25

Obwohl noch eine Stunde vergehen würde, bis die Sonne sank und die Schatten der Nacht durch die Fenster hereinkrochen, brannten in den geschmiedeten Haltern längs der Wände bereits die Fackeln. Vom Hof her drangen die Geräusche des Festes herein: das Lachen der Feiernden, das Lärmen der Gaukler und Faxenmacher, das Schlagen von Lauten und das helle Klingeln der Zimbeln, darunter - leiser und wie eine Begleitmelodie, die dem Fest unterlegt war - das Raunen der Menge, die unten in der Stadt außerhalb der Burgmauern ihr eigenes Fest feierte. Hagen führte bedächtig den Becher an die Lippen, tat so, als würde er trinken, und setzte das Gefäß ebenso bedächtig wieder ab, genau auf den dünnen dunklen Kranz, den sein feuchter Becher auf das Holz des Tisches gemalt hatte. Er mußte vorsichtig sein: Wie Radolt ihm prophezeit hatte, reagierte sein von Krankheit und zu langem Liegen geschwächter Körper über die Maßen auf Alkohol; er begann bereits die Wirkung des Weines zu spüren, obgleich er kaum zwei Becher getrunken hatte, und wenn er den Kopf zu schnell bewegte, dann machte sich hinter seiner Stirn ein sanftes, nicht einmal unangenehmes Schwindelgefühl bemerkbar. Hagen brauchte einen klaren Kopf, gerade heute, und so hatte er dem Mundschenk zugeraunt, ihm für den Rest des Abends nur noch Wasser einzuschenken, aber es war schal und warm geworden, und so zog er es vor, gar nichts zu trinken.

Der Thronsaal von Worms, sonst durch seine Größe und Weitläufigkeit dazu angetan, dem einzelnen unvorbereiteten Besucher das Gefühl zu vermitteln, sehr klein und unbedeutend zu sein, schien heute nicht groß genug, all die Gäste zu fassen. Die Tafel, an der Gunther und sein Hofstaat normalerweise zu speisen oder zu beraten pflegten, war von ihrem Platz unter den hofseitigen Fenstern ans Kopfende eines gewaltigen Hufeisens aus Tischen gestellt worden, an denen sich eine kaum zu überschauende Zahl von Männern und Frauen drängte. Gunther hatte zu diesem Essen nur die Edelsten der Edlen geladen, trotzdem schienen die Tafelnden den rechteckigen Saal zu sprengen. Es mußten weit über zweihundert sein, schätzte Hagen. In Wahrheit interessierte es ihn nicht, so wenig wie das Fest selbst und die Gespräche, in die man ihn zu verwickeln versuchte, ehe man begriff, daß er nichts anderes wollte als dasitzen und schweigen, während rings um ihn die Stimmung höher schäumte, im gleichen Maße, in dem die Diener neuen Wein und neue Speisen herbeibrachten.

Hagen fühlte sich nicht wohl. Sein Rücken schmerzte vom langen, ungewohnten Stehen unten auf dem Münsterplatz, und sein Schädel dröhnte vom Lärm, der ihn umgab. Nicht einmal die Narren, die gleich im Dutzend zwischen den Tischreihen umherliefen, ihre Kunststücke zum besten gaben oder die geladenen Gäste der Reihe nach zur Zielscheibe ihrer rauhen Scherze erkoren, vermochten ihn aufzuheitern. Gunther hatte auf seinem Thron, der eiligst wieder vom Münsterplatz heraufgeschafft worden war, in der Mitte des quergestellten Tisches Platz genommen, flankiert von seinen beiden Brüdern, neben denen Ute und Kriemhild saßen - links von ihm Gernot und die Königinmutter, rechts sein jüngerer Bruder und neben diesem Kriemhild, unverschleiert und in einem prächtigeren, der Gelegenheit angemesseneren Kleid als anläßlich der Messe. Ihr Haar fiel, nur durch einen schmalen goldenen Kamm gehalten, in lockeren Wellen bis auf ihre Schultern hinab, und Hagen blieben die teils bewundernden, teils begehrlichen Blicke, die Kriemhild mehr oder weniger offen trafen, nicht verborgen. Sie war zweifellos die Schönste von allen, obgleich so manche unter den Königinnen und Edelfräulein im Saal in dem Ruf standen, große Schönheiten zu sein. Um einige von ihnen waren Kriege geführt worden, und es war nicht nur einer der anwesenden Könige und Edlen, dessen Reich in Wahrheit von seiner Frau regiert wurde. Trotzdem war keine unter ihnen, die Kriemhild an Liebreiz und Anmut auch nur annähernd gleichkam; nicht einmal ihre eigene Mutter, obwohl Hagen sie noch immer so sah, wie sie vor zwanzig Jahren gewesen war.

