die eines plumpen Riesen, sondern so schnell und wendig wie die einer Raubkatze. Noch während Hagen herumrollte, sich dabei an den messerscharfen Lavabrocken Gesicht und Hände blutig riß, schnellte der Angreifer vor, setzte dem gestürzten Dankwart nach und schwang seine Klinge zu einem furchtbaren Hieb. Hagen sah, wie sein Bruder nach hinten wegzukriechen versuchte und ausglitt, sich zusammenrappelte und aufsprang, aber nicht schnell genug, um der tödlichen Klinge auszuweichen.

Hagen tat das einzige, was ihm blieb. Schon bald wieder auf den Füßen, stieß er sich mit den Armen ab, trat dem Riesen in die Kniekehle und stieß mit dem anderen Bein nach seinem Fuß. Der Angreifer taumelte, ließ sein Schwert fallen, als er mit wild rudernden Armen sein Gleichgewicht zu halten suchte, und stürzte zwischen Hagen und seinem Bruder zu Boden.

Beinahe gleichzeitig kamen alle drei wieder auf die Füße. Hagen sah, wie sein Bruder rasch ein paar Schritte zurückwich und sein Schwert hob, folgte seinem Beispiel und löste mit einer blitzschnellen Bewegung den Schild vom Rücken.

Der Riese griff ihn an, als Hagen die Hand durch die Halteschlaufen schob und für einen Moment behindert war, genau, wie er vermutet hatte. Dankwart reagierte darauf, stieß einen gellenden Schrei aus und täuschte einen geraden Stich nach dem Rücken des Mannes vor, so, wie sie es hundertfach geübt hatten. Der Riese brach seinen Angriff ab, wirbelte herum und schlug nach Dankwarts Klinge, aber dieser war längst zurückgesprungen und griff nun seinerseits nach seinem Schild. Für einen Moment wirkte der Fremde unentschlossen. Vielleicht begriff er, daß er die beiden Männer unterschätzt und den einzigen Vorteil, der auf seiner Seite gewesen war - die Überraschung - verschenkt hatte. Obwohl er den Kopf so hielt, daß das Licht der Sterne auf sein Gesicht fiel, konnte Hagen unter dem wuchtigen Helm nichts als eine dunkle, konturlose Fläche ausnehmen.

»Wer seid Ihr?« fragte Hagen laut. »Gebt Euch zu erkennen und sagt, warum Ihr uns angreift. Ich bin Hagen von Tronje, und dort steht mein Bruder Dankwart. Wir sind Freunde Gunthers von Burgund.« Der Fremde antwortete nicht. Statt dessen wandte er sich mit einer entschlossenen Bewegung Hagen voll zu und griff abermals an. Obgleich Hagen den Hieb erwartet hatte und ihn kommen sah, gelang es ihm nur mit allergrößter Mühe, ihn abzufangen. Die Klinge des Fremden sauste mit der Schnelligkeit und Kraft eines Blitzes herab und schlug Hagens Schwert einfach beiseite. Die Wucht, mit der sie auf seinen Schild krachte, ließ Hagen aufstöhnen. Der Schmerz zuckte bis in seinen Nacken hinauf, und der zollstarke Eichenschild knirschte, als wollte er zerbrechen.

Hagen keuchte vor Überraschung, duckte sich unter einem zweiten, noch wütenderen Hieb hindurch und versuchte zurückzuschlagen, aber gegen die Bewegungen des Riesen schienen die seinen unbeholfen und langsam. Der Fremde fing seine Klinge mit einer lässigen Bewegung auf, sprang auf ihn zu und schlug mit der Faust auf seinen Schild, daß Hagen abermals zurücktaumelte. Dann war sein Bruder heran, und diesmal täuschte er keinen Stich vor sondern ließ seine Klinge mit einem beidhändig geführten Hieb auf den Schwertarm des anderen herabsausen. Der Fremde bemerkte die Gefahr im letzten Augenblick Er wirbelte herum und drehte den Körper so, daß Dankwarts Schwert nur den Handschutz seiner Klinge traf. Funken sto* ben auf, als die beiden Waffen aufeinanderprallten, und die Wucht des Schlages war so groß, daß sowohl Dankwart als auch sein unheimlicher Gegner zurückprallten.

Hagen hob seinen Schild, spreizte die Beine, um festen Halt zu gewinnen, beugte sich leicht nach vorne und hielt das Schwert vom Körper weg, die Spitze gesenkt. »Gebt auf!« sagte er schwer atmend. »Wir sind zu zweit und Ihr könnt nicht gewinnen. Zwingt uns nicht, Euch zu töten!« Die Antwort war ein neuerlicher, noch ungestümerer Angriff. Aber diesmal war Hagen vorbereitet. Sein Arm schmerzte, und er wußte, daß er keinen zweiten dieser fürchterlichen Hiebe hinnehmen konnte, wollte er nicht Gefahr laufen, plötzlich mit einem gelähmten Schildarm dazustehen, was seinem Todesurteil gleichgekommen wäre. So versuchte er nicht, die wütenden Hiebe des anderen abzufangen, sondern wich der pfeifenden Klinge immer wieder aus, während er Schritt für Schritt vor dem tobenden Giganten zurückwich.

