4

Es war still in der kleinen Turmkammer. Das Fenster, dessen Läden nur halb geschlossen waren, ließ schmale Streifen goldenen Sonnenlichtes herein, in denen der Staub seinen nie endenden Tanz aufführte, und von unten wehten die Geräusche der Burg herauf: das harte Klappern beschlagener Pferdehufe, Stimmen, die aufgeregt durcheinanderredeten und -riefen, das Knarren von Holz, Rädern, Toren und Läden, alles seltsam gedämpft und unwirklich. Nach dem Unheil, das eine Zeitlang wie eine drohende Wolke über der Burg gehangen hatte, atmete Worms hörbar auf, und wie oft nach einem plötzlichen Schrecken schien die Stimmung jetzt ins Gegenteil umgeschlagen zu sein. Es war mehr Lachen zu hören als an gewöhnlichen Tagen, und zwischen den grauen Mauern herrschten Ausgelassenheit und fröhliches Treiben. Nun, dachte Hagen in einer Mischung aus Spott und Unbehagen, es war kein gewöhnlicher Tag. Es waren Gäste in der Burg, besondere Gäste! Siegfried, der Drachentöter, und seine Männer.

Er trat ans Fenster und schob die Läden ganz auf. Sein Blick ging über den Hof. Gunther hatte für den Abend zu Ehren des Nibelungenherrschers wieder ein Fest befohlen, und die Vorbereitungen waren in vollem Gange. Männer waren in die Stadt und die umliegenden Dörfer gesandt worden, um von den Bauern Wein und Fleisch einzuhandeln, denn die Vorratskammern der Burg waren vom Winter geleert und nicht auf ein neuerliches großes Gelage vorbereitet, und ein Trupp Reiter war ausgeschickt worden, um die Gaukler und Spielleute, die schon geraume Zeit in der Umgebung von Worms umherzogen, für den Abend einzuladen. Hagen lehnte sich ein wenig weiter vor, um den Hof zur Gänze zu überblicken. Weder von Siegfrieds Begleitern noch von ihren Pferden war etwas zu sehen. Die Tiere waren fortgebracht worden, wie Gunther es befohlen hatte, damit man sie versorgte und nach dem langen und anstrengenden Ritt gut fütterte und tränkte, und auch die Männer hatten sich zurückgezogen. Alles wirkte friedlich und heiter, und selbst der Tag hatte sich in sein Festgewand gekleidet und verwöhnte das Land mit einer für die Jahreszeit ungewohnten Fülle von Wärme und Licht. Einen Augenblick lang fühlte sich Hagen beinah angesteckt von der gelösten Stimmung. Aber sie verflog so schnell, wie sie gekommen war, und zurück blieb das dumpfe Gefühl der Bedrohung, das seit dem heutigen Morgen für ihn einen Namen hatte.

Eine Bewegung hinter einem Turmfenster erregte seine Aufmerksamkeit. Ein Sonnenstrahl brach sich blitzend an Gold oder einem Zierat Hagen hob den Blick, sah einen Moment lang stirnrunzelnd zu dem Fenster hinauf und wandte sich dann mit einem Ruck um. Mit schnellen Schritten verließ er seine Kammer, trat auf den Gang hinaus und wandte sich nach links.

Er eilte die Treppe hinab, trat auf den breiten, umlaufenden Säulengang hinaus und umrundete ihn zur Hälfte, lief auf der gegenüberliegenden Seite die Treppe zum Haupthaus hinauf und betrat die Halle. Er blieb stehen, als er Stimmen aus dem Thronsaal hörte. Einen Moment überlegte er. Gunther und seine Brüder hatten sich zurückgezogen, und auch Siegfried war in das Gemach gegangen, das ihm zugewiesen worden war - so jedenfalls hatte er gesagt. War es möglich, daß Gunther noch einmal zurückgekehrt war, um noch einige Anordnungen für das Fest am Abend zu treffen? Vielleicht fand sich eine, in diesen Tagen immer seltener werdende Gelegenheit, allein mit ihm zu reden.

Entschlossen wandte sich Hagen zum Thronsaal. Die Stimmen wurden lauter, und Hagen glaubte die eines Mannes und einer Frau zu erkennen. Sie klangen erregt.

Der Saal war noch so, wie Hagen ihn verlassen hatte. Auf dem Tisch standen die Reste des Mahles, das zu Siegfrieds Begrüßung aufgetragen worden war, dazwischen Krüge mit Wein und Met. Es waren Volker von Alzei, Frau Ute und Kriemhild, deren Stimmen er gehört hatte. Hagen vermochte selbst nicht genau zu sagen, warum - aber diese Zusammenstellung gefiel ihm nicht. Vielleicht, weil Volker für Hagens Geschmack zu sehr - und zu blind - im Banne Siegfrieds von Xanten stand.

