Der Weg zu Pferde war weiter als der, den Hagen und Dankwart zu Fuß zurückgelegt hatten; Alberich und die Kriegerinnen umgingen den Isenstein und das vorgelagerte Lavafeld in weitem Bogen und näherten sich dem Berg und der Burg von der entgegengesetzten Seite. Hagen hatte vergeblich versucht, mehr aus dem Zwerg herauszubekommen. Alberichs Verhalten irritierte ihn. Vorhin, als Alberich und die goldgepanzerten Reiterinnen unvermittelt aus der Nacht aufgetaucht waren, hatte Hagen keinen Zweifel gehabt, wer die schattenhafte Kindergestalt gewesen war, die ihn und seinen Bruder vom Lager fort und zur Küste gelockt hatte. Jetzt war er sich dessen nicht mehr so sicher. Alberich zügelte sein Pferd. Sie waren dem Berg jetzt viel näher, als Dankwart und Hagen ihm gekommen waren. Der Sturm erreichte die Mauern der Festung nicht, sondern machte vor der Flanke des Felsens halt Es war, dachte Hagen, als wäre da eine unsichtbare, beschützende Macht, die den Naturgewalten Einhalt gebot Der Zwerg schlug den Mantelkragen zurück, den er zum Schutz vor dem schneidenden Wind über Mund und Nase gezogen hatte. »Wir sind da, Hagen von Tronje«, sagte er bedeutungsvoll. Der Weg hinauf zum Tor der Festung war weniger beschwerlich, als Hagen befürchtet hatte, denn der Pfad war von zahllosen Füßen und Hufen geglättet. Und wie den Sturm hielt der unsichtbare Schild, den die Götter über Burg und Berg gelegt hatten, auch die Kälte zurück, so daß der Stein nicht einmal vereist war und die beschlagenen Hufe der Tiere sicheren Halt fanden.
Als sie höher kamen, sah Hagen, daß sein erster Eindruck richtig gewesen war: Die Festung war nicht von Menschenhand gebaut Sie war gewachsen, war Teil des schwarzgrauen Felsmassivs; nur hie und da zweckmäßig leicht verändert, ohne den natürlichen Wuchs des Felsens zu zerstören. Die Baumeister hatten sich der Natur unterworfen, nicht umgekehrt.
Sie näherten sich dem Tor, einem gewaltigen, unregelmäßig geformten steinernen Maul, hinter dem erstickende Schwärze herrschte, als fresse dort etwas das licht. Alberich, der sich an die Spitze der Gruppe gesetzt hatte, zügelte sein Pferd. Kurz bevor es die Grenze zwischen Licht und Dunkel erreichte, brachte er es vollends zum Stehen, drehte sich im Sattel herum und blickte zu den anderen zurück. Er sagte etwas, aber so wie das Licht schien der Isenstein auch jedes Geräusch zu verschlucken; Hagen sah, wie sich seine Lippen bewegten und er die Worte mit einer ungeduldigen Bewegung der Linken unterstrich. Aber nicht der geringste Laut erreichte sein Ohr. Es war ein sonderbarer, furchteinflößender Anblick Wir sollten nicht hier sein, dachte Hagen. Kein Mensch sollte das. Alberich wartete mit sichtlicher Ungeduld, bis Dankwart und er an seine Seite geritten waren und ebenfalls angehalten hatten. Dann wiederholte er die Geste von vorhin und sagte: »Legt eure Waffen ab.« »Unsere Waffen!« Dankwart wollte auffahren, aber Hagen legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm, zog mit der anderen sein Schwert aus dem Gürtel und reichte es Alberich, der jedoch den Kopf schüttelte und eine der Reiterinnen herbeiwinkte. Schweigend nahm diese ihre beiden Schwerter entgegen, schob die Waffen sorgfältig unter einen Gurt ihres Sattelzeugs und nickte. Der Zwerg nickte ebenfalls, ließ sein Pferd einen Schritt nach vorne und zugleich zur Seite gehen und machte eine einladende Handbewegung zum offenstehenden Tor hin. »Tretet ein!