13

Am Morgen des dritten Tages trafen sie mit Ortwein zusammen. Als dieser aufgebrochen war, um die beiden Boten bis an die Grenzen des Reiches zu geleiten, hatte er ein Dutzend Reiter bei sich gehabt, jetzt überstieg die Zahl der Männer, die mit ihm ritten, die Hundert. Ortwein war, nachdem er seinen Auftrag ausgeführt hatte, nicht sofort zurückgeritten, um sich mit dem Heer zu vereinen, sondern hatte seine Reiter ausschwärmen lassen, um Männer und Schwerter für den Feldzug gegen Lüdegast anzuwerben. Und er hatte Erfolg gehabt. Viele hatten sich ihm angeschlossen, verzaubert vom Klang des Namens Siegfried oder weil sie ahnten, daß Lüdegasts Scharen jedenfalls kommen würden und sie dem Krieg so oder so nicht ausweichen konnten. Weitere drei Tage lang ritten sie nach Norden, über die Grenzen Burgunds hinaus und tief in das Land der Hessen hinein, und ihre Zahl stieg erst auf zwölf-, dann auf dreizehnhundert. Aber sie kamen auch immer langsamer voran. Der Winter hatte sich wohl entschlossen, noch einmal zurückzukehren. Es wurde ständig kälter, und am Mittag des vierten Tages begann es zu schneien und hörte nicht mehr auf, bis sie auf das dänische Heer stießen. Am siebenten Tage ihres Rittes, der als stolzer Heereszug begonnen hatte und mittlerweile zu einem mühevollen Dahinschleppen geworden war, mehrten sich die Zeichen, daß in dem Land, in dem sie sich befanden, der Krieg herrschte. Viele der Gehöfte und einsam daliegenden Häuser, an denen sie vorbeikamen, waren leer, verlassen von ihren Bewohnern, die Hab und Gut zurückgelassen hatten, um das nackte Leben zu retten. Und am Morgen des achten Tages trafen sie auf die ersten Dänen. Hagen, sein Bruder Dankwart, Siegfried selbst und ein halbes Dutzend seiner Nibelungenreiter hatten sich vom Haupttrupp gelöst und waren ein Stück vorausgeritten, um die Umgebung zu erkunden und nach feindlichen Spähern Ausschau zu halten. Ein Heer von solcher Größe wie das ihre konnte sich nicht lautlos durch den Wald schleichen, aber Siegfrieds ganzer Plan beruhte darauf, daß es gelang, Lüdegast zu überraschen. Ein einziger feindlicher Späher, der die Kunde von ihrem Kommen ins Lager der Dänen trug, konnte das Scheitern des Planes und ihren Untergang bedeuten. Sie hatten einen schmalen Streifen Wald durchquert und waren am Rande einer langgestreckten, sichelförmigen Lichtung angelangt, als Siegfried plötzlich die Hand hob und sein Pferd zum Stehen brachte. Schweigend deutete er voraus.

Angestrengt blickte Hagen in die Richtung. Am gegenüberliegenden Rand der Lichtung lag eine strohgedeckte Hütte, aus der sich Rauch kräuselte. Hagen lauschte und glaubte außer den Atemzügen der Tiere und den Lauten des Waldes auch Stimmen zu vernehmen. »Da sind Pferde«, flüsterte Siegfried. »Dänen?«

Hagen zuckte die Achseln. Er sah die Pferde auch; acht oder zehn, die hinter dem Haus angebunden waren, aber durch die dichtfallenden weißen Schwaden waren sie nichts als verschwommene Umrisse, deren Sattelzeug nicht zu erkennen war. »Vielleicht«, murmelte er. »Wahrscheinlich sogar. Besser, wir nehmen es an. Wenigstens bis wir uns vom Gegenteil überzeugt haben.«

Einer der Krieger in Siegfrieds Begleitung wollte losreiten, aber der Xantener rief ihn mit einem gedämpften Befehl in einer Hagen unverständlichen Sprache zurück. »Wartet«, sagte er nachdenklich. »Wenn es Dänen sind und nur ein einziger von ihnen entkommt, dann ist alles verloren. Wir müssen vorsichtig sein.« Er drehte sich halb im Sattel um und wandte sich an Dankwart. »Dankwart - Ihr nehmt die Hälfte der Männer und umgeht die Lichtung. Hagen und ich werden warten, bis Ihr in ihrem Rücken seid. Wenn es Dänen sind, dann wißt Ihr, was zu tun ist.« Er sprach nicht aus, was er meinte, aber sie wußten es alle. Dankwart nickte. Keinem von ihnen gefiel der Gedanke, aber sie hatten weder genug Männer noch Zeit, sich mit Gefangenen abzugeben. Jedes Schwert, das zur Bewachung eines Gefangenen diente, würde ihnen in der Schlacht bitter fehlen.

