3

Hagen erwachte am nächsten Morgen ungewohnt spät. Es war bereits hell und obwohl die Kälte während der Nacht erneut in seine Kammer gekrochen war und seine Decken mit Feuchtigkeit durchtränkt hatte, spürte er jetzt einen Hauch von Wärme durch die Fensteröffnung hereinwehen. Ja, selbst hier in der engen Turmkammer, die Hagen bewohnte, war es merklich wärmer. Der Frühling schien sich an diesem Morgen mit Macht anzukündigen, und über den Zinnen der Burg hing jener goldene Schimmer, der nur an seltenen Tagen des Jahres zu beobachten war. Die Brünnen und Schilde der Wachen, die auf den halb überdachten Wehrgängen auf und ab schritten, glänzten, als wären sie vergoldet, und selbst der Fluß hatte sich in sein Prachtgewand geworfen und schimmerte wie ein Band aus geschmolzenem Perlmutt. Es war, als wäre dieser Tag eigens geschaffen worden, den Frühling zu begrüßen. Es war warm, schon zu dieser Morgenstunde, und das Land atmete spürbar auf. Hagen erhob sich von seinem harten Lager, tastete mit den Fingerspitzen über seine Stirn, hinter der dumpfer Schmerz saß. Gunther hatte am vergangenen Abend darauf bestanden, daß Hagen blieb, bis das Fest seinen Höhepunkt überschritten hatte, und es war lange nach Mitternacht gewesen, ehe er endlich einen Vorwand gefunden hatte, sich zurückzuziehen. Zudem hatte er zuviel Wein getrunken; zuviel für einen Mann, der tagelang im Sattel gesessen und kaum Schlaf bekommen hatte. Aber wenigstens hatte Gunther nicht mehr über die geplante Reise nach Island gesprochen, und auch von den anderen hatte niemand an dieses Thema gerührt. Man legt keinen Finger in eine offene Wunde. Das Geräusch hastiger Schritte drang in Hagens Gedanken, dann wurde gegen die Tür geklopft, und Ortwein von Metz, Hagens Neffe, stürmte herein, ohne auf Antwort zu warten.

»Hagen!« begann er ohne Einleitung. »Der König bittet dich zu sich. Sofort.«

Hagen streckte automatisch die Hand nach Schwertgurt und Helm aus, die wie immer griffbereit auf dem Tisch lagen. Den Waffenrock trug er bereits, denn er hatte darin geschlafen, wie fast immer. Die Nächte waren noch empfindlich kalt, zu kalt, um sich nur auf die Decke und das darübergeworfene Bärenfell zu verlassen. »Was ist geschehen?« fragte er. Beim Sprechen spürte er erst, wie schwer seine Zunge war. »Reiter nahem sich dem Burgtor«, berichtete Ortwein, während Hagen den Gürtel umlegte und die schwere, in Form eines Seeadlers gefertigte Fibel schloß. »Mehr als ein Dutzend. An ihrer Spitze reitet ein Recke, wie ich noch keinen gesehen habe.« Ortwein zögerte einen Moment, ehe er hinzufügte: »Einer der Knechte behauptet, es sei Siegfried von Xanten.« »Siegfried von Xanten?« fragte Hagen ungläubig. »Der Drachentöter?« Ortwein nickte. Er war sichtlich nervös. Hinter seiner kaum verhüllten Unruhe verbarg sich Sorge. »Mehr weiß ich nicht«, gestand er. »Keiner von uns hat Siegfried je gesehen. Auch der Knecht glaubt ihn nur aus den Geschichten zu erkennen, die man sich über ihn erzählt« »Dann solltest du den Knecht zum Schweigen bringen, ehe er Dinge behauptet, von denen er nichts weiß«, sagte Hagen. »Geschichten werden viele erzählt. Komm - laß uns diesen Drachentöter einmal in Augenschein nehmen.« Er trat auf den Gang hinaus. Entfernter Lärm war zu hören; das Scharren von Metall, trampelnde Schritte. Stimmen. Obwohl Hagen und Ortwein keiner Menschenseele begegneten, während sie Seite an Seite durch die Gänge eilten, spürte Hagen die fiebernde Unruhe, die von ganz Worms Besitz ergriffen hatte. Die Burg schien sich in ein summendes Bienenhaus verwandelt zu haben, in dem er der einzige war, der vorläufig noch die Ruhe bewahrte. »Siegfried von Xanten«, murmelte Ortwein, während sie die Treppe zum Thronsaal hinabschritten. »Wenn er es wirklich ist - was für einen Grund mag er haben, nach Worms zu kommen? Noch dazu unangemeldet?« »Oh«, murmelte Hagen, »da kann ich mir eine ganze Menge Gründe vorstellen.« Sie erreichten den Thronsaal, ohne auf Wachen zu stoßen. Selbst diese hatten ihre Posten in der Halle verlassen, und als Hagen und Ortwein den Thronsaal betraten, waren alle Recken des Hofes versammelt und drängten sich an den drei schmalen Westfenstern, die auf den Innenhof blickten. Gunther wandte den Kopf, als Hagen und Ortwein eintraten, winkte ungeduldig mit der Hand und trat zur Seite, um Hagen am Fenster Platz zu machen.

Ganz Worms schien auf den Beinen zu sein. Im Burghof wimmelte es von Menschen, die sich vor dem Fallgatter drängten. Selbst am vergangenen Abend, anläßlich des Ostergottesdienstes, waren hier nicht so viele Menschen versammelt gewesen, um auf Gunthers Einladung hin den österlichen Segen zu empfangen und den Frühling zu begrüßen.