Sein Blick ging weiter zu Siegfried, der am äußersten Ende von Gunthers Ehrentisch saß und vor guter Laune und Lebensfreude geradezu überzuquellen schien. In seiner Nähe war das Lachen am lautesten, und die Knechte kamen kaum nach, die Krüge neu zu füllen und immer noch mehr Fleisch herbeizuschaffen. Das einzige, was den Eindruck ungezwungener Fröhlichkeit ein wenig störte, dachte Hagen spöttisch, waren die beiden schweigenden Riesen aus Siegfrieds Leibgarde, die hinter seinem Stuhl wie versteinerte Statuen Aufstellung genommen hatten. Hagen lehnte sich zurück, schloß für kurze Zeit sein eines Auge und schob mit der Linken seinen Waffengurt zurecht; er trug jetzt wieder sein Schwert. Er hatte bewußt darauf verzichtet, an Gunthers Tafel Platz zu nehmen, wie es ihm zugekommen wäre; ebenso wie Dankwart, Ortwein und ein gutes Dutzend weiterer, sorgsam ausgewählter Männer, die nur scheinbar zufällig verstreut inmitten der Menge saßen und sich wie Hagen beim Wein und Met zurückhielten. Es war ungewiß, wie Siegfried reagieren würde, wenn Gunther ihm die Antwort auf die Frage gab, die er bald stellen würde.

Hagen verspürte keinerlei Unruhe oder Ungeduld. Er sehnte den entscheidenden Augenblick und das Ende des Festes herbei, das wohl; trotzdem war er von einer Ruhe erfüllt, die ihn selbst fast erschreckte, vergleichbar nur mit der Ruhe, bevor er in einen Kampf zog. Und es war auch ein Kampf, der ihnen bevorstand. Nur würde er mit Waffen geführt werden, auf die Siegfried nicht vorbereitet war.

Eine Bewegung am Tisch ließ ihn aufsehen. Eine kleine, in einen roten Umhang gehüllte Gestalt stand vor ihm und sah ihn unter der tief in die Stirn gezogenen Kapuze hervor an. Im ersten Moment glaubte er einen der Hofnarren vor sich zu haben und wollte ihn wegscheuchen. Aber dann erkannte er Alberich.

Hagens Miene verdüsterte sich. Er hatte den Alben seit jenem häßlichen Gespräch oben in Kriemhilds Kemenate nicht mehr gesehen, und er hatte gehofft, daß es dabei bleiben würde, bis das Fest vorüber war und er Worms verließ. Der Zwerg blickte ihn mit einer Mischung aus Herausforderung und hämischer Schadenfreude an und wartete offensichtlich darauf, daß Hagen etwas sagte. Als er es nicht tat, griff er nach Hagens Becher, nahm einen Schluck, verzog das Gesicht und stellte ihn wieder zurück. »Euer Wein ist sehr schwach, Hagen von Tronje«, sagte er. Seine Augen glitzerten. »So wie der Eures Bruders und Eures hitzköpfigen Neffen.« Hagen schwieg noch immer. Alberich starrte ihn eine Sekunde lang durchdringend an, zuckte mit den Achseln und stemmte sich ächzend auf den Tisch hinauf. Ein paar Gesichter wandten sich ihnen zu, lachten, als sie die kleine Gestalt erblickten, die sie wie Hagen zuvor für einen Narren hielten, und Alberich stolzierte keck über den Tisch und sprang auf der anderen Seite wieder zu Boden.