Volker von Alzei hatte Hagens Schritte gehört und wandte sich um. Seine Hände erstarrten mitten in der Bewegung, es war, als hätte er gerade etwas erklärt. Hagen war sich nicht sicher, ob der Ausdruck in seinen Augen Unmut oder bloße Überraschung war. Frau Ute saß auf Gunthers Stuhl an der Stirnseite der Tafel. Kriemhild stand an einem der schmalen Fenster und spielte unruhig mit einem Kamm, den sie aus ihrem Haar gezogen hatte. Obwohl Gäste in der Burg waren, trug sie keinen Schleier, wie es sich geziemt hätte, sondern hatte das graue Seidenruch unter dem Kinn geknotet. Wie ihre Schönheit, hatte sie auch das Haar ihrer Mutter geerbt, und für einen kurzen Moment sah Hagen Kriemhild völlig neu, sah in ihr die Frau, die ihre Mutter einmal gewesen war und die Kriemhild bald sein würde. »Hagen.« Ute stand auf und kam ihm ein paar Schritte entgegen. Unentschlossen blickte sie zwischen Hagen, ihrer Tochter und Volker von Alzei hin und her.

»Störe ich?« fragte Hagen spöttisch.

Die Frage war an Volker gerichtet, aber es war Ute, die antwortete: »Man scheint uns Frauen vergessen zu haben, seit die Sonne aufgegangen ist und diese Reiter in der Stadt sind«, sagte sie. »Deshalb sind Kriemhild und ich heruntergekommen; nur, damit ihr Männer nicht gänzlich vergeßt, daß es uns gibt.« Sie seufzte. »Ganz Worms scheint auf den Beinen zu sein«, sagte sie. »Selbst die Mägde haben es ungewöhnlich eilig, hinunterzukommen und die Hände zu rühren.«

»Welche Stadt hat schon die Ehre, Siegfried von Xanten in ihren Mauern zu beherbergen?« Der unverhohlene Spott in Hagens Stimme brachte ein belustigtes Glitzern in Utes Augen, und Hagen sah aus den Augenwinkeln, wie Volker zusammenfuhr. »Wie ist er, Ohm Hagen?« fragte Kriemhild aufgeregt Hagen ließ absichtlich einige Zeit verstreichen, ehe er unschuldig fragte: »Wer?«

»Siegfried!« antwortete Kriemhild ungeduldig. Sie schüttelte ihr Haar zurück, und unter ihren blonden Locken kam ein breites, mit kostbaren Edelsteinen besetztes Stirnband zum Vorschein - das Blitzen, das Hagen von seinem Fenster aus wahrgenommen hatte! Kriemhild mußte erst vor wenigen Augenblicken von oben heruntergekommen sein. »Der Drachentöter! Ist er es wirklich? Habt Ihr ihn gesehen? Wie sieht er aus?« Hagen wollte Volker von Alzei einen wütenden Blick zuwerfen. Aber er beherrschte sich. »Er ist es«, antwortete er. »Ich weiß nicht, ob er wirklich einen Drachen getötet hat, aber dieser Mann ist Siegfried von Xanten.« Kriemhild sah fragend zu Hagen auf. »Eure Stimme hört sich... seltsam an«, sagte sie. »Ihr scheint nicht sein Freund zu sein, Ohm Hagen.« Sie warf einen hilfesuchenden Blick zu Volker hinüber. Der Spielmann sah weg.

»Freund?« Hagen wählte seine Worte sehr behutsam. »Mit dem Wort Freund sollte man vorsichtig sein, Kriemhild. Ich weiß eine Menge über ihn, und auch wenn manches davon gewiß nicht der Wahrheit entspricht, so gefällt mir nicht alles an ihm.«

»Ihr mißtraut ihm«, stellte Kriemhild fest. Ihre Stimme klang traurig. Nein - verbesserte sich Hagen in Gedanken. Nicht traurig. Enttäuscht. Wie die eines Kindes, dem man sein neues Spielzeug weggenommen hat Er streckte die Hand aus und zog Kriemhild zu sich heran. »Ich mißtraue ihm nicht«, sagte er. »Aber ich traue ihm auch nicht. Er beeindruckt dich, nicht wahr? Sein Mut und seine Kraft haben ihn schon zu Lebzeiten zu einer sagenumwobenen Gestalt werden lassen, aber du solltest dich nicht vom Schein täuschen lassen, Kriemhild.« »Erzählt mir von ihm, Ohm Hagen«, bat Kriemhild. »Ihr kennt die Geschichten, die man sich über ihn erzählt, besser als irgendein anderer.«