« Zum zweitenmal schienen sie eine unsichtbare Grenze zu überschreiten, als sie die Festung betraten. Zuerst waren der Wind und die Kälte am Fuße des Felsens zurückgeblieben. Jetzt war, so kam es Hagen vor, jede Beziehung zur Außenwelt abgerissen. Es war vollkommen dunkel hier drinnen. Die Dunkelheit umgab sie wie eine bedrohliche schwarze Masse. Die Hufschläge der Pferde erzeugten helle, vielfach gebrochene Echos im unsichtbaren Raum. Sie mußten sich in einer Halle oder Höhle befinden. Hier und da schimmerte blasses silbernes licht, von dem Hagen nicht sagen konnte, woher es kam, und unter dem klirrenden Widerhall der Hufschläge glaubte er ferne Stimmen zu hören. Langsam wurde es heller, je weiter sie in den Berg vordrangen. Bald war das Licht nicht mehr blaß und silbern wie gedämpfter Sternenschein, sondern rot und düster und gleichsam warm. Hagen war sich nicht sicher, ob es der Widerschein von Feuer war, von Kohlebecken oder flackernden Fackeln, oder eine Glut, die direkt aus der Erde drang. Da und dort durchzogen Risse den Boden, manchmal gerade, wie mit einem Stock gezogen, manchmal gezackt; erstarrte Blitze im Fels, rot durchzogen wie Adern, aus denen ein Hauch übelriechender warmer Luft drang. Manchmal zitterte der Boden, vielleicht unter den Hufschlägen der Pferde, vielleicht unter ganz anderen Kräften, tief im Innern der Erde. Unwillkürlich mußte Hagen an die Geschichten denken, die man sich über den Isenstein erzählte: Geschichten von Göttern, die vor den Göttern waren und deren Macht nur schlief, nicht besiegt war. Er versuchte den Gedanken abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht Etwas blieb zurück, und als er den Kopf wandte und seinen Bruder ansah, wußte er, daß es Dankwart ebenso erging.
Als das Licht weiter zunahm, konnte Hagen mehr von ihrer Umgebung erkennen. Es war eine Höhle, ein gewaltiger Dom, dessen Decke sich fünfzehn, vielleicht zwanzig Manneslängen über ihren Köpfen erhob, nach oben spitz zulaufend und von übermannsdicken schwarzen Pfeilern aus Lava getragen, die zu glänzenden, faustgroßen Tränen erstarrt war. Am Ende der Halle führte eine breite, aus nur wenigen Stufen bestehende Treppe zu einem verschlossenen Tor, über dem das gleiche Zeichen stand, das Hagen bereits auf den Helmen der Reiterinnen gesehen hatte.
Keiner von ihnen sprach ein Wort, bis sie die Treppe erreichten und Alberich sie mit Gesten aufforderte, abzusitzen. Zwei der Reiterinnen führten ihre Pferde fort, und auch die anderen entfernten sich, so daß Dankwart und Hagen mit Alberich allein zurückblieben. Der Zwerg deutete einladend auf das verschlossene Tor. Hagen rührte sich nicht von der Stelle. »Wo sind Gunther und die anderen?« fragte er.
Alberich zog eine Grimasse. »Gunther wartet auf Euch«, sagte er, »und Siegfried wird wohl in seiner Kammer sein und das tun, was ein aufrechter Christenmensch um diese Zeit eben tut - nämlich schlafen.« Zögernd und alles andere als zufrieden mit dieser Auskunft folgten sie ihm. Alberich hüpfte vor ihnen her die Stufen der Treppe hinauf. Das hohe, mit Kupfer-, Silber- und Goldblech beschlagene Tor schwang wie von Geisterhand bewegt vor ihm auf.
Sie traten auf einen breiten, einer sanften Biegung nach links folgenden Gang, auch er wie anscheinend alles hier aus der schwarzen Lava des Isensteins gehauen und nur roh bearbeitet. Das düstere rote Licht, das sie schon in der Höhle gesehen hatten, erfüllte auch diesen Gang; nur war es hier viel stärker als draußen.