»Haltet Ihr es für nötig, einen klaren Kopf zu behalten?« fragte Alberich. Hagen ignorierte ihn. Alberich schwang sich kurzerhand auf die Armlehne des Sessels und ließ die Beine baumeln. Hagen verlagerte sein Gewicht und versuchte den Zwerg mit der Schulter herunterzustoßen, aber es gelang ihm nicht. Alberich kicherte. »Nicht doch, Hagen«, sagte er. »So leicht wird man einen Alb nicht los.« Sein Gesicht befand sich jetzt auf gleicher Höhe mit dem Hagens, und er sprach so leise, daß niemand außer Hagen seine Worte verstehen konnte. »Habt Ihr Euch entschieden, welchem Eurer Freunde Ihr heldenhaft den Dolch ins Herz stoßen werdet?« fragte er boshaft. »Oder ist Euch ein Meisterstreich eingefallen?« »Vielleicht«, antwortete Hagen, ohne Alberich anzusehen. »Einer, mit dem Ihr sie beide ins Unglück stoßt?« Hagen fuhr verärgert herum. Der Mann zu seiner Rechten blickte fragend herüber und wandte dann hastig den Blick »Was willst du?« fragte Hagen. »Geh zu deinem Herrn, wo du hingehörst. Seine Stiefel sind schmutzig. Du könntest sie sauberlecken.« Wie immer, wenn er es darauf angelegt hatte, Alberich zu beleidigen, schien sich der Zwerg umso mehr zu amüsieren. »Da war ich bereits, Hagen«, sagte er. »Er schickt mich zu Euch.« »Tut er das?«

»Vielleicht«, murmelte Alberich. »Vielleicht auch nicht, was spielt das für eine Rolle? Ich sehe, Ihr tragt ein Schwert Wozu?« »Das Fleisch ist zäh«, antwortete Hagen wütend. »Ich muß es schneiden.«

»Wessen Fleisch? Siegfrieds?« Alberich gab einen glucksenden Laut von sich. »Ein Schwert aus Stahl wird dazu nicht reichen, Hagen, glaubt mir. Wie habt Ihr Euch entschieden?« »Interessiert dich das wirklich?«

»Wahrscheinlich könnte ich mir die Frage ersparen«, erwiderte Alberich. »Denn ganz egal, was Ihr tut, es ist falsch. Ich bin enttäuscht von Euch, um ehrlich zu sein. Ich dachte, Ihr würdet abreisen oder Euch wenigstens umbringen. Aber so...« Er lachte, hob den rechten Fuß und stieß gezielt Hagens Becher um. »Aber trotzdem - es interessiert mich. Wie habt Ihr Euch entschieden?«

»Warum wartest du nicht ab?« murrte Hagen. »Nicht mehr lange, und du wirst es erfahren.« Er deutete mit der Hand auf Gunther, der sein Gespräch mit Gernot beendet hatte und schon eine geraume Weile in seine Richtung sah. In seinen Augen stand ein fragender Ausdruck, eine Spur Unsicherheit. Es war nicht Furcht, aber eine bedenkliche Unruhe. Hagen deutete ein Nicken an, das Gunther erwiderte, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und spannte sich. Gunther erhob sich mit einer nicht mehr ganz sicheren Bewegung, nahm seinen Becher in die rechte und schlug mit den beringten Fingern seiner linken Hand ein paarmal dagegen. Das Geräusch war nicht sehr laut, aber es drang doch durch den Lärm der Zechenden, und wer es nicht vernahm, der wurde von seinem Nachbarn rasch zum Schweigen gebracht. Es dauerte kaum eine Minute, bis sich Stille über den großen Saal ausgebreitet und sich alle Gesichter dem Burgunderkönig zugewandt harten.