»Ich bin kein Spielmann«, wehrte Hagen ab. »Warum fragst du nicht Volker? Er war doch gerade dabei, dir von Siegfrieds Heldentaten zu berichten, oder?«

»Aber ich möchte die Geschichte aus Eurem Mund hören, Ohm Hagen«, beharrte Kriemhild. »Erzählt mir von Siegfried und dem Kampf mit dem Drachen.« Sie drängte ihn, sich zu setzen, zog sich ein Kissen heran, um sich zu seinen Füßen niederzulassen. Aber Hagen schüttelte entschieden den Kopf. »Laß Volker erzählen«, sagte er. »Der Spielmann versteht sich besser darauf als ich.« Der spöttische Unterton in seiner Stimme entging Kriemhild, aber Volker hörte ihn sehr wohl. Man sah ihm an, daß er am liebsten davongelaufen wäre.

»Erzählt, Volker«, bat nun auch Ute. »Vielleicht ist es eine kleine Abwechslung im täglichen Einerlei. Ich fürchte, solange der Xantener und seine Männer in Worms weilen, werden die Tage in unserer Kemenate noch einsamer und länger werden als sonst.« - Und was er nicht weiß oder was er vergißt, das werde ich erzählen, dachte Hagen. Utes Blick sagte ihm, daß sie genau das von ihm erwartete. Kriemhild würde in den nächsten Tagen so oder so alles hören, was es über den Xantener zu berichten gab, und vielleicht war es besser, sie erfuhr es von Volker und ihm als von anderen.

Hagen setzte sich und lehnte sich mit einem Seufzer zurück Dann nickte er Volker ermutigend zu. »Beginnt«, sagte er.

Der Spielmann war nervös, er gab sich alle Mühe, seiner Stimme die gewohnte Sicherheit zu geben, als er begann. »Ich habe viel von Siegfried von Xanten gehört«, hob er in jenem leichten Singsang an, wie es Spielmannsart war. »Schon zu Hause in Alzei und auch sonst überall, wo ich hinkam, nicht erst hier. Man sagt, er sei der Sohn von Siegmund, dem König der Franken, der zu Xanten am Rhein regiert, und seiner Gemahlin Sieglind.«

»Man sagt es?« unterbrach ihn Kriemhild.

Volker nickte. »Xanten ist nicht weit, doch ich selbst war noch nicht dort«, antwortete er unsicher. »Und ich habe König Siegmund und seine Gemahlin nie gesehen.«

Kriemhild nickte, und Volker fuhr nach einem Zustimmung heischenden Blick in Hagens Richtung, die dieser lächelnd gewährte, fort. »Zu Xanten am Rhein also herrschen Siegmund und Sieglind, die aus dem Geschlecht der Wälsungen stammen, eine Sippe, deren Ahnherr Odin selbst gewesen sein soll, der Oberste der Asen und Vater der Menschen.« Allmählich gewann seine Stimme an Festigkeit Er vermied es zunächst noch, Hagen anzusehen, aber schon bald war er wieder ganz in seinem Element, der alte Volker von Alzei, der Nächte um Nächte singend erzählen konnte, ohne seine Zuhörer auch nur einmal zu langweilen. Selbst Hagen kostete es Mühe, sich nicht in den Bann seiner Erzählung ziehen zu lassen und zu vergessen, daß Volker nicht nur irgendeine Geschichte erzählte, um die langen Stunden eines Winterabends zu verkürzen. »Siegmunds und Sieglinds Sohn ist Siegfried, ein Knabe voller Kraft und Ungestüm, der schon als Kind so stark und wild war, daß niemand ihn zu bändigen wußte. Er war der Stolz seines Vaters und das Glück seiner Mutter, und doch bereitete er ihnen schon früh große Sorgen, denn es gab nichts, was seiner Neugier und seiner Kraft widerstand. Schon bald wurden ihm Land und Burg zu eng, und es zog ihn hinaus in die Welt Und da seine Eltern nicht nur liebevolle, sondern auch weise Menschen waren, ließen sie ihn ziehen, kaum daß er alt genug war, ein Pferd zu reiten und ein Schwert zu führen. - Natürlich«, fügte er mit einem milden Lächeln hinzu, »nicht so allein und unbeaufsichtigt, wie er glaubte. Die besten Recken seines Vaters begleiteten den Knaben stets so, daß Siegfried von ihrer Anwesenheit nichts merkte. Doch sie sahen schon bald, daß Siegfried ihres Schutzes nicht bedurfte und aller Gefahr aus eigener Kraft Herr wurde. So zogen sie Jahr für Jahr durch die Lande, erst am Rhein entlang, dann weiter hinauf in den Norden, weit in die Reiche des Winters und der ewigen Kälte.