Die Reiter, von denen Ortwein gesprochen hatte, galoppierten soeben über die heruntergelassene Zugbrücke. Das Holz dröhnte unter den Hufen ihrer Streitrösser, und für einen kurzen Moment, bevor sie in den Schatten der Mauer eintauchten, ritten sie genau gegen die Sonne und wurden selbst zu gesichtslosen, drohenden Schatten. Das Licht brach sich auf ihren Helmen und Brünnen, auf den metallenen Rändern ihrer Schilde und dem Stahl ihrer Waffen, daß alle, die gebannt auf die Reiter blickten, geblendet die Augen schlössen. Es sah aus, als sprenge eine Armee lichtumflossener Göttergestalten direkt aus Walhalla herab auf die Erde. Es war ein eindrucksvolles Schauspiel. Ein Schauspiel, dessen Eindruck genau vorausberechnet war, fügte Hagen in Gedanken hinzu. Die Reiter passierten das Tor und ritten in den Hof ein. Das Donnern der Pferdehufe klang heller, als nicht mehr Holz, sondern das harte Kopfsteinpflaster des Burghofes unter ihnen war. Die Reiter, es waren ihrer dreizehn, zügelten ihre Tiere, und für einen Moment löste sich die geordnete Formation, in der sie durch das Tor geprescht waren, in ein wildes Durcheinander auf. Aber nur kurz; dann formierten sich die dreizehn Reiter neu und bildeten einen Halbkreis am Fuß der Treppe. Alles geschah schnell und präzise, als wäre es tausendmal geübt worden. »Das sieht nicht nach einem Freundschaftsbesuch aus«, murmelte Sinold, der Mundschenk, leise, aber doch so, daß alle es hörten. Hagen merkte erst jetzt, wie still es im Saal geworden war. Das Unbehagen, das Sinold ausgeprochen hatte, war auf den Gesichtern aller zu lesen. Hagen - der ewige Schwarzseher, wie Gunther ihn nannte - hatte bis jetzt geglaubt, der einzige unter ihnen zu sein, den dieser Besuch mit ernsthafter Sorge erfüllte.

Unten im Hof entstand neue Bewegung. Knechte eilten herbei, um den Gästen aus den Sätteln zu helfen und ihre Tiere in die Ställe zu führen, ihnen Schilde und Schwerter abzunehmen und sie zu bewirten, wie es die Regeln der Gastfreundschaft geboten. Aber die Reiter blieben in den Sätteln, beachteten die hilfreich dargebotenen Hände nicht, ja scheuchten die Knechte sogar mit barschen Worten zurück.

Hagens Unruhe wuchs. Erst jetzt fiel ihm auf, daß die beiden Reiter an den Flanken ihre Schilde auswärts trugen, als wäre einer von ihnen, der rechte, Linkshänder, und daß ihre Speere griffbereit in den Steigbügeln steckten. Und das war gewiß kein Zufall. Jetzt, als er auf diese Einzelheit aufmerksam geworden war, fielen ihm noch mehr Dinge auf, denen ein anderer vielleicht keine Beachtung geschenkt hätte. Die Haltung der Reiter wirkte entspannt Aber nur auf den ersten Blick. Ihre Hände lagen um die Schäfte der Speere oder nur eine Handbreit neben den Schwertgriffen, und obwohl Hagen ihre Gesichter nicht erkennen konnte, war er sicher, daß ihren Blicken nicht das geringste entging. Sie sind kampfbereit! dachte er erschrocken. Er wußte nicht, weswegen diese Männer gekommen waren, aber sie würden, falls es ihnen verweigert würde, nicht tatenlos abziehen. »Nun, Hagen?« fragte Gunther endlich, seine Stimme zitterte vor Ungeduld. »Ist er es oder nicht?« Hagen beugte sich noch weiter vor, stützte die Hände auf der breiten Fensterbrüstung ab und musterte den von je sechs Reitern flankierten Mann in der Mitte. Er war groß und so breitschultrig, daß er das bestickte braune Lederwams und den flammendroten Umhang fast zu sprengen schien. Als einziger von allen trug er keinen Helm, so daß man sein schulterlanges, leicht gewelltes blondes Haar sehen konnte. Der Schild, den er - ebenfalls als einziger - nicht am Arm trug, sondern am Sattelgurt befestigt hatte, war weiß, das Wappen darauf rot und von einer verschlungenen, an einen Drachenkopf erinnernden Form. An seiner Seite hing ein gewaltiges, zweischneidig geschliffenes Schwert Hätte Hagen noch Zweifel gehabt, sie wären spätestens beim Anblick dieser Waffe zerstreut worden. Er hatte dieses Schwert noch nie gesehen, sowenig wie seinen Träger, aber er hatte davon gehört. Jedermann hatte von Balmung, dem sagenhaften Schwert der Nibelungen, gehört »Ich denke, er ist es«, murmelte Hagen. »Nur ein Narr könnte sich für Siegfried von Xanten ausgeben, ohne es zu sein.« Gunther war bleich geworden. »Aber was mag er wollen?« fragte er bang. Hagen zuckte mit den Achseln. »Gehen wir hinunter und fragen wir ihn.«

Schnell, aber ohne übertriebene Hast verließen sie den Thronsaal und traten auf die Balustrade hinaus. Hagen blinzelte in das grelle licht der Morgensonne. Die Gestalten der dreizehn Reiter waren zu schattenhaften Umrissen verschmolzen, die drohend vor ihnen aufragten. Hagen widerstand dem Drang, sein Schwert zu ergreifen. Es war ein Fehler gewesen, den Reitern Einlaß in die Burg zu gewähren. Vor geschlossenen Toren hätte selbst die hundertfache Zahl keine ernstzunehmende Gefahr bedeutet. Hier drinnen konnten diese dreizehn Recken zu einer Bedrohung werden.