Gunther stellte seinen Becher ab und räusperte sich. Ein Diener trat leise hinter Hagen und wollte den umgestürzten Becher durch einen neuen ersetzen, aber Hagen winkte ungeduldig ab. Auch Alberich saß gespannt und beugte sich vor.

»Meine Freunde«, begann Gunther. Seine Stimme war fest, aber Hagen hörte heraus, daß er sich Mut angetrunken hatte, gerade genug, um noch mit sicherer Zunge reden zu können. »Freunde von Burgund und Worms«, sagte Gunther, »Edle und Könige, Ritter und Helden, die Ihr zusammengekommen seid, um mit Uns den Sieg zu feiern und Gott zu danken - der Augenblick ist gekommen, das zu tun, was schon lange hätte getan werden müssen.«

Er hielt einen Augenblick inne, und Hagen nutzte die Pause, um zu Siegfried und Kriemhild hinüberzusehen. Die Züge des Xanteners waren ausdruckslos ernst; nur in seinen Augen glitzerte ein leiser Triumph. Er wirkte nach wie vor gelöst, während Kriemhild sichtlich Mühe hatte, ihre Fassung zu bewahren. Sie sah krampfhaft nicht in Siegfrieds Richtung. Ein dumpfes Gefühl von Schuld stieg in Hagen auf. Er verscheuchte es. »Alle, die hier versammelt sind«, fuhr Gunther fort, »wissen, wem wir den Sieg zu verdanken haben. Es waren Lüdeger und Lüdegast, die Könige der Sachsen und der Dänen, die Uns und Unserem Reich den Krieg erklärten, und es war tin Mann, der sie schlug.« Er lächelte und hob sein Glas, wenn auch in keine bestimmte Richtung. Der schale Geschmack in Hagens Mund verstärkte sich.

»Mit dem heutigen Tag«, fuhr Gunther mit erhobener Stimme fort, »feiern wir nicht allein den glücklichen Ausgang der Schlacht und die siegreiche Heimkehr unserer Helden. Es war Gott, der Uns und Unseren Verbündeten die Kraft gab, die feindlichen Heere zu schlagen, obwohl sie uns an Zahl weit überlegen waren. Aber Gott der Herr spricht auch: Liebe deine Feinde, und so war es derselbe Mann, der sie schlug und der Uns geraten hat, nicht Böses mit Bösem zu vergelten und der Rache zu entsagen. Es ist zuviel Blut geflossen, und kein Gold der Welt kann die Toten wieder lebendig machen und geschlagene Wunden verschließen. Lüdeger und Lüdegast sind frei. Morgen, wenn die Sonne aufgeht, wird ein Schiff bereitliegen, sie nach Hause zu bringen.« Ein erstauntes Raunen ging durch den Saal. Es war bekannt gewesen, daß Gunther nicht beabsichtigte, die beiden feindlichen Könige zeitlebens als Gefangene in Worms zu behalten oder ihnen den Prozeß zu machen und sie zu töten, wozu er berechtigt gewesen wäre. Aber die großmütige Geste, sie ohne jegliche Bedingung/und ohne jede Forderung auf Lösegeld oder Wiedergutmachung ziehen zu lassen, kam für die meisten doch überraschend.

»Es war ein Mann«, fuhr Gunther, weiterhin zum Saal und zu den versammelten Gästen gewandt, fort, »der verhinderte, daß Unsere Länder überrannt, Unsere Untertanen erschlagen oder versklavt und Unsere Städte gebrandschatzt wurden. Ein Mann, der vor einem Jahr in Unsere Stadt kam, um sie zu erobern. Aber er legte das Schwert aus der Hand und bot Uns statt dessen Freundschaft Wäre er nicht, säße keiner von uns mehr hier, und über Worms würden die Fahnen der Sachsen und Dänen wehen. Unser Freund und treuester Verbündeter - Siegfried von Xanten.«