Siegfried hatte schon viele Länder durchstreift und viele Heldentaten begangen, als er eines Tages einen Wald erreichte, in dessen Herzen eine Schmiede stand. Schon von weitem hörte er das Klingen und Schlagen der Hämmer, und der Himmel lohte rot im Widerschein der Esse, als wäre er gar in Thors Schmiede selbst geraten. Den Knaben packte die Neugier, und als er näher kam und die kraftvollen Hiebe des Schmiedes und seiner Gehilfen sah, da nahm ihn ihr Tun gefangen, und Stunde um Stunde lag er im Schutz eines Gebüsches und beobachtete, wie sie aus glühendem Eisen Schwerter und Schilde schufen. Erst als die Sonne unterging, trat er hervor und zeigte sich.

›Was suchst du, was stehst du hier müßig herum?‹ fragte der Schmied. Er war ein Zwerg - klein von Wuchs, doch groß an Kraft und an Ruhm, und sein Name war Mime, der Schmied. ›In Mimes Schmiede sind Müßiggänger nicht gerne gesehen.‹ ›Hörte ich richtig?‹ rief Siegfried voll Freude, ›Mime seid Ihr, des Nordlandes Schmied, der Lehrmeister Wielands? Auch ich möchte, gleich Wieland, ein Schmiedemeister werden. Und möchte von Stund an Euer Geselle sein.‹ Mime maß Siegfried mit prüfendem Blick Er wußte von Siegfrieds Kommen, und es war kein Zufall, daß der junge Recke den Wald, in dessen Herzen Mimes Schmiede lag, erreicht hatte. König Siegmunds Männer waren es gewesen, die Siegfried zu diesem Wald geleitet hatten, ohne daß er selbst es merkte, denn der König der Franken und Mime, der Schmied, hatten ein Abkommen getroffen. Das Zwergenvolk und die Wälsungen waren in Freundschaft verbunden, und so hatte Siegfrieds Vater den Schmiedemeister gebeten, den Übermut seines Sohnes zu zügeln und für seine Ausbildung zu sorgen, schien doch das Schmiedehandwerk das einzige, dessen Werkzeuge er nicht zerbrechen mochte mit seiner Kraft.