Der Zwerg schien es mit einemmal sehr eilig zu haben. Ungeduldig lief er vor Hagen und Dankwart her, blieb vor einer der Türen stehen und wartete, bis sie herangekommen waren. Diesmal halfen ihm die dienstbaren Geister des Isensteines nicht Alberich schob den Riegel selbst zurück, stieß die Tür auf und huschte hindurch. Dahinter lag wieder ein Gang, dem eine Treppe folgte, die ein Stück in die Tiefe führte, eine Halle - nicht ganz so groß wie die andere -, wieder eine Tür und eine Treppe...
Der Isenstein war ein Labyrinth; ein schier auswegloses Gewirr von mit düsterem roten Licht erfüllten Gängen und Hallen. Treppen, die in die Tiefe, wieder hinauf und kreuz und quer durch den schwarzen Fels führten.
Hagen begann sich mit jedem Schritt unbehaglicher zu fühlen. Es war nicht Furcht, was die rote Wärme und die glasige schwarze Lava des Isensteines in ihm weckten, sondern etwas, was fast schlimmer war. Das Gefühl, sich nicht mehr in seiner Welt zu befinden; über einen Boden zu schreiten, den die Götter beschritten hatten und den die Füße von Sterblichen entweihen mußten. Er und sein Bruder - jedoch nicht Alberich - waren fremd hier, fremd in einem besonderen Sinn. Sie beide hätten das Innere des Berges nie schauen, ihr Atem hätte das zeitlose Schweigen des Isensteines nie stören dürfen. Der Isenstein war das Tor zur Unterwelt, nicht die Pforte zu Walhalla. Die ihn erschaffen hatten, waren zornige Götter gewesen.
Endlich, nach einer Ewigkeit, wie es schien, blieb Alberich stehen und deutete auf eine Tür. Sie waren wieder in einem Gang, und wie der, durch den sie das Labyrinth betreten hatten, war auch er sanft nach links gekrümmt. Bei aller Verwirrung und Beklemmung war dies doch etwas, was Hagen aufgefallen war: sie bewegten sich im Kreis. Die Gänge und Stollen des Isensteines schienen wie das Haus einer riesigen steinernen Schnecke gewunden zu sein.
»Tretet ein, Hagen von Tronje«, sagte Alberich. »Euer König erwartet Euch.«
Aus dem Augenwinkel sah Hagen, wie Alberich abwehrend den Arm hob, als auch Dankwart auf die Tür zutreten wollte. »Ihr nicht, Dankwart«, sagte der Zwerg »Was soll das heißen?« fragte Dankwart scharf.
»Das soll heißen, daß es Gunthers ausdrücklicher Wunsch war, zuerst allein mit Eurem Bruder zu reden«, antwortete Alberich. Dankwart wollte auffahren, aber Hagen trat mit einem raschen Schritt zwischen ihn und den Zwerg und hob besänftigend die Hand. »Nicht Dankwart«, sagte er. »Wenn es Gunthers Wunsch ist, müssen wir gehorchen.«
Sein Bruder starrte ihn an. Aber dann nickte er; wahrscheinlich war er einfach zu müde, den Streit fortzusetzen.
»Kommt mit mir«, sagte Alberich. »Ich führe Euch in Eure Kammer. Einen Luxus wie in Tronje oder gar in Worms dürft Ihr freilich nicht erwarten.«
Dankwart drehte sich wortlos um und folgte dem Zwerg. Hagen wartete, bis ihre Schritte verhallt waren. Dann erst öffnete er die Tür. Gunther saß mit dem Rücken zu ihm in einem hochlehnigen Stuhl und war eingeschlafen, als Hagen eintrat. Hagen schob vorsichtig die Tür hinter sich ins Schloß und nutzte die Gelegenheit, sich in dem halbrunden Raum umzusehen.