Er drehte sich halb herum und wies auf Siegfried, der sich zögernd, als begriffe er erst jetzt, daß er gemeint war, aus seinem Stuhl erhob. Ehe die Gäste in Hochrufe ausbrechen konnten, fuhr Gunther fort. »Unser Freund und Verbündeter«, wiederholte er. »Der Mann, der die Sachsen geschlagen und ihren König als Gefangenen zu meinen Füßen geworfen hat Dieses Fest, Siegfried, wird zur Feier Unseres Sieges gegeben, aber vor allem feiern wir es zu Euren Ehren und Euch zum Dank, daß Uns Unser Reich und vielen Unserer Recken das Leben erhalten blieb. Wir danken Euch, Siegfried von Xanten.«

»Ist er verrückt?« murmelte Alberich. »Steckt man dem Wolf auch noch die Hand in den Rachen, wenn er nach einem schnappt?« Hagen lächelte wissend. Möglicherweise war es nicht sehr geschickt, Siegfrieds Zuversicht mit solch überschwenglichen Worten noch zu schüren. Aber er konnte verstehen, warum Gunther so handelte. Konnte man es ihm verübeln, daß er den ersten und vielleicht einzigen Triumph, den er jemals in diesem ungleichen Kampf haben würde, in vollen Zügen auskosten wollte?

»Und so frage ich Euch, Siegfried von Xanten«, fuhr Gunther nach einer wohlberechneten Pause fort, »welches Begehr habt Ihr? Die Könige von Worms und das Volk von Burgund schulden Euch mehr als schöne Worte, und es sei Euch auf der Stelle gewährt.« Er holte zu einer weiten Geste aus. »Gold und Silber, die Hälfte meines Reiches oder der Platz zu meiner Rechten - was immer Ihr begehrt, Siegfried, es sei Euer.« Siegfried antwortete nicht gleich. Obwohl er sich mit Sicherheit auf diesen Moment vorbereitet hatte, schien er etwas verwirrt. Vielleicht überraschte ihn Gunthers unerwartete Großzügigkeit; ein Mann bot nicht sein halbes Reich an, wenn der zu Beschenkende Siegfried hieß, denn er könnte es nehmen. Aber der Moment der Unsicherheit ging rasch vorüber, und auf seinen Zügen erschien wieder das altbekannte, selbstbewußte Lächeln, verbrämt mit einer Spur Bescheidenheit »Ich ... danke Euch, Gunther von Burgund«, sagte Siegfried. »Euer Großmut beschämt mich, und Euer Angebot ist großzügiger, als es meine bescheidene Tat verdient. Was ich getan habe, habe ich aus Freundschaft getan, nicht um irgendeiner Belohnung willen.« »Wir wissen das«, antwortete Gunther lächelnd. »Doch was Wir Euch bieten, bieten Wir Euch aus Freundschaft, nicht um Euch zu bezahlen. Nennt Euren Wunsch. Es ist Uns zu Ohren gekommen, daß Ihr einen solchen hegt.«

In Siegfrieds Augen trat ein mißtrauisches Glitzern, und einen Moment lang fürchtete Hagen, Gunther könnte den Bogen überspannt haben. Aber dann lächelte Siegfried.