Und Recken waren es wahrlich! Wenn Hagen jemals eine Schar Männer gesehen hatte, auf die diese Bezeichnung zutraf, dann sie. Keiner von ihnen war kleiner als Ortwein, der in Worms schon fast als Riese galt, und selbst auf den Rücken ihrer gewaltigen Schlachtrösser wirkten sie beeindruckend groß. Endlich erwachte Gunther aus seiner Erstarrung. Er gab sich einen Ruck und ging mit schnellen Schritten die Treppe hinab. Wenige Schritte vor Siegfried blieb er stehen. Der Xantener musterte ihn von der Höhe seines Sattels aus, blieb aber unbewegt wie bisher.

Ein paar der Knechte, die die Reiter in respektvollem Abstand umstanden, begannen zu murren, verstummten aber sofort, als Gunther einen strengen Blick in die Runde warf. Hagen verstand die Knechte, denn Siegfrieds Benehmen verstieß gegen die gute Sitte. Es war mehr als nur unhöflich, im Sattel zu bleiben, während der König der Burgunder vor ihm stand und zu ihm aufblicken mußte. Schließlich, nach einer Ewigkeit, in der sich ihre Blicke stumm gekreuzt hatten, schwang sich der blonde Hüne gelassen aus dem Sattel, löste den Schild vom Sattelgurt, ging auf Gunther zu und blieb zwei Schritte vor ihm stehen. Sein Schild berührte mit einem hellen Klirren den Boden. Er lächelte, deutete ein Kopfnicken an und stützte sich lässig auf den Schild. Hagen, der Gunther gefolgt war, hatte sich etwas abseits gestellt, so daß er wie zufällig in Siegfrieds Rücken war. Er spürte, wie sich die Männer hinter ihm spannten. Die Atmosphäre auf dem Hof hatte sich von einem Augenblick zum anderen geändert: wo vorher neugierige Erwartung gewesen war, knisterte plötzlich Spannung und schwebte unverhohlene Furcht über den Köpfen der Menge.

Endlich brach Gunther das Schweigen. »Siegfried von Xanten?« begann er, nicht eben sehr geschickt. »Nach allem, was mir über diesen Helden zu Ohren gekommen ist, könnt Ihr kein anderer sein...« Gunther wartete auf Antwort, aber da Siegfried schwieg, ihn nur weiter stumm ansah, fuhr Gunther nach einer Weile noch steifer fort: »Sagt an, edler Herr, was führt Euch in unser Reich und unsere Stadt?«

Hagen wußte im ersten Moment nicht, ob er vor Schreck den Atem anhalten oder in schallendes Gelächter ausbrechen sollte. Gunthers Worte klangen geradezu lächerlich und beschämend und spiegelten nur zu deutlich seine Unsicherheit wider. So sprach kein König, auch nicht zu einem Mann, der selbst ein König war. Und schon gar nicht, dachte Hagen finster, wenn dieser waffenklirrend durch ein Burgtor ritt, das er in Gastfreundschaft offen fand. Außer vielleicht, dieser hieß Siegfried von Xanten. Siegfrieds Lächeln verschwand. Seine Hände spannten sich so fest um den Schildrand, als wollte er ihn zerbrechen. »Das will ich Euch sagen, König Gunther«, antwortete er, und seine Stimme klang kalt »Die Kunde von Eurem Ruhm und Eurer Tapferkeit ist weit über die Grenzen Burgunds hinausgedrungen, ebenso wie die vom Mute Eurer Recken. Man sagt, daß es an den Ufern des Rheins und der Donau keinen zweiten König gibt, der so viele edle Ritter und tapfere Kämpfer um sich geschart hat wie Ihr.«

»Seid Ihr gekommen, um Schmeicheleien auszutauschen?« fragte Hagen. Seine Einmischung war eine glatte Frechheit. Wo Könige redeten, hatte ein Waffenmeister zu schweigen, auch wenn er Hagen von Tronje hieß.

Siegfried lachte leise, drehte sich aber nicht zu Hagen um, sondern hielt den Blick unverwandt auf Gunther gerichtet »Der Mann, der da glaubt, unbemerkt in meinen Rücken zu gelangen, muß Hagen von Tronje sein«, sagte er spöttisch. »Ich habe viel von Euch gehört, Hagen, aber daß Ihr dem Feind in den Rücken fällt, gehört nicht dazu.« »Sind wir das denn?« fragte Hagen. »Feinde?«

Siegfried lächelte. Hagen fühlte eine Welle heißen Zornes in sich aufsteigen. Er verspürte den Wunsch, Siegfried an den Schultern zu packen, ihn zu sich herumzudrehen und für seine Unverschämtheit ins Gesicht zu schlagen.

»Genug«, sagte Gunther scharf. »Haltet Euch zurück, Hagen. Und Euch, Siegfried von Xanten, wiederhole ich meine Frage: Was führt Euch aus Xanten hierher nach Worms? Kommt Ihr als Freund, und benötigt Ihr ein Lager und Speise, so seid unser Gast. Kommt Ihr aus einem anderen Grund, so stellt Eure Forderung - oder geht in Frieden.« Siegfried spannt sich. Seine rechte Hand lag einen Moment auf dem prachtvoll verzierten Griff des Balmung, der aus seinem Gürtel ragte. Dann, rasch - aber doch nicht so rasch, daß die Bewegung einen von Gunthers Gefolgsleuten zu einer Unbedachtsamkeit hätte reizen können - zog er die Klinge aus der Scheide und hielt sie vor sich ins Licht.