Er wußte nicht, ob er enttäuscht oder zornig sein sollte. Dies war kein Gemach, das eines Königs würdig gewesen wäre. Boden, Wände und Decke - es gab kein Fenster - bestanden auch hier aus der allgegenwärtigen schwarzen Lava, aber jemand hatte sich die Mühe gemacht, den Raum wenigstens halbwegs wohnlich herzurichten: Es gab ein Bett, mit seidenen Laken und Kissen bedeckt, einen Tisch und einige klobige Stühle; dazu eine Truhe, deren Deckel offenstand, so daß Hagen sehen konnte, daß Gunther seine Kleider darin untergebracht hatte. Neben der Tür hing eine der großen metallenen Runen und an der gegenüberliegenden Wand ein Schild, so hoch wie ein Mann und aus fingerdickem Metall gefertigt. Hagen sah alles mit dem geübten Blick eines Mannes, der gewohnt war, jede noch so kleine Einzelheit seiner Umgebung wahrzunehmen, und der gelernt hatte, daß Dinge, die kaum der Beachtung wert schienen, sich als lebenswichtig herausstellen konnten. Flüchtig untersuchte er die Kammer nach einem zweiten, geheimen Eingang - er fand keinen, was nicht hieß, daß es keinen gab -, trat leise an Gunthers Stuhl und hob die Hand, um ihn zu wecken.
Aber er führte die Bewegung nicht aus, sondern blieb reglos stehen und sah auf Gunther von Burgund hinab.
Der König von Worms hatte sich verändert. Es war ein Jahr her, daß Hagen ihn gesehen hatte, und die vergangene Zeit und die Reise hierher mochten ihm viel abverlangt haben. Trotzdem erschrak Hagen, als er in sein Gesicht sah.
Gunther sah alt aus, viel älter, als er war, und in die vertraute Weichheit seines Antlitzes hatte sich ein neuer, bitterer Zug gegraben. Er war blaß, und unter seinen Augen lagen tiefe dunkle Ringe, die von zu vielen durchwachten Nächten kündeten. Seine Hände, die auf den geschnitzten Lehnen des Stuhles lagen, zitterten leicht im Schlaf. Sein Atem ging schnell und ein wenig unregelmäßig, wie der Atem eines Menschen, den üble Träume plagten.
Hagen mußte doch ein Geräusch verursacht haben, vielleicht spürte Gunther auch einfach seine Nähe. Plötzlich fuhr er im Schlaf zusammen, legte den Kopf auf die andere Seite und öffnete die Augen. Für einen kurzen Moment war sein Blick noch verschleiert, dann klärte er sich, und ein Ausdruck von Schrecken und jäher, ungläubiger Freude blitzte in seinen Augen auf.
»Hagen«, rief er. Er sprang auf, umschlang den Tronjer mit den Armen und drückte ihn an sich. »Hagen, mein Freund, daß du gekommen bist.« Hagen ließ Gunthers stürmische Begrüßung eine Weile über sich ergehen, dann befreite er sich mit sanfter Gewalt aus dessen Umarmung, trat einen halben Schritt zurück, senkte das Haupt und beugte das Knie. »Ihr habt mich gerufen, mein König. Ich bin gekommen«, sagte er. Einen Moment lang blickte Gunther auf Hagen hinab, als wüßte er nicht, wovon er redete. Dann schüttelte er den Kopf und gebot ihm mit einer ungeduldigen Geste aufzustehen.
»Was soll der Unsinn, mein Freund«, sagte er. »Wir sind hier nicht bei Hofe. Knie vor mir, wenn es die Hofsitte erfordert, nicht wenn ich deine Hilfe brauche.« Er lachte. Dann maß er Hagen mit einem langen, ernsten Blick.
»Daß du wirklich da bist.« Er schöpfte tief Atem. »Brunhild berichtete mir, ihre Späher hätten Männer gesehen, die von Süden her kämen. Aber ich wagte kaum zu hoffen, daß du es seist Nicht so schnell«, fügte er hinzu.