»Ihr habt recht vernommen, Gunther von Burgund«, sagte der Xantener. »Ich brauche Euer Gold und Euer Silber nicht, denn ich besitze mehr davon, als ich jemals ausgeben könnte, und ich brauche Euer halbes Reich und den Platz zu Eurer Rechten nicht, denn ich habe bereits den Platz in Eurem Herzen, so wie Ihr in meinem. Und doch gibt es etwas, was mein Herz begehrt und was nur Ihr mir gewähren könnt.« Sein Blick suchte den Kriemhilds, und als er weitersprach, klang seine Stimme noch sicherer als zuvor. »Ich kam hierher an den Rhein, weil mich die Mär von Eurer Kraft und Klugheit erreichte, doch ich fand einen weit größeren Schatz in den Mauern Eurer Burg, Gunther. Ich fand Eure Schwester, und seit ich ihr Antlitz zum ersten Male sah, gehört mein Herz ihr.« Er straffte sich. »Laßt uns unsere Reiche vereinen und stark und mächtig werden, und laßt uns dieses Bündnis mit den stärksten Banden besiegeln, die es gibt: denen der Liebe. Ich bitte Euch um die Hand Eurer Schwester Kriemhild, Gunther von Burgund«, sagte er. Niemand im Saal war ehrlich überrascht. Es war keiner hier, der nicht auch am Nachmittag auf dem Münsterplatz gewesen wäre, und kaum einer, der nicht schon vorher gewußt hätte, aus welchem Grunde Siegfried über ein Jahr in Worms weilte. Und trotzdem war es nach seinen Worten totenstill. Jeder wartete gespannt auf Gunthers Antwort. »Die Hand meiner Schwester«, wiederholte Gunther, und etwas in seiner Stimme schien Siegfried endgültig zu warnen. Seine Haltung versteifte sich, und das Lächeln auf seinem Gesicht vermochte jetzt nur noch die zu täuschen, die ihn nicht kannten.

»Ihr seid ... nicht unbescheiden, Siegfried«, fuhr Gunther fort. Er sprach ruhig und betonte jedes Wort, und er ließ Siegfried keinen Moment dabei aus den Augen. »Ich biete Euch mein halbes Reich, und Ihr fordert, woran mein ganzes Herz hängt und wofür ich selbst mein Leben gäbe, um es zu schützen, falls es nötig wäre - das Glück meiner Schwester.« Er schwieg. Ihre Blicke kreuzten sich, und nicht nur der Xantener sah mit Staunen, daß Gunther seinem Blick standhielt, und zwar lächelnd. »Doch wie kann ich Euch etwas verwehren, was Euch längst gehört, mein Freund«, fuhr Gunther fort »Man müßte blind sein, um nicht zu sehen, daß Kriemhild für Euch ebenso empfindet wie Ihr für sie, und man müßte ein Narr sein, wollte man behaupten, daß es irgendwo auf der Welt einen Mann gäbe, der sie glücklicher machen könnte als Ihr.« »So ... seid Ihr einverstanden?« fragte Siegfried. Gunther nickte. »Ich bin es«, sagte er. Siegfried entspannte sich, und zugleich wich auch von den Zuhörern die Spannung. Ein erleichtertes Aufatmen ging durch den Saal. »Ich bin es, Siegfried, und könnte ich der Stimme meines Herzens folgen, so würde ich Euch noch heute zum Traualtar geleiten und den Bund besiegeln.« Er senkte die Stimme. »Aber ich bin der König dieses Landes, und es gibt Gesetze, denen sich selbst Könige beugen müssen. So wisset denn, Siegfried von Xanten, daß uralte Regeln unseres Geschlechtes die Heirat eines Mitgliedes der Familie verbieten, solange der König selbst noch nicht vermählt und die Thronfolge gesichert ist.«