Die Geste war genau berechnet: die Waffe war gewaltig, selbst in Siegfrieds riesigen Pranken wirkte sie noch groß, und ihre doppelte Schneide mußte scharf genug sein, ein Haar zu spalten. Der Griff war der Form seiner Hand angepaßt, als hätte er das rotglühende Eisen mit der Faust umfaßt, um ihn zu formen, und auf der schlanken Klinge erkannte Hagen feine Linien und Muster. Selbst von seinem ungünstigen Platz in Siegfrieds Rücken konnte er erkennen, wie gut ausgewogen die Waffe war. Vermutlich spürte ihr Besitzer ihr Gewicht kaum. Siegfried hob die Waffe mit beiden Händen hoch über den Kopf. Wieder hatte Hagen das Gefühl, eine genau einstudierte Szene zu verfolgen. Der silberne Stahl flammte unter den schräg einfallenden Strahlen der Morgensonne wie ein gefangener Lichtstrahl: eine in Metall gegossene Herausforderung, vor der Gunther unwillkürlich ein Stück zurückwich. »Ich bin gekommen, mich mit Euch zu messen, König Gunther«, sagte Siegfried. Er sprach nur wenig lauter als zuvor, aber in seiner Stimme war jetzt ein schneidender, durchdringender Ton, so scharf wie Balmungs Klinge.

»Ich glaube, ich... verstehe Euch nicht, Siegfried«, sagte Gunther zögernd. Sein Blick tastete über Siegfrieds breitschultrige Gestalt, die mächtige Klinge in seinen Händen, ehe er sich hilfesuchend Hagen zuwandte. »Dann will ich es Euch noch deutlicher sagen, Gunther«, antwortete Siegfried. »Mich erreichte die Kunde von Eurer Stärke und von der Pracht Burgunds. Ich bin ein Recke wie Ihr und fordere die Krone von Euch. Aber ich bin kein Dieb. Ich fordere Euch - oder einen Recken Eurer Wahl - zum ritterlichen Zweikampf. Streitet mit mir, oder bestimmt einen von Euren Rittern, an Eurer Statt mit mir zu streiten.« Bei diesen Worten wandte er den Kopf und sah Hagen mit seinen klaren, hellblauen Augen herausfordernd an. »Ich setze meine Krone gegen die Krone Burgunds, mein Reich gegen dieses.«

Hagen hielt seinem Blick mit eiserner Miene stand. Siegfrieds Worte überraschten ihn nicht; im Gegenteil. Er wäre erstaunt gewesen, wenn Siegfried aus einem anderen Grund als zu streiten gekommen wäre. Es dauerte eine Weile, bis die anderen sich von ihrer Überraschung erholten. Manch einer mochte im ersten Moment geglaubt haben, daß der Xantener sich einen rauhen Scherz erlaubte; aber ein Blick in die Gesichter von Siegfrieds Begleitern überzeugte auch den letzten davon, daß es dem blonden Riesen mit seiner Forderung ernst war. Jede Spur von Freundlichkeit war aus ihren Zügen verschwunden; sie blickten grimmig und entschlossen, und ihre Hände lagen jetzt offen auf den Waffen oder hatten sie gar bereits gezogen.

In die friedlichen Burgunder, in die neugierige, gaffende Menge kam plötzlich Bewegung. Hastig strebten sie auseinander, wichen zurück, hinweg aus dem Hof und von der Treppe, damit Siegfrieds Reiter sie nicht etwa in einem überraschenden Angriff über den Haufen ritten. Die Knechte zogen sich eilig zurück, und auf den Mauern wurden Rufe laut; Wachen eilten hin und her, Bogenschützen gingen in Stellung, und hinter den Zinnen blitzten Speerspitzen und Schwerter auf. Das Lachen und Raunen der Stimmen wich dem Klirren von Waffen. Ortwein rief einen scharfen Befehl; das Fallgatter sauste herunter und schlug dumpf auf den Boden auf. Die einzigen auf der Seite der Burgunder, die sich nicht von der Stelle rührten, waren Gunther und Hagen.

Siegfried sah alles mit unbewegtem Gesicht Er schien sich vollkommen sicher zu sein, daß die Krieger, die jetzt aus dem Haupthaus, aus Nebengebäuden und Stallungen drängten und plötzlich den Hof mit Waffen und Schilden füllten, keine ernsthafte Bedrohung für ihn und seine Männer bedeuteten. Gunther selbst war es, den er zum Zweikampf gefordert hatte, und seine Ritterehre würde es verbieten, die Herausforderung mit einem kriegerischen Angriff zu beantworten.

Gunther hielt dem Blick des Xanteners stand. »Ihr setzt mich in Erstaunen, Siegfried von Xanten«, sagte er gefaßt »Nach allem, was ich über den Herrn der Nibelungen gehört habe, hielt ich Euch nicht nur für einen tapferen, sondern auch für einen klugen Mann. Diese Burg und dieses Land sind das Erbe unserer Väter. Viele tapfere Männer haben für Burgund ihr Leben gelassen. Diese Erde ist mit Blut getränkt, mit dem Blut der Tapferkeit und Treue. - Und Ihr glaubt im Ernst, ich würde all dies aufs Spiel setzen, um einer... einer Laune willen?« »Es ist keine Laune, Gunther«, antwortete Siegfried gereizt »Ich fordere Euch, Gunther von Burgund. Euch oder einen der Euren.« Mit einer weit ausholenden Gebärde, die alle seine Begleiter umfaßte, sagte er: »Ihr habt die Wahl: Eure Recken gegen die meinen, oder einer allein gegen mich. Entscheidet Euch!«

Gunther setzte zu einer Entgegnung an, aber Hagen war schneller. Mit einem raschen Schritt trat er vor Siegfried, zog sein Schwert aus dem Gürtel und stieß nach der Brust des Xanteners. Der Angriff war nicht ernst gemeint, sondern nur eine herausfordernde Geste. Siegfried wich blitzschnell zur Seite, drehte gewandt den Oberkörper weg und schlug Hagens Klinge mit dem Balmung zur Seite. Ein betäubender Schmerz schoß durch Hagens Arm bis in die Schulter hinauf: Er spürte die Härte des sagenumwobenen Schwertes und die Kraft, die in dem nur angedeuteten Hieb steckte. Eine Kraft, die, voll eingesetzt, imstande war, mit einem Streich Schwert, Panzerhemd und Schild des Gegners zu zerbrechen.