»Ich kam, so schnell ich konnte«, antwortete Hagen. »Die See war stürmisch und der Wind gegen uns.«
»Du bist hier«, sagte Gunther, »nur das zählt Bist du allein gekommen oder in Begleitung?« Hagen zögerte. Sollte er Gunther alles erzählen; angefangen mit Arnulfs Schiffbruch vor den Küsten Tronjes bis hin zu dem heimtückischen Überfall der vergangenen Nacht? Aber dann fiel ihm Alberichs Warnung ein, und er schüttelte verneinend den Kopf. »Mein Bruder Dankwart begleitet mich«, sagte er. »Wir sind allein. Es war nicht leicht, ein Schiff zu finden, das uns herbrachte. Und wir hatten nicht viel Zeit.« »Ein Schiff?« wiederholte Gunther fragend. »Was ist mit dem Dänen, den ich euch sandte?«
»Das Schiff ist im Sturm vor Tronje gestrandet«, erklärte Hagen ausweichend. »Aber sein Kapitän konnte mir Eure Botschaft überbringen. Ihr braucht Hilfe?«
»Hilfe.« Gunther betonte das Wort auf sonderbare Weise. »Ja«, sagte er dann. Er lächelte und ließ sich mit einer erschöpften Bewegung wieder in den Stuhl sinken. »Vielleicht auch nicht. Vielleicht brauche ich auch nur die Nähe eines Freundes.«
»Aber was ist geschehen, Gunther?« fragte Hagen. In Gunthers Stimme war ein Ton, der ihn beunruhigte.
»Viel, mein Freund«, antwortete Gunther. »So viel, seit du fortgegangen bist«
»Ihr habt Brunhild gesehen?«
Gunther nickte. »Sie ist hier«, sagte er. »Du wirst sie sehen, gleich morgen früh. Sobald die Sonne aufgegangen ist« Er zögerte kaum merklich, aber Hagen merkte es doch. »Wenn die Prüfungen beginnen.« »Die Prüfungen.« Hagen machte aus seinem Erschrecken kein Hehl. »Ihr wollt es also wirklich tun.«
»Ich muß, Hagen«, antwortete Gunther. »Ich bin zu weit gegangen, um noch zurückzukönnen. Der Weg aus dem Isenstein hinaus führt durch die Halle der Prüfungen. Oder nach Walhalla«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.
Hagen schwieg. Er blickte auf das Kreuz, das Gunther auch jetzt an einer silbernen Kette um den Hals trug. Aber er sagte nichts darauf. »Du siehst nicht sehr froh aus, mein Freund«, sagte Gunther. Hagen versuchte zu lächeln. »Ich habe wenig Grund dazu«, sagte er. »Ihr wißt, daß noch keiner die Prüfungen überlebt hat, die die Walküre verlangt.«
Plötzlich lachte Gunther, scheinbar ganz grundlos; dabei so ehrlich, daß es Hagen verwirrte. »Das ist es, was du fürchtest?« fragte er. »Du hast Angst vor morgen und den Prüfungen? Du fürchtest um mein Leben?« »Was sonst?« fragte Hagen verständnislos. »Aus welchem anderen Grund habt Ihr mich rufen lassen?«
»Die Prüfungen«, sagte Gunther, nun wieder ernst. Er erhob sich abermals aus seinem Stuhl und legte Hagen die Hand auf die Schulter. Seine Berührung war warm und voller Freundschaft. »Kennst du mich so schlecht? Ich fürchte Brunhilds Prüfungen nicht, denn ich weiß, daß ich sie bestehen werde. Ich gehöre nicht zu denen, die einen Tod wie diesen sterben; einen Tod, von dem die Spielleute noch in hundert Jahren sängen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Hagen«, sagte er. »Das Schicksal meint es nicht so gut mit mir, mir ein ehrenvolles Ende unter Brunhilds Schwert zu gönnen. Was ich fürchte, sind weder ihre Waffen noch ihr Zauber.«
»Was sonst?« fragte Hagen.
Gunther nahm die Hand von Hagens Schulter, wandte sich mit einem Ruck um und ging zum Tisch. Hagen sah, wie seine Finger zitterten, als er den Becher hob und einen Schluck Wein trank. »Siegfried«, sagte er schließlich. Es schien ihm schwerzufallen, den Namen auszusprechen, und er wich Hagens Blick aus. O ja, dachte Hagen. Du fürchtest Siegfried, mein Freund, und du hast allen Grund dazu. Ich kann dich verstehen, denn auch ich habe nicht aufgehört, ihn zu fürchten. Aber er sprach seine Gedanken nicht aus, sondern wartete, bis Gunther einen weiteren Schluck Wein getrunken hatte und von selbst zu erzählen begann.