Siegfrieds Kiefer preßten sich kurz und heftig aufeinander, als würde er etwas mit den Zähnen zermalmen, aber Gunther sprach weiter, ehe Siegfried Gelegenheit zu einer Entgegnung fand. »Und doch braucht Ihr den Mut nicht sinken zu lassen, mein Freund«, sagte er, »denn auch ich trage mich schon seit Jahresfrist mit Heiratsplänen. Bisher haben mich die Geschicke des Reiches und die Pflichten meiner Königswürde gehindert, die Pläne in die Tat umzusetzen.« Er lächelte. »Es gibt eine Frau, nach der mein Herz schon lange begehrt. Seid mein Brautwerber und helft mir, ihre liebe zu erringen, Siegfried, und Ihr und ich werden gemeinsam vor den Altar treten und den Bund besiegeln, Ihr mit Kriemhild, ich mit der Frau, der mein Herz gehört wie das Eure meiner Schwester.« »So soll es geschehen, mein König«, sagte Siegfried. »Nennt mir den Namen der edlen Dame, um die ich für Euch werben soll, und ich werde bis ans Ende der Welt reiten, sollte es nötig sein.« Gunther lächelte. »Ihr Name«, sagte er, »ist Brunhild.« Die Wirkung, die Gunthers Worte auf Siegfried erzielten, war unbeschreiblich. Der Anblick entschädigte Hagen für jeden Moment des Zornes und der Schmach, den er Siegfried zu verdanken hatte. Das Lächeln auf den Zügen des Xanteners erstarrte zu einer Grimasse, hinter der sich zuerst Schrecken, dann Unglauben und eine immer stärker werdende Wut verbargen. Und schließlich Entsetzen. Hagen war überrascht, es zu sehen, denn er hatte nicht geglaubt, daß Siegfried einer solchen Empfindung überhaupt fähig war. Aber es war blankes Entsetzen, ein Ausdruck von Furcht, die den Nibelungen in Bruchteilen von Sekunden überwältigte und selbst seinen Zorn erstickte. Im Augenblick seines größten Triumphes, und vor aller Augen, lernte er das Gefühl der Niederlage kennen, die namenlose Enttäuschung, einen Fingerbreit vor dem Ziel aller Wünsche plötzlich vor dem Nichts zu stehen. Geschlagen zu sein, endgültig und unwiderruflich. Gunther hatte ihm mit offener Hand dargeboten, was er jemals erstrebt hatte, aber im Moment, als Siegfried zugreifen wollte, hatte Gunther die Hand geschlossen; zu einer Faust, die nicht einmal Siegfrieds Götterkräfte aufzubrechen imstande waren. Hagen beobachtete die Reaktionen auf den Gesichtern der anderen. Giselher wirkte bestürzt, er schien sich nur mit Mühe zu beherrschen, um nicht aufzufahren und seinen Bruder vor aller Ohren einen Narren zu nennen, während Gernot stirnrunzelnd in Hagens Richtung blickte. Er mochte von allen am ehesten vermuten, wessen Idee es gewesen war, und warum. Kriemhild - nun, Kriemhild hatte wohl noch gar nicht begriffen, was Gunthers Worte in ihrem vollen Umfang bedeuteten. Sie schien überrascht, vielleicht ein bißchen verstört, das war alles. Um Utes Lippen zuckte ein mühsam unterdrücktes Lächeln. Sie wirkte erleichtert was Hagen ein wenig verwunderte. Er wich ihrem Blick aus und sah wieder zu Siegfried und Gunther hinüber.

Lange, endlos lange, wie es schien, standen sich die beiden Männer gegenüber und blickten sich an, und am Ende war es Siegfried, der den Blick senkte. »Brunhild«, sagte er.

Gunther nickte. »Die letzte der Walküren. Sie ist es, der mein Herz gehört. Ich habe geschworen, sie zum Weibe zu nehmen - sie oder keine -, und wer wäre besser geeignet als Ihr, Freund Siegfried, an meiner Seite zu reiten, wenn ich um sie freie?«

Siegfried machte keinen Versuch, ihn umzustimmen. Es war etwas in Gunthers Stimme, was ihn die Sinnlosigkeit jedes wie auch immer gearteten Einwandes erkennen ließ. Er neigte den Kopf, lächelte noch einmal gezwungen in die Runde und ließ sich ohne ein weiteres Wort auf seinen Platz sinken. Gunther selbst blieb noch einen Moment stehen, ehe er sich ebenfalls setzte und nach seinem Becher griff, um seine trocken gewordenen Lippen zu benetzen. Das Fest nahm äußerlich seinen Fortgang, als wäre nichts geschehen.