Siegfried lächelte. »Nun, Hagen von Tronje?« fragte er, während er das Schwert spielerisch sinken ließ. »Wie ich sehe, seid Ihr bereit, für die Ehre Eures Königs zu kämpfen.« Hagen sah ihn mit unbewegtem Gesicht an.

»Nun denn«, sagte Siegfried, zu Gunther gewandt, aber ohne Hagen dabei aus den Augen zu lassen, »es gilt Eure Krone gegen die meine! Euer Land gegen das meine!«

Sein Schwert und das des Tronjers kamen gleichzeitig hoch; Hagens etwas schneller, das des Xanteners dafür mit um so mehr Kraft geführt. Aber sie kamen nicht dazu, die Klingen zu kreuzen. Eine schlanke, dunkelhaarige Gestalt sprang zwischen sie, das Schwert in der einen, den Schild in der anderen Hand. Die Bewegung des Jünglings kam sowohl derjenigen Siegfrieds als auch der Hagens zuvor: Sein Schwert traf den Balmung dicht über dem Heft und prellte dem Xantener die Waffe aus der Hand; gleichzeitig traf der gebogene Schild Hagens Waffenarm und ließ ihn zurücktaumeln. Die Wucht der beiden Hiebe war so gewaltig, daß der Jüngling mit einem Schmerzenslaut in die Knie sank. Siegfried sprang mit einem Wutschrei zurück, hob sein Schwert auf und schwang es hoch über den Kopf, führte den Hieb aber nicht, als er das königliche Wappen erkannte. Es war Gunthers Bruder Gernot, der vor ihm kniete.

»Haltet ein, Siegfried!« flehte Gernot »Es ist nicht recht, daß Könige im Streit ihr Blut vergießen. Das soll und darf nicht sein.« Er sprach schnell, trotzdem war seine Stimme klar und weithin zu vernehmen. »Es brächte wenig Ruhm, wenn sich tapfere Männer erschlagen, nur um einander Krone und Reich zu entreißen. Wir haben ein gutes und reiches Land, und es ist unser Land, erkauft mit dem Blut unserer Väter. Die Menschen in seinen Grenzen sind ihrem König treu ergeben, Siegfried. Sie brauchen keinen anderen Herrn, und sie wollen ihn auch nicht Hebt Eure Kräfte auf, um Unrecht und Not zu bekämpfen, denn die Welt ist voll davon.«

Siegfried zögerte; die Waffe in seiner Hand war noch immer zum Schlag erhoben. Wenn er den hilflos vor ihm knienden Gernot erschlug, wäre das nichts anderes als gemeiner Mord. Gernot hatte das einzig Mögliche getan, um das drohende Blutvergießen zwischen Gunthers und Siegfrieds Männern zu verhindern. Siegfried hatte sich jedes Wort, jede Geste genau überlegt, bevor er hierhergekommen war, jede mögliche Antwort auf jedes denkbare Wort Gunthers. Aber Gernots überraschendes Eingreifen hatte ihn aus der Fassung gebracht.

»Du verschwendest deinen Atem, Gernot«, mischte sich Ortwein von Metz ein. Herausfordernd trat er zwischen den Bruder des Königs und den Xantener. Seine Stimme zitterte vor Zorn. »Ihr habt unsere Tore offen gefunden zum freundlichen Empfang, Siegfried von Xanten. Aber Ihr habt die Hand, die Euch unser König entgegenstreckte, zurückgewiesen, und Ihr habt das Schwert gegen seinen Waffenmeister und seinen Bruder erhoben. Wenn Ihr kämpfen wollt, so kämpft; ob allein oder mit Euren Mannen - gleichviel.« In Ortweins Blick lag wilde Entschlossenheit. Er bot ein beeindruckendes Bild, wie er so vor dem Xantener stand: fast so groß und breitschultrig wie Siegfried selbst, von der gleichen Unbeugsamkeit und von dem gleichen Stolz erfüllt, aber besonnener. In Siegfrieds Augen blitzte es auf. Doch zu Hagens Verwunderung nahm er die Herausforderung nicht an, sondern senkte sein Schwert und sah Ortwein von Metz nur voll Verachtung in die Augen. »Ich habe Euren König - oder einen Recken seiner Wahl - gefordert«, sagte er kalt. »Nicht Euch. Wenn Ihr Euch messen wollt, so tut es mit einem meiner Männer. Ein jeder von ihnen ist als Gegner allemal gut genug für Euch.« Ortwein von Metz erbleichte unter dieser Beleidigung. Einen Herzschlag lang stand er wie erstarrt, dann hob er mit einem krächzenden Schrei sein Schwert und trat auf den Xantener zu. Siegfried hob mit einem spöttischen Lächeln den Balmung.