Aber auch der Riese änderte seine Taktik. Er führte seine Hiebe noch immer beidhändig und mit ungeheuerlicher Kraft, aber er stand keine Sekunde still, sondern sprang unentwegt von einer Seite auf die andere und versuchte so zu verhindern, daß Dankwart noch einmal in seinen Rücken geriet Dann streifte einer dieser furchtbaren Schläge Hagens Schild und riß Splitter aus dem eisenharten Holz, und obwohl die Berührung flüchtig gewesen war, riß sie Hagen abermals von den Füßen und ließ ihn hintenüber fallen.

Wieder war es Dankwart, der ihn rettete. Diesmal bezahlte er seinen Angriff mit einem tiefen, blutenden Stich im Oberarm, den ihm der Unheimliche zufügte.

Mühsam stemmte sich Hagen auf die Füße. Die Gestalt des Riesen begann vor seinen Augen zu zerfließen. Er wußte, daß Dankwart und er sterben würden, wenn es ihnen nicht gelang, dem Kampf ein rasches Ende zu bereiten. Der Fremde schien weder Schmerz noch Ermüdung zu kennen. Hagen war nicht mehr sicher, ob sie überhaupt mit einem Menschen kämpften.

Er löste den Schild von seinem linken Arm, ließ ihn zu Boden gleiten und packte das Schwert mit beiden Fausten. Sein Herz raste, und unter den schweren Handschuhen waren seine Hände feucht vor Schweiß. Der Riese hob sein Schwert und blieb unvermittelt wieder stehen, als Hagen zurückwich und sein Bruder im gleichen Augenblick einen Schritt auf ihn zutrat. Er schien zu überlegen, mit welcher Taktik er den einen von ihnen bezwingen konnte, ohne gleichzeitig von hinten niedergeschlagen zu werden.

Die Entscheidung kam wie immer sehr schnell. Der Riese täuschte einen Angriff in Dankwarts Richtung vor, riß sein Schwert im letzten Moment herum und führte einen heimtückischen Hieb von unten herauf nach Hagens Leib. Hagen wich der Klinge im letzten Augenblick aus, konnte aber nicht verhindern, daß der messerscharfe Stahl sein Kettenhemd zerfetzte und eine blutende Furche von seinem Nabel bis zum Halsansatz hinauf in seine Haut schnitt. Mit einem Schmerzensschrei fiel er zu Boden, sah, wie der Unheimliche abermals herumfuhr und nach Dankwarts Gesicht stieß, und schlug blind mit dem Schwert zu. Seine Klinge traf das rechte Bein des Riesen dicht über der Ferse und zerschnitt seine Fessel. Der Gigant krümmte sich vor Schmerz, ließ sein Schwert fallen und kippte nach vorne, als das verletzte Bein unter seinem Gewicht nachgab.

Im gleichen Augenblick bohrte sich Dankwarts Klinge mit einem häßlichen Knirschen durch seinen Harnisch.

Der Riese bäumte sich auf. Sein Körper bebte wie in einem fürchterlichen Krampf, und ein dumpfer, röchelnder Laut drang unter seinem Helm hervor. Mit einer schier unmöglich erscheinenden Kraft stemmte er sich noch einmal in die Höhe, umklammerte die tödliche Klinge, die zwei Handbreit tief in seiner Brust steckte, und entriß sie Dankwarts Händen. Dann kippte er lautlos nach hinten und stürzte über die Felskante. Hagen wollte aufstehen, aber seine Beine versagten ihm den Dienst; er sank zurück, rang keuchend nach Atem und ließ es zu, daß Dankwart ihn wie ein Kind unter den Armen ergriff und hochhob. »Bist du schwer verletzt?« fragte Dankwart erschrocken. Hagen versuchte den Kopf zu schütteln. »Das ist ... nichts«, sagte er stockend. In seinem Mund war Blut. Er schluckte es hinunter, und plötzlich begann der Schnitt in seiner Brust wie wahnsinnig zu schmerzen. Er stöhnte leise. »Bei Odin, Dankwart - was ... was war das?« murmelte er. »Ich weiß es nicht«, antwortete Dankwart leise.

Dabei beließen sie es. Ihre Überlegungen hätten zu nichts geführt, und im Augenblick gab es Dringenderes zu tun.

»Du blutest«, sagte Dankwart. »Laß mich nach deiner Wunde sehen.« Er streckte die Hand aus, aber Hagen schüttelte entschieden den Kopf und preßte die Rechte auf den blutenden Schnitt »Später«, sagte er. »Wir müssen so schnell wie möglich zum Lager zurück.«

Es dauerte einen Moment, bis Dankwart begriff. Seine Augen weiteten sich vor Schrecken. Ohne ein weiteres Wort wandten sie sich um und liefen, so schnell sie konnten.

Aber es war nicht sehr schnell.

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