›Du scheinst ein wackerer Bursche‹, fuhr Mime fort, nachdem er Siegfried eingehend betrachtet und sich über dessen Kraft und Größe gewundert hatte; wußte er doch, daß er einem Knaben gegenüberstand, der kaum die Schwelle zum Jünglingsalter überschritten hatte. ›Und wackere Gesellen kann ich gebrauchen. Ist es dein Ernst?‹ ›Mein Ernst! Lehrt mich das Schmieden der Waffen !‹ Und Siegfried trat ein in die Schmiede und wurde des Meisters jüngster Geselle. Er glühte das Eisen, und Mime gab ihm den schwersten der Hämmer und hieß ihn, das Eisen zu schmieden. Jung Siegfried schwang seinen Hammer und schlug auf den Amboß. Als hätte der Blitz die Schmiede getroffen, erbebte die Erde, der Amboß fuhr in den Klotz und spaltete ihn. Eisen, Zange und Schlägelschaft flogen quer durch die Schmiede. Vor solcher Überkraft erschrak Mime. Er sprach! ›Gemach, mein Knabe, du zertrümmerst mein Werkzeug. Ich furchte, du taugst nicht zum Handwerk. Denn nur wer das Maß hält, der wird einst ein Meister!‹ Siegfried wollte auffahren, doch Mime sprach weiter und redete, obgleich ihn Siegfrieds Kraft erschreckte wie selten etwas zuvor, mit geduldiger Zunge weiter, erinnerte er sich doch an das Versprechen, das er Siegfrieds Vater gegeben; und so - die Sonne ging bereits wieder über dem Wald auf, und Siegmunds Männer waren längst wieder gen Xanten gezogen - gelang es Mime, Siegfried zur Besonnenheit zu überreden. Ein volles Jahr blieb der junge Siegfried in der Schmiede, und er lernte das Handwerk gut. Doch eines vermochte selbst Mime nicht. Siegfried ließ sich nicht zähmen. Das Eisen der Schmiede zerschlug er bis auf die letzte der Stangen, sie war aus härtestem Stahl. Aus ihr schmiedete Siegfried sein Schwert. Hatten bisher des Meisters Gesellen die Kraft Siegfrieds bewundert, so begannen sie bald, sie zu fürchten. Sie hatten schon manchmal im Streit die Faust Siegfrieds zu spüren bekommen, daß Himmel und Erde vor ihnen versank. Und nun schwang der junge Riese, der sich allzu leicht vom Zorne übermannen ließ, ein gewaltiges Schwert. Jagt Siegfried von dannen‹, rieten sie dem Meister. ›Oder wir alle verlassen Euch. Unser Leben ist nicht mehr sicher, seit der Königssohn aus Xanten hier weilt‹ Mime ging mit sich zu Rate, wie er sich Siegfrieds am besten entledigen konnte. Noch immer fühlte er sich an das Versprechen gebunden, das er seinem Vater gegeben hatte, doch spürte er auch mit jedem Tag mehr das Zittern der Furcht vor Siegfried, dessen Kraft immer noch wuchs und wuchs. Unheil droht durch den, so sagte er sich, der sich nicht bändigen kann. Zum Köhler will ich ihn schicken, der bei der Gnitaheide wohnt, auf der Fafnir, der Drache, den Hort der Nibelungen bewacht. Ich will ihn warnen vor der Gefahr, denn ich bin sicher, daß er sie sucht. Und wer die Gefahr sucht, der kommt darin um. - So sann der Schmied auf Siegfrieds Verderben. Er trug dem Arglosen auf, beim Köhler Holzkohle zu brennen, und Siegfried, froh, nach einem Jahr der rußigen Schmiede zu entkommen und in einen sonnigen Maitag entfliehen zu können, zog munteren Schrittes dahin. Der Wald war schön. Froh pfiff Siegfried sein Lied. Doch trat ein Reh in die Lichtung, so hielt er inné. Er fühlte sich wohl wie lange nicht mehr. Die Dämmerung sank schon herab, da sah er über den Wipfeln die blaue Rauchfahne des Kohlenmeilers wehen. Der Köhler saß still am Feuer, als Siegfried ihn grüßte und ihm bestellte, was Mime begehrte. Er wies den Gesellen in seine Hütte und teilte sein kärgliches Brot mit dem Hungrigen. Dann kehrten die beiden zum Feuer zurück, und Siegfried ließ sich erzählen von Fafnir, dem feuerspeienden Drachen, von Recken, die ihn zu zwingen versuchten und die das Untier verschlang. Vom gleißenden Golde des Hortes erzählte der Köhler und von dem Fluch, der auf ihm lastete. Siegfried ließ sich den Weg zur Gnitaheide beschreiben, und keines der Worte des Köhlers vergaß er. Siegfried sah nicht die Sterne und sah nicht den Mond, ihn fieberte heftig - und als die beiden sich im Stroh zur Nachtruhe legten, da konnte Siegfried nicht schlafen, er sah nur den Drachen; nach Kampf und nach Sieg dürstete ihn. Als früh am Morgen der Köhler sich den Schlaf aus den Augen rieb, da suchte er lange vergebens nach dem Gesellen, der im Stroh neben ihm gelegen hatte. Siegfried war längst schon der Hütte entflohen und sah bald im Morgenrot die Gnitaheide vor sich erglühen. Schön war der Morgen, doch sang kein Vogel, kein Blumenkelch öffnete sich, denn Gifthauch lag über der Heide, der Fels war verbrannt, kein Pfad war in der Asche zu finden. Siegfried erklomm einen Steilhang, denn droben sah er den Eingang zur Höhle.

Wie aber erschrak er, als plötzlich der Drache aus jener Höhle hervorschoß und Garben von Feuer ausstieß, laut brüllend und drohend die Pranken erhob! Siegfried griff nach dem Schwert und stemmte sich gegen den Fels. Der Drache hatte sein Opfer gewittert und züngelte gierig. Der Giftzahn stand ihm wie ein Dolch im offenen Rachen. Schon schlug Fafnir den Schuppenschwanz um den Verwegenen, da nahm Siegfried den Kampf auf, sein Schwert flammte, wie Blitz auf Blitz schlug's in den Drachen, und Schupp um Schuppe zersprang. Vom Wutgebrüll des Drachen hallten Berge und Tal. Die Erde bebte unter Fafnirs Schlaghagel, doch Siegfried wich geschickt dem Schwänze aus, und auch die Krallen schlugen in den Sand. Da stieß der Held sein Schwert dem Wurm in die Seite, das Blut schoß flammend aus der Wunde, ein Todesschrei! - Noch einmal hob sich Fafnir, schnellte in die Luft. Das Licht der Sonne verblich im Augenblick, und Schatten fielen auf das Land. Dann aber stürzte er herab und war tot. Der Drache war bezwungen. Beim Kampfe wurden Siegfrieds Arme von des Drachen Blut befleckt, und wo das Blut die Haut berührte, da wurde sie hart wie Horn. Da dachte Siegfried, solche Hörnung könnte nützlich sein. Er fuhr aus seinem Wams und badete im kochendheißen Blut, so daß sein Leib vom Kopf bis zu den Füßen hörnern wurde. Er jubelte: ›Kein Schwert, kein Speer kann künftig mich verwunden, gehörnt bin ich, mich schützt die beste Brünne, die es gibt‹ Ein Lindenblatt jedoch, vom Feuer, das der Drache ausstieß, aufgewirbelt, fiel zwischen Siegfrieds Schultern auf den Rücken, und wo das Blättchen lag, da blieb er ungehörnt.