Aber wieder war es Gernot, der sich zwischen sie warf, ehe es zum Kampf zwischen den beiden ungleichen Gegnern kam. »Laß die Waffe, Ortwein«, sagte er beschwörend. »Ich bitte dich. Noch ist kein Blut geflossen, und es soll auch keines fließen. Siegfried von Xanten ist ein tapferer Ritter und ein Kämpfer, dessen Taten weithin berühmt sind. Er hat es nicht nötig, seinen Mut unter Beweis zu stellen. Männer wie er und wir sollten sich die Hand in Freundschaft reichen, nicht im Streit das Schwert gegeneinander führen.«

»Gernot hat recht«, mischte sich Hagen ein. »Burgund ist ein friedliches Reich. Wir tragen nicht Krieg und Leid in die Länder unserer Nachbarn. Warum tut Ihr es mit uns?«

»Worte!« entgegnete Siegfried. Seine Stimme verriet Unsicherheit. Er hatte den Augenblick, in dem er noch das Schwert hätte sprechen lassen können, versäumt. Er war mit der Waffe in der Hand hierhergekommen, aber Gernot - und zu seiner Verwunderung auch Hagen, der gefürchtete, finstere Hagen von Tronje - hatten ihn mit Waffen angegriffen, die er nicht so gut beherrschte: mit Worten. »Worte!« sagte er noch einmal verächtlich. »Ist das Eure Stärke, Hagen von Tronje? Die Waffe, mit der Ihr Eure Gegner besiegt? Nehmt Euer Schwert in die Hand, und wir wollen sehen, wer der wahrhaft Stärkere ist! Oder seid Ihr plötzlich zu feige dazu?«

»Ist es feige, den Kampf gegen einen Mann zu scheuen, der nicht durch Schwert oder Speer zu verwunden ist?« fragte Hagen ruhig. »Oder mutig, einen Gegner herauszufordern, wenn man durch Zauberei vor dessen Waffen gefeit ist?«

Siegfried zuckte zusammen. Hagen hatte mit diesen Worten seine verwundbarste Stelle getroffen. Es war wie ein Angriff aus dem Hinterhalt Hagen konnte sicher sein, daß Siegfried die Mär von seiner Unverwundbarkeit nicht fremd und wohl auch nicht unlieb war; daß man sie auch gegen ihn verwenden konnte, erfuhr er zum ersten Mal. »Seid uns in Frieden willkommen, Siegfried von Xanten«, sagte nun Giselher. »Ihr und Eure Männer. Hört auf meinen Bruder - laßt das Schwert und nehmt als Gast, was des Gastes ist.« Siegfried sah ihn scharf an. »Du mußt Giselher sein«, sagte er nach einer Weile. »Ich habe von dir gehört - ein Knabe, der wie ein Mann zu kämpfen versteht und auch wie ein solcher zu sprechen weiß.« Er zögerte. »Ist es Sitte in Worms, eine Einladung zum Kampf mit einer Einladung zum Gastmahl zu beantworten?« Er lächelte und schob sein Schwert, wenn auch mit einer etwas zu heftigen Bewegung, in die Scheide zurück Hagen spürte, wie die Spannung, die über dem Hof gelegen hatte, in einem erleichterten Aufatmen entwich. Aber Hagen war auch - vielleicht mit Ausnahme Ortweins - der einzige, der die allgemeine Erleichterung nicht vollkommen zu teilen vermochte. Siegfrieds Nachgeben war für Hagens Gefühl zu schnell gekommen. Die plötzliche Friedfertigkeit des Xanteners war nicht echt; war nur ein weiterer Zug in dessen Spiel. Aber König Gunther gab Hagen keine Gelegenheit, seine Bedenken zu äußern. »Knechte!« rief er mit erhobener Stimme. »Diener! Herbei! Nehmt den Herren die Tiere ab und versorgt sie. Und dann geleitet sie zu ihren Gemächern und sorgt für Speise und Trank!« Er wandte sich wieder an Siegfried und fuhr, ein wenig leiser, fort: »Erweist Ihr uns die Ehre, einen Becher Wein mit uns zu trinken, Siegfried von Xanten?« Er lächelte. »Ihr werdet sehen, daß die Güte von Sinolds Wein der Schärfe Eurer Klinge nicht nachsteht«

»Ich hoffe nur, er ist nicht ebenso tödlich«, erwiderte Siegfried trocken. Einen Moment lang blickte ihn Gunther verständnislos an, dann brach er in schallendes Gelächter aus, in das nach kurzem Zögern alle anderen - mit Ausnahme von Hagen und Ortwein, der den Xantener finster anstarrte - einfielen. Aber ihr Lachen hatte einen falschen Klang. Sie lachten nur, weil der König lachte.

Auf einen Wink von Siegfried schwangen sich seine Begleiter wie ein Mann aus den Sätteln und nahmen im Halbkreis um den Xantener Aufstellung. Hagen beobachtete sie. Erst jetzt fiel ihm auf, wie sehr sie einander glichen, sowohl in Größe und Statur als auch in ihren Gesichtszügen. Sie waren allesamt sehr hellhäutig und hellhaarig. Siegfried sagte etwas zu ihnen. Er sprach laut und betonte jedes Wort; aber er redete in einer Sprache, die weder Hagen noch einer der anderen verstand. Nun, dachte Hagen wütend, nach allem, was bisher geschehen war, kam es auf diese Unhöflichkeit wohl nicht mehr an. Sie gingen ins Haus, Siegfried, Gunther und seine Getreuen. Nicht jedoch Siegfrieds Begleiter. Sie blieben wie auf Verabredung im Hof zurück. Hagen sah es mit Verwunderung und Mißtrauen. Er selbst folgte dem König und seinem Gast als letzter. Als sie die Halle betraten, hielt er Ortwein, der vor ihm ging, am Arm zurück »Warte«, bat er, so leise, daß keiner der anderen es hörte. Ortwein runzelte ungeduldig die Stirn, gehorchte aber. Hagen wartete, bis sie beide allein waren. Ortwein wirkte äußerlich gefaßt und ruhig. Aber Hagen kannte seinen Neffen zu gut, um nicht zu wissen, daß er die Demütigung, die Siegfried dem König und ihm selbst zugefügt, nicht vergessen hatte. Ortwein von Metz vergab nicht so schnell.

»Was willst du?« fragte er ungeduldig.