»Ich glaube, es ist an der Zeit, mich bei Euch zu entschuldigen, Hagen«, wisperte eine Stimme an Hagens Ohr. Hagen wandte unwillig den Kopf und starrte in Alberichs zerfurchtes Gesicht Es war häßlich wie immer, doch Hagen meinte zum ersten Mal ein ehrlich gemeintes Gefühl in seinen Augen zu lesen. Doch er war sich nicht sicher, daß er das überhaupt wollte.

»Schweig!« zischte er. »Du weißt nicht, was du redest.« Alberich kicherte. »O doch, Hagen, o doch«, flüsterte er. »Ihr wollt mir doch nicht einreden, daß das Gunthers Idee war.« Er lachte ein wenig lauter, krümmte sich auf der Sitzlehne und schlug sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Ein paar mißbilligende Blicke trafen ihn, und selbst Siegfried sah kurz auf und starrte ärgerlich zu dem Zwerg hinüber, aber Alberichs Erheiterung nahm dadurch eher noch zu. »Das ist genial!« kicherte er. »Genial, genial, genial!«

»Halt endlich den Mund!« sagte Hagen warnend. »Ich habe nichts damit zu tun. Es war schon lange Gunthers Wunsch, Brunhild zum Weibe zu nehmen.« Alberich hielt nicht den Mund, senkte aber wenigstens die Stimme. »Oh, natürlich«, sagte er spöttisch. »Und es ist ein glücklicher Zufall, daß er gerade jetzt wieder daran denkt, sich zu verheiraten, wie?« Er kicherte erneut, hopste aufgeregt auf der Sessellehne auf und ab und deutete mit dem Zeigefinger auf Siegfried. »Soll er doch sehen, wie er Kriemhild die wahre Geschichte seines Drachenkampfes und des Ringes Andwaranaut erzählt!« kicherte er. »Und wie er Brunhild erklärt, daß er einer anderen sein Wort gegeben hat. Es wäre interessant, Zeuge dieses Gesprächs zu sein, denn seine Kraft und sein unverschämtes Glück werden ihm kaum dabei von Nutzen sein. Schade, daß ich es nicht erleben werde.« »Du wirst überhaupt nichts mehr erleben, wenn du nicht sofort still bist«, sagte Hagen drohend und legte die Hand auf das Schwert. Alberich deutete eine spöttische Verbeugung an. »Oh, verzeiht, edler Hagen«, sagte er. »Ich wollte Euch nicht erzürnen. Nicht einen Mann, der mir als Intrigant ebenbürtig ist«

Hagen starrte ihn finster an und stand dann so unvermittelt auf, daß Alberich auf der Lehne das Gleichgewicht verlor und mitsamt dem Stuhl zu Boden fiel. Die Umstehenden begannen zu lachen. »Und jetzt, edler Fürst der Alben«, sagte Hagen mit beißendem Spott, »habt die Güte, mich zu entschuldigen. Und entschuldigt mich auch bei Eurem Herrn, daß ich seinem Ehrentage nicht weiter beiwohnen kann. Ich bin ein kranker Mann und muß mich zurückziehen. Ihr werdet Verständnis haben.«

Alberich rappelte sich mühsam vom Boden hoch. Seine Augen sprühten vor Zorn, als er Hagen unter der verrutschten Kapuze seines Mantels hervor musterte. Aber er sagte nichts mehr.

Hagen ging. Verwunderte Blicke folgten ihm, als er in Richtung Ausgang schritt, und so manche Hand streckte sich aus, um ihn zurückzuhalten. Aber er kümmerte sich nicht darum. Sein Entschluß, sich zurückzuziehen, stand fest. Und er brauchte Kraft für den morgigen und die kommenden Tage. Als er die Tür erreichte, sah er noch einmal zurück. Siegfried hatte sich von seinem Platz erhoben und redete mit einem seiner beiden Wächter, aber seine Augen waren starr auf Hagen gerichtet. Hagen vermochte Siegfrieds Blick nicht zu deuten, aber was immer es war - es ließ ihn frieren. Er mußte sich mit aller Macht beherrschen, um die letzten Schritte aus dem Saal nicht zu rennen.

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