»Du hättest nicht fortgehen dürfen, Hagen«, sagte Gunther leise und in vorwurfsvollem Ton. »Ich ... ich weiß nicht, Worms ... ist nicht mehr die Stadt, die es war...«
Er schenkte sich aus einem irdenen Krug Wein nach. »Alles wurde anders, nachdem du gegangen warst«, fuhr er fort. »Kriemhild...« Er stockte.
»Kriemhild?« Hagen erschrak. »Was ist mit ihr?«
»Sie weiß noch immer nicht, was damals während der Siegesfeier über die Sachsen wirklich geschehen ist, zwischen Siegfried, dir und mir. Aber sie spürt es, und sie gibt mir die Schuld daran.«
»Unsinn«, sagte Hagen. »Es war ganz und gar meine Idee. Mein Plan.« Gunther winkte ab. »Darum geht es nicht Kriemhild ist meine Schwester, und als ihr ältester Bruder bin ich in ihren Augen für ihr Schicksal verantwortlich.« »Und wenn ich es ihr sage?« »Würde sie dir nicht glauben«, entgegnete Gunther. »Und wenn, so würde es an der Sache nichts ändern.« Er seufzte. »Aber es ist vorbei, so oder so. Wenn wir nach Worms zurückkehren, werde ich Siegfried Kriemhilds Hand geben.«
Hagen durchzuckte ein Schreck, tiefer und schmerzlicher, als er hätte sein dürfen. »Das darf nicht geschehen!« rief er.
»Es gibt keinen Weg mehr, es zu verhindern«, antwortete Gunther traurig. »Er hat mein Wort, Hagen, hast du das vergessen?« »Ihr hättet es ihm niemals geben dürfen«, sagte Hagen düster. In Gunthers Augen blitzte es auf. »Nein, ich hätte es ihm nicht geben dürfen«, sagte er zornig. »Ich hätte nicht zulassen dürfen, daß Siegfried nach Worms kam. Ich hätte nicht zulassen dürfen, daß er Kriemhild überhaupt zu Gesicht bekam. Ich hätte nicht zulassen dürfen, daß Siegfried an unserer Stelle gegen die Sachsen stritt, ich...« Er preßte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und funkelte Hagen an, aber sein Zorn galt vor allem sich selbst »Ich habe Fehler gemacht«, sagte er abschließend. »Zu viele Fehler.« »Auch ich habe versagt«, sagte Hagen leise. »Ich war dazu da, Euch zu helfen.«
»Ja«, murmelte Gunther. »Vielleicht ist es so. Vielleicht zahlen wir jetzt den Preis. Ich dafür, auf einen Thron gesetzt worden zu sein, der mir zu groß war, und du dafür, ein Freund gewesen zu sein.« Er schwieg, und nach einer Weile räusperte sich Hagen und brachte das Gespräch wieder auf den eigentlichen Grund seines Hierseins zurück. »Und was geschieht jetzt?« fragte er.
Gunther trank einen Schluck Wein. »Morgen früh«, sagte er, ohne Hagen dabei in die Augen zu sehen, »wenn die Sonne aufgeht, werden mich Brunhilds Walküren in die Halle der Prüfungen führen, damit ich mich der Herausforderung stelle. Danach werden wir nach Worms zurückkehren, und am gleichen Tage, an dem ich Brunhild heirate, wird Siegfried meine Schwester zum Weibe nehmen.«
»Wie wollt Ihr die Prüfungen bestehen?« fragte Hagen. »Noch keinem Manne ist es gelungen, Brunhilds Bedingungen zu erfüllen. Aber Ihr scheint Euch sicher zu sein.«
»Ich bin sicher«, antwortete Gunther. »Denn einen Mann gibt es, der der Walküre schon einmal widerstanden hat.« »Siegfried?« Gunther nickte. »Und er wird sie wieder besiegen. Für mich.«
»Ihr wollt sagen, daß Siegfried...«
»An meiner Stelle kämpfen wird, ganz recht«, bestätigte Gunther. »An Eurer Stelle...« wiederholte Hagen verständnislos. »Ihr ... Ihr meint, Brunhild würde es zulassen, daß ...«
»Brunhild weiß von nichts«, unterbrach ihn Gunther. »Und sie wird es auch nicht erfahren. Niemand weiß es, außer Siegfried, dir und Alberich. Morgen früh wird Siegfried von Xanten in die Halle der Prüfungen gehen und an meiner Stelle gegen Brunhild kämpfen. Und sie besiegen.« »Aber das ist... unmöglich«, murmelte Hagen. »Ihr könnt nicht im Ernst glauben, daß Brunhild auf diesen Schwindel hereinfällt.« »Warum nicht?« sagte Gunther ruhig. »Hast du deine eigenen Worte vergessen? Kein Sterblicher ist Brunhilds Zauber gewachsen, erinnerst du dich?« Er schürzte die Lippen, und als er weitersprach, klang seine Stimme rauh. »Du hattest recht, Hagen. Seit ich dieses verwunschene Land und diese Burg betreten habe, weiß ich, daß du recht hattest. Niemand ist ihr gewachsen, weder mit Schwert noch Speer, noch mit der bloßen Hand. Kein Sterblicher. Außer Siegfried.« »Wozu das Ganze?« fragte Hagen zornig. »Um Brunhild zu erobern? Ihr ... Ihr verkauft Eure Ehre und die von ganz Worms ...« Gunther legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. »Siegfrieds Vorschlag abzulehnen, wäre von allen der größte Fehler gewesen.« »Warum?« fragte Hagen leise.