»Auf ein Wort, Ortwein«, sagte Hagen. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«

Ortwein machte seinen Arm los. »Ich muß zu Gunther«, sagte er. »Ich traue diesem Xantener nicht. Mir ist wohler, wenn ich in seiner Nähe bin.«

Und mir, wenn du es nicht bist, dachte Hagen. Ortwein war unbeherrscht genug, sich im Eifer zu etwas hinreißen zu lassen, was er später bereuen würde. Aber er sprach es nicht aus.

»Gerade darum geht es ja«, sagte Hagen mit einer Kopfbewegung zum Hof hin. »Behalte seine Männer im Auge. Ich traue ihnen nicht Ich würde es selbst tun, aber mein Fehlen bei Tisch würde auffallen.« »Du glaubst doch nicht etwa, der ruhmbedeckte Held würde den Frieden brechen?« Der beißende Spott in Ortweins Stimme war unüberhörbar, aber Hagen ging nicht darauf ein. Er traute Siegfried ebensowenig wie Ortwein. Aber jetzt war nicht der Moment, darüber zu reden. Und Ortwein nicht der richtige Mann. Hagen wünschte sich, Dankwart wäre hier. Aber sein Bruder weilte in Tronje, zwölf Schiffstage entfernt und unerreichbar.

»Nein. Aber ich spüre, daß er etwas vorhat Und ich werde es herausfinden.«

Ortwein zögerte noch einen Moment, dann nickte er. »Gut. Ich werde seine Männer im Auge behalten.«

Hagen bedankte sich, und Ortwein ging. Hagen blieb noch eine Weile sinnend stehen. Das Unbehagen, das er empfand, breitete sich wie ein übler Geschmack in seinem Mund aus.

Er ließ sich selten von Gefühlen leiten, drängte sie im Gegenteil meist zurück, damit sie nicht sein nüchternes Denken vernebelten. Aber diesmal gelang es ihm nicht, die warnende Stimme in seinem Inneren zum Schweigen zu bringen. Es war mehr als nur ein Gefühl. Es war Gewißheit. Die plötzliche, durch nichts begründete, doch unerschütterliche Gewißheit, daß dieser Mann ihm und vielleicht dem ganzen Burgundergeschlecht den Untergang bringen würde.

Mit einer unwilligen Bewegung verscheuchte Hagen den Gedanken aus seinem Kopf. Plötzlich hatte er es eilig, zu Gunther zu kommen. Es war nicht gut, den König mit Siegfried allein zu lassen. Hagen hatte kaum ein paar Schritte zurückgelegt, da hörte er leises, unterdrücktes Lachen. Er blieb stehen und sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. Gleich darauf hörte er es wieder; ein leises, meckerndes Lachen, das wie das Wispern des Windes von den rohen Steinwänden widerhallte und aus keiner bestimmten Richtung zu kommen schien. Als er sich noch einmal genauer umsah, gewahrte er in einer Ecke eine schattenhafte Gestalt Unwillkürlich legte er die Hand auf den Schwertgriff. »Du bist ein mißtrauischer Mann, Hagen von Tronje«, sagte die Stimme. Sie klang wie das Lachen zuvor: leise, unwirklich und so, als käme sie aus allen Richtungen zugleich. Als sich der Schatten bewegte, erkannte Hagen eine kaum kindgroße, in einen schmutzigbraunen Umhang gehüllte Gestalt, die jetzt mit trippelnden Schritten auf ihn zukam. Der Fremde war im schwachen licht der Halle nur undeutlich zu erkennen, als wäre er wirklich nicht mehr als ein Schatten, aber Hagen sah trotzdem, daß er sehr dürr war und ihm kaum bis zur Brust reichte. Der Fremde lachte wieder, blieb einen Moment stehen, wie um Hagen Gelegenheit zu geben, ihn mit Muße zu betrachten, und kam dann noch näher, hielt aber weiterhin fünf, sechs Schritte Abstand zu ihm. Im ersten Moment glaubte Hagen, einen Krüppel vor sich zu haben, eines jener bedauernswerten Geschöpfe, die von einer grausamen Natur mit zu kurzen Beinen und Armen und manchmal - als wäre dies nicht genug - mit einem übergroßen Schädel geschlagen waren. Aber dann erkannte er, daß das nicht zutraf: der Mann war vollkommen normal gewachsen, nur eben klein. Und es war auch kein Kind. Es war ein Zwerg. »Mach den Mund wieder zu und nimm die Hand vom Schwert«, sagte der Zwerg. »Du siehst recht, Hagen von Tronje.«

»Du... du bist ein Alb!« stieß Hagen überrascht hervor. Der kleine Mann zog eine Grimasse, stemmte die Fäuste herausfordernd in die Hüften und baute sich wütend vor Hagen auf. »Ich bin nicht ein Alb«, erklärte er mit seiner unangenehmen, krächzenden Stimme. »Ich bin Alberich, der Herrscher aller Alben.«

Hagen wußte nicht, was er sagen sollte. Alben ... Er hatte nicht geglaubt, daß es sie gab; nicht wirklich. Natürlich gehörten sie zu seiner Welt, genauso wie Drachen und Hexen, wie die Asen und die anderen, älteren und finstereren Götter, deren Namen man nicht einmal denken durfte, Wesen aus einer anderen Welt, die in vielen Dingen noch immer die seine war. Verwirrt starrte er den Zwerg an. Alberich schien auf Antwort zu warten. Als diese nicht kam, löste er sich vollends aus dem Schatten, in dem er gestanden und gelauscht und geschaut hatte, und kam mit kleinen, drolligen Schritten näher. Seine Stiefel verursachten unangenehme, klackende Geräusche auf dem Boden, und für einen Moment schien es Hagen, als eilten ihm die Schatten nach wie eine endlose Schleppe aus Dunkelheit, die er hinter sich herzog. Sein Umhang raschelte wie trockenes Laub.