Was aber wimmelte dort drüben an dem Rand der Heide? Die aufgeschreckten Zwerge waren es. Schilbung und Nibelung, die beiden Zwergenkönige, traten näher und sahen ihren Drachen tot hingestreckt und Siegfrieds Fuß auf Fafnirs Nacken. ›Fafnir ist tot - wer wird nun unseren Hort beschützen?‹ fragte König Schilbung. ›Den Hort, um den wir bitter streiten, auf dem der Fluch des Zwerges ruht?‹, so klagte König Nibelung. ›Hier steht der starke Held, der unsern Streit beenden kann durch Teilung unseres Schatzes - ›So sei es!‹ stimmte Schilbung zu. Da baten sie den Helden, den Hort der Drachenhöhle zwischen ihnen gerecht zu teilen, und boten Siegfried zur Belohnung Balmung an, das beste aller Schwerter auf dem Erdenrund.

›Um solchen Preis‹, rief Siegfried freudig, ›will ich gerne Schiedsrichter sein. Bringt mir Balmung, das Schwert, schafft nur den Hort herbei !‹ Aus allen Winkeln kroch das Zwergenvolk und trug den Hort der Nibelungen vor den Richter. Gold, Silber, Edelsteine lagen hoch gehäuft vor ihm, nicht hundert Wagen hätten von hier es fortgeschafft. Und Nibelung gab dem Helden Balmung, das Schwert, das zu tragen nur der erste Held würdig ist Siegfried verteilte nach gerechtem Maß den Schatz, jedoch die Könige gerieten wieder in Streit, und keiner gönnt dem anderen sein Teil, wenn Neid das Blut vergällt.

Sie schalten Siegfried einen ungerechten Richter und drangen zornig auf ihn ein. Und alles Volk der Zwerge und der Riesen geriet in Aufregung. Siegfried aber schwang Bahnung, das Schwert, und erschlug zwölf starke Riesen, die im Dienst der Zwergenkönige standen, und vielhundert Recken; auch Nibelung und Schilbung fielen im Kampf. Alberich jedoch, der mächtige Zwergenfürst, der König der Schwarzalben und Herrscher über Schwarzalfenheim, begehrte, die Könige des Zwergengeschlechts zu rächen. Er holte eine Kappe - wer sie trug, der war vor Hieb und Stich bewahrt, denn unsichtbar machte sie. Und Alberich zog seine Kappe über und brachte Siegfried bald in arge Not. Bis endlich Siegfried nach der Nebelkappe griff und sie mit List vom Haupt des Zwergenfürsten riß. Da stand nun Alberich als kleiner Wicht, und jammernd bat er um sein Leben. ›Verschone mich! Ich wollte als Vasall den Tod des Königs rächen. Die Tarnkappe hast du, ich bin nun wehrlos ganz in deiner Hand.‹ Der Held ließ Balmung sinken und verschonte Alberich. Er sprach! ›Treue trieb dich, den Tod deiner Könige zu rächen. Nun aber, da ich König bin im Reich der Nibelungen, schwöre mir die Treue! Sei du mein Kämmerer und Hüter dieses Hortes !‹ Und Alberich schwur Treue und das ganze Albenvolk mit ihm.

Der Hort der Zwerge wurde in die Berge zurückgebracht. Siegfried hing nicht an goldenen Schätzen. Nur einen Ring nahm er von dem Horte, dessen Schein ihm seltsam in die Augen stach. Der Zwergenfürst sah das bestürzt und warnte: ›Nimm nicht den Ring, mein König, diesen einen hier nimm nicht. Es ist Andwaranaut, der Ring des Nibelungs. Ein Fluch ruht auf ihm, Unheil bringt er jedem, der ihn trägt‹ Siegfried jedoch schlug die Warnung in den Wind und behielt den Ring. Der Held verließ das Nibelungenreich, und Alberich, der Zwerg, mit ihm, um ihm zu dienen, wie er zuvor den Nibelungen treu ergeben war.« Volker hielt inne, griff nach dem Weinbecher und befeuchtete seine trockenen Lippen. Sein Blick ging zu Hagen.