»Warum?« Gunther lachte bitter. »Weil es mein Tod gewesen wäre. Hätte ich mich geweigert, mit ihm zum Isenstein zu fahren, so hätte er endlich den langersehnten Grund gehabt, sich Worms mit Gewalt zu nehmen. Und niemand hätte es ihm verübelt, denn wer will noch einen König seinen Freund nennen, der sein Wort bricht? Und wäre ich allein gekommen, wäre ich getötet worden, wer hätte dann Worms und meine Schwester beschützt? Nein, mein Freund - ich muß leben. Nicht um meinetwillen, glaube mir. Könnte ich alles ungeschehen machen, nur um den Preis meines Lebens, so täte ich es, ohne zu zögern. Aber es geht schon lange nicht mehr nur um mich.«
»Ihr ... habt mir noch immer nicht gesagt, weshalb Ihr mich gerufen habt«, sagte Hagen.
Gunthers Augen verdunkelten sich. »Morgen wird Siegfried Brunhild besiegen«, sagte er statt einer Antwort. »Und ich werde sie nach Worms heimführen und zum Weibe nehmen.«»Und ich?« beharrte Hagen. »Was verlangt Ihr von mir?« Gunther suchte nach Worten. »Ich verlange nichts von dir«, sagte er schließlich. »Ich ... ich erbitte einen Freundschaftsdienst. Ich möchte daß...«
Er stockte. Er hatte plötzlich nicht mehr die Kraft, Hagens Blick stands halten. »Töte ihn«, sagte er leise. »Nimm dein Schwert und erschlage diesen Hund, Hagen.«
»Mord?« fragte Hagen kalt, ohne die geringste Spur eines Gefühls in der Stimme. »Ihr wollt mich zu einem Mord dingen?« »Was heißt hier Mord?« schnaubte Gunther. »Ich verlange keinen Mord von dir, Hagen. Hat er uns nicht tausend Gründe gegeben, ihn zu töten? Hat er den Tod nicht hundertfach verdient, seit er Worms betreten hat?« »Das war etwas anderes«, widersprach Hagen. »Gebt mir einen Grund, einen einzigen, triftigen Grund, und ich werde diesem Bastard vor Brunhilds Augen die Kehle herausreißen. Aber einen Mord begehen? Nein, mein König.« Er war ganz ruhig. Gunthers Vorschlag war so ungeheuerlich, daß er sich weigerte, ihn ernsthaft in Betracht zu ziehen. Gunther versuchte nicht, Hagen umzustimmen. Es war die Förmlichkeit der Anrede, die Hagens Weigerung endgültig machte, die Tatsache, daß er ihn mein König nannte, nicht Gunther, nicht mein Freund, sondern mein König. Indem er sich auf diese Weise unter ihn stellte, nahm er ihm jede Möglichkeit, noch einmal in ihn zu dringen. Gunther sagte nichts mehr, und auch Hagen schwieg. Nach einer Weile drehte er sich um und verließ den Raum.