»Und du bist also Hagen«, sagte der Zwerg. Er kicherte. Ein spöttisches Funkeln stand in Alberichs Augen. »Der große, tapfere, starke, heldenmütige, finstere, berühmte Hagen von Tronje.«

Als Hagen wieder nicht antwortete, fuhr Alberich hämisch fort, und seine Stimme war jetzt noch boshafter und unangenehmer. »Ich muß gestehen, daß ich mir dich größer vorgestellt habe«, sagte er lauernd. Aus dem Munde eines Zwerges war dies eine doppelte Unverschämtheit. Hagens Erstaunen schlug plötzlich in Zorn um. »Wie kommst du hierher?« fuhr er den Zwerg an. »Wer hat dich hereingelassen, und was tust du hier?«

Alberich kicherte. »Hereingelassen?« Plötzlich änderte sich seine Stimme. »Hereingelassen?« wiederholte er gedehnt und so, als wäre das Wort eine Beleidigung. »Ich bin Alberich, der König der Alben. Niemand braucht mich herein- oder hinauszulassen. Ich komme und gehe wie die Nacht.« Er kicherte wieder, und als er den Kopf schräg legte, konnte Hagen sein Gesicht deutlicher sehen. Es war ein sehr altes Gesicht, schmal und dürr mit hohen, ergrauten Schläfen, einer schmalen Hakennase und blutleeren Lippen, wie dünne Schnitte, die sein Gesicht in zwei ungleiche Hälften teilten. Es war ein häßliches und abstoßendes Gesicht, und es wurde beherrscht von einem Paar dunkler, tiefliegender Augen, vor deren Blicken Jahrhunderte wie Stunden vorübergezogen waren. »Ich will dir sagen, was ich hier tue«, fuhr Alberich nach einer Pause mit ruhiger Stimme fort. »Ich bin mit meinem Herrn gekommen. Folgst du deinem König nicht, Hagen von Tronje?« »Dein Herr...?« Hagen zögerte. »Siegfried von Xanten?« »Siegfried«, nickte Alberich. »Der Drachentöter, der Erbe des Nibelungenhortes und« - er seufzte - »der Bezwinger Alberichs.« »Dann sind die alten Geschichten also wahr?« entfuhr es Hagen überrascht »Daß er im Blut des Drachen gebadet und dich geschlagen und dir deine Tarnkappe genommen hat?« Alberich wiegte den Schädel. »Er hat mich geschlagen«, sagte er. »Das stimmt Wir haben gekämpft, und ich habe verloren.« »Und jetzt hält er dich, um für ihn zu spionieren.« Alberichs Gesicht verdüsterte sich. »Ich diene ihm, Tronjer«, zischte der Zwerg. »Aber ich tue es freiwillig. Niemand zwingt Alberich, irgend etwas zu tun, was er nicht will. Siegfried von Xanten schenkte mir mein Leben, obwohl er mich besiegt hatte. Dafür schulde ich ihm Dank.«

»Dank«, sagte Hagen kopfschüttelnd. »Was nutzt ein geschenktes Leben, wenn man es in den Dienst dessen stellen muß, dem man es verdankt?« »Oh, so schlimm ist es nicht.« Alberich streckte eine dürre Hand unter seinem Umhang hervor und deutete mit dem Zeigefinger wie mit einem Dolch auf Hagen. »Auch du dienst einem anderen.« »Ich diene einem ehrlichen Mann und einem Freund, keinem ...« »Schweig!« unterbrach ihn Alberich wütend. »Siegfried ist mein Herr. Niemand beleidigt ihn ungestraft in meiner Gegenwart.« »Immerhin bist du König - oder warst es -, ehe du in Siegfrieds... Dienste getreten bist.«

»König, ja«, Alberich machte eine wegwerfende Handbewegung, »ich war und bin der König der Zwerge, und mein Reich ist ein Reich der Zwerge, klein an Körper und klein an Geist Eine Höhle, ein feuchtes Loch im Boden, gerade gut genug für Ratten und Würmer. Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ein Königreich der Kälte und Finsternis. Nein, nein, es ist nicht der schlechteste Tausch, den ich gemacht habe.« »Glaubst du das wirklich?« fragte Hagen. »Oder redest du es dir nur ein, weil du den Gedanken nicht ertragen kannst, Siegfrieds Sklave zu sein?« Zu seiner Überraschung reagierte Alberich nicht mit einem neuerlichen Zornesausbruch. »Man hat mir nichts Falsches über dich erzählt«, sagte er. »Deine Zunge ist beinah ebenso scharf wie dein Schwert. Aber du täuschst dich, Hagen. Das Leben in Siegfrieds Nähe bietet auch gewisse Vorteile. Selbst für einen Zwerg wie mich.«

»Solange es währt«, entgegnete Hagen trocken. »Man wird leicht mit verbrannt, wenn man zu nahe beim Feuer steht«

Alberich grinste. »Ich gelobte ihm Treue bis ans Lebensende«, sagte er. »Doch ein Menschenleben währt nicht lange. Vielleicht kehre ich schon bald in mein Königreich zurück.« Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht auch nicht. Ich glaube, ich habe viel versäumt, in all den Jahrhunderten, die ich in Schwarzalfenheim war.«

Beinah gegen seinen Willen mußte Hagen lächeln.

»Vielleicht bleibe ich auch«, fuhr Alberich fort, »bis das Ende der Zeiten gekommen und Ragnarök hereingebrochen ist.«

»Das Ende der Zeiten«, sagte Hagen. »Ihr Alben seid langlebig, doch auch eure Zeit ist begrenzt.«

»So ist es«, sagte Alberich.

»Es wird Zeit«, sagte Hagen abrupt. »Mein König wartet auf mich.«

Alberich nickte. »Ja, geh nur. Man soll seinen König nicht warten lassen.«

Загрузка...