»Und?« fragte Kriemhild ungeduldig. »Hat er ihm Unglück gebracht?« »Der Ring der Nibelungen? - Nein. Andwaranaut war nicht irgendein Ring. Er war Hüter und Fluch des Schatzes in einem. Es hieß, Odin selbst habe ihn geschaffen und denen gegeben, die einst den Hort bewachten. Siegfried brachte ihn zu seinem rechtmäßigen Besitzer zurück.« »Aber das ist eine andere Geschichte«, warf Hagen ein. »Heb sie dir auf für ein andermal.«

»Warum?« fragte Kriemhild enttäuscht. »Es ist noch früh.« Hagen sah, daß ihre Wangen glühten. »Erzähle, Volker«, bat sie. »Erzähle vom Ring und wie Siegfried ihn zurück ins kalte Island brachte.« Volker wollte fortfahren, doch Hagen kam ihm zuvor. »Es ist genug«, sagte er bestimmt. »Mehr als genug für einen Tag.« Er wandte sich an Kriemhild. »Das sind Märchen, nichts als dummes Geschwätz, gut genug für alte Weiber und für Kinder. Nicht für dich.« Kriemhild sah ihn trotzig an. »Ihr seid ungerecht, Ohm Hagen«, sagte sie. »Nur, weil Ihr Siegfried nicht mögt...«

»Wer sagt, daß ich Siegfried nicht mag? Ich glaube die Geschichte vom Drachen und den Zwergen nicht und« - er zögerte einen Moment, ehe er weitersprach, wohl wissend, daß er mit seinen Worten vielleicht das Gegenteil dessen erreichte, was er erreichen wollte - »ich glaube auch nicht, daß er der rechtmäßige Erbe des Nibelungenhortes ist« »Er ist der Sohn eines Königs, Ohm Hagen«, sagte Kriemhild. »Ihr nennt ihn einen Dieb?«

Hagen lächelte dünn. »Der Sohn eines Königs? Ich habe es anders gehört. Interessiert dich das?«

»Nein«, antwortete Kriemhild zornig. »Ich will es nicht wissen, und ich will auch die andere Geschichte nicht mehr hören.« Sie stand auf und ging wütend zum Fenster. »Ihr habt mir den Spaß verdorben«, schmollte sie.

Hagen erhob sich, setzte dazu an, etwas zu sagen, aber in diesem Moment drang das Geräusch von Schritten in die Stille des hohen Saales, und alle Blicke wandten sich zur Tür.

Es war Siegfried. Er hatte sein rotgoldenes Prachtgewand abgelegt und trug jetzt einen einfachen braunen Kittel, der um die Taille von einem schmalen Silbergürtel gehalten wurde und seine Schultern und die mächtigen, muskelbepackten Oberarme freiließ; ein Kleidungsstück von nur scheinbarer Schlichtheit, dachte Hagen, das seine beabsichtigte Wirkung nicht verfehlte.

Siegfried schien überrascht, die Frauen hier zu sehen, und zauberte ein strahlendes, breites und offenes Lächeln auf seine Züge. Er nickte Hagen und Volker flüchtig zu und verbeugte sich in Utes und Kriemhilds Richtung.

Kriemhild stand wie vom Donner gerührt. Sie starrte den blonden Hünen an, und in ihre Augen trat ein Leuchten, das Hagen noch nie in ihnen gesehen hatte. Siegfried erwiderte ihren Blick Für die Dauer von zwei, drei Atemzügen ruhten die Blicke des Königssohnes aus den Niederlanden und der Schwester der Burgunderkönige ineinander. Keiner von ihnen sprach ein Wort oder rührte sich. Und plötzlich begriff Hagen, warum Siegfried von Xanten nach Worms gekommen war... Ute räusperte sich. Ihre Tochter fuhr zusammen, als wäre ihr urplötzlich eingefallen, wo sie war, befestigte mit einer raschen Geste den dünnen grauen Seidenschleier vor ihrem Gesicht und senkte züchtig den Kopf. Auch Siegfried senkte den Blick.

»Verzeiht«, sagte er, ohne Kriemhild oder ihre Mutter direkt anzusehen. »Ich wußte nicht...«

»Wir sind es, die uns entschuldigen müssen«, unterbrach ihn Ute. Ihre Stimme verriet, wie unangenehm ihr die Situation war. Sie warf einen Blick zu Hagen hinüber, ehe sie sich wieder an den Xantener wandte: »Wir hätten nicht hierherkommen und so tun sollen, als wären wir allein, Siegfried von Xanten. Verzeiht, wenn wir Euch in Verlegenheit gebracht haben.« Sie lächelte entschuldigend. »Komm, Kriemhild«, forderte sie ihre Tochter auf, »es ist schon spät, und bis zum Abend ist noch viel zu tun.« Kriemhild nickte, raffte hastig ihre Röcke zusammen und folgte ihrer Mutter gehorsam zum Ausgang. Siegfried trat mit einer angedeuteten Verbeugung zurück. Erst als Ute und Kriemhild den Saal verlassen hatten, sah er auf.

»Was führt Euch her, Siegfried von Xanten?« fragte Hagen schroff. »Wenn Ihr den König sucht, dann werdet Ihr Euch bis zum Abend gedulden müssen.«

»Es ist... nichts«, antwortete Siegfried ausweichend. Hagen spürte, daß er nach einer Ausrede suchte, um möglichst schnell wieder gehen zu können. »Ich... fand keine Ruhe«, sagte er, »und bin nur ziellos ein wenig herumgegangen.«

Er log. Seine Schritte hatten nicht wie die eines Menschen geklungen, der nur ein wenig »ziellos herumging«. Aber Hagen schwieg dazu. Gunther hatte keinen Zweifel darüber gelassen, daß er Freundschaft - oder wenigstens schweigende Zurückhaltung - zwischen Siegfried und Hagen wünschte.

»Ich glaube, ich werde mich draußen auf dem Hof ein wenig umsehen«, sagte Siegfried. »Worms ist eine gewaltige Burg.« Er schien auf eine Antwort zu warten, aber Hagen blieb sie ihm schuldig. Siegfried drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort.

Auch Hagen wollte gehen, aber Volker von Alzei packte ihn am Arm und hielt ihn zornig zurück. Kriemhild schien nicht die einzige zu sein, der Hagen den Spaß verdorben hatte.

»Was ist in Euch gefahren, Hagen?« zischte er. »Ihr haßt Siegfried, und Ihr behandelt ihn wie ...«»Ich behandle ihn, wie er es verdient.« Hagen riß wütend seinen Arm los. »Und wenn ich etwas hasse, dann ist es das dumme Geschwätz, das ich anhören mußte. Siegfried der Drachentöter. Der Herr des Nibelungenhortes!« äffte er Volkers Worte nach.

»Dummes Geschwätz?« Volker starrte ihn verständnislos an. »Es war Eure Geschichte, Hagen«, erinnerte er ihn. »Es ist noch nicht lange her, da habe ich sie von Euch gehört...«

»Unsinn«, schnappte Hagen. Er war nicht wirklich wütend auf Volker. Siegfried allein war es, dem sein Zorn galt. Aber wenn es auch zu spät war, den Schaden, der bereits angerichtet worden war, zu beheben, wollte er wenigstens verhindern, daß der Spielmann mit seiner Schwatzhaftigkeit noch größeren Schaden anrichtete. »Ihr wißt ganz genau, was ich meine«, fuhr er fort. »Man singt keine Heldenlieder, wenn der Held zufällig da ist und dem Weibervolk den Kopf verdreht.« Volker schien verwirrt. »Ich...«

»Um Himmels willen, Volker«, seufzte Hagen. »Seid Ihr denn blind? Seht Ihr denn nicht, daß dieses Kind in Liebe zu Siegfried entbrannt und kaum noch eines klaren Gedankens fähig ist?«

Volker lachte, aber es klang gezwungen. »Ihr übertreibt, Tronjer«, behauptete er. »Es ist kein Mädchen und kaum eine Frau in Worms, die nicht für Siegfried von Xanten schwärmt. Geht nur einmal hinunter in die Küche und hört Euch das Gekicher der Mägde an. Man könnte meinen, sie hätten in ihrem Leben noch keinen Mann gesehen.« »Kriemhild ist keine Magd, und dieser Saal ist nicht die Küche«, sagte Hagen. Der zornige Ton war aus seiner Stimme gewichen, dennoch spürte Volker, daß ihm die Sache bitter ernst war. »Begreift doch, Volker - sie ist die Schwester des Königs, nicht irgendein Mädchen. Und sie ist verliebt in diesen jungen Raufbold. Wenn ich je ein Mädchen gesehen habe, dessen Herz in Liebe entbrannt ist, dann sie.« Volker zuckte leicht mit den Achseln. »Und wenn schon«, murmelte er. »Sie ist ein Kind, Hagen. Was sie für Liebe hält, wird so schnell erlöschen, wie es gekommen ist.«

»Vielleicht nicht schnell genug«, sagte Hagen, mehr zu sich selbst als zu dem Spielmann. Und er dachte, um wieviel einfacher es doch war, ein Königreich zu heiraten, als es mit dem Schwert zu erobern.

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