»Gebt uns ein Zeichen, wenn Ihr bereit seid«, sagte Siegfried. Dankwart nickte erneut, zwang sein Pferd auf der Stelle herum und wandte sich nach rechts. Vier von Siegfrieds Reitern folgten ihm; die beiden anderen blieben bei Hagen und ihrem Herrn zurück. Die Zeit schien dahinzukriechen, während sie auf Dankwarts Zeichen warteten. Hagen blickte aufmerksam zu der kleinen Hütte am anderen Ende der verschneiten Lichtung hinüber. Er war ziemlich sicher, daß es Dänen waren - aber wenn, was taten sie dann hier, so weit von ihrem Heer entfernt? Natürlich würde der Dänenkönig Späher aussenden, genau wie sie - aber so viele und so weit voraus? Siegfried schien die gleichen Überlegungen anzustellen. »Es scheint, als wären wir Lüdegast näher, als wir angenommen haben«, murmelte er. Hagen schwieg. Sie harten keine Zeit gehabt, den genauen Standort von Lüdegasts Heer auszukundschaften, sondern mußten sich auf das verlassen, was ihnen ihre Sinne und ihr Verstand sagten. Nicht mehr als Mutmaßungen, überlegte Hagen. Es war durchaus möglich, daß sie sich um ein bis zwei Tage verschätzten. Und es konnte auch sein, daß sich das Heer der Dänen ihnen entgegenbewegte.

»Wir müssen einen von ihnen gefangennehmen«, spann Siegfried seinen Gedanken fort, mehr für sich selbst als zu Hagen gewandt. »Es wäre dumm, unversehens Lüdegasts ganzem Heer gegenüberzustehen.« Vom anderen Ende der Lichtung ertönte ein Vogelruf, und Siegfried richtete sich augenblicklich im Sattel auf. Dankwarts Zeichen. Sie sprengten los.

Ihre Pferde brachen mit einem einzigen, gewaltigen Satz aus dem Unterholz und jagten mit weit ausgreifenden Hufen auf die Hütte zu; gleichzeitig teilte sich das verschneite Grün auf der anderen Seite, und Dankwart und zwei seiner Begleiter galoppierten auf die Lichtung heraus. Alles ging unglaublich schnell und beinahe lautlos vor sich - und trotzdem nicht schnell genug.

Die Tür der Hütte flog auf, als sie die halbe Strecke zurückgelegt hatten. Eine Gestalt trat ins Freie, erstarrte für die Dauer eines Atemzuges und stieß einen erschrockenen Ruf aus. Alles schien gleichzeitig zu geschehen: Hagen zog sein Schwert und beugte sich im Sattel vor, gleichzeitig sah er aus den Augenwinkeln, wie Siegfried seinen Schild hochriß und den Speer aus dem Steigbügel löste. Die Gestalt unter der Tür trat einen Schritt zur Seite und zog ein Schwert unter dem Mantel hervor, und Siegfried schleuderte seinen Speer.

Hagen hatte noch nie einen Wurf von solcher Kraft gesehen. Der Speer schien sich, von Siegfrieds Hand geschleudert, in einen flitzenden Schatten zu verwandeln und wie ein schwarzer Blitz auf den Dänen zuzufahren. Der Mann versuchte eine Armbewegung zu machen und gleichzeitig zur Seite zu springen, aber beides kam zu spät. Siegfrieds Speer traf seine Brust, zerschmetterte seinen ledernen Harnisch und nagelte ihn regelrecht an die Wand. Für einen Moment war noch Leben in ihm; er schrie, ließ sein Schwert fallen und zerrte mit beiden Händen an dem Speer, der aus seiner Brust ragte. Dann erschlaffte er. Sein Kopf fiel zur Seite, aber sein Körper stand, in grotesker, halb aufrechter Haltung, noch immer gegen das Haus gelehnt, nur von der Waffe gehalten, die ihm das Leben genommen hatte. Der Schnee zu seinen Füßen begann sich rot zu färben. In seinem weiten, buntbestickten Mantel sah er aus wie ein seltsamer Schmetterling.

Hinter ihm drängten weitere Männer aus dem Haus, allesamt großgewachsene, kräftige Gestalten in schweren Mänteln und mit wuchtigen, hörner- oder schwingengekrönten Helmen auf den Köpfen. Bewaffnet waren sie mit Schwertern und Beilen; einige trugen Rundschilde mit verschiedenen Motiven, und einer schwang einen gewaltigen dreikugeligen Morgenstern.

»Dänen!« schrie Siegfried. »Macht sie nieder!«

Es war kein Kampf, sondern ein Schlachten. Die Dänen waren ihnen an Zahl ebenbürtig, aber sie fanden nicht einmal die Zeit, sich zum Kampf zu formieren. Die beiden Reitertrupps - Siegfrieds auf der einen und Dankwarts auf der anderen Seite - erreichten sie im gleichen Moment und fuhren wie ein Sturmwind durch ihre gerade erst im Entstehen begriffene Schlachtordnung. Die Hälfte von ihnen fiel bereits unter dem ersten Ansturm der Nibelungenreiter, und die Überlebenden suchten ihr Heil in der Flucht.

Keiner der Fliehenden erreichte auch nur den Waldrand, und kaum einem gelang es, sich überhaupt zum Kampf zu stellen. Zwei von ihnen versuchten wohl, Rücken an Rücken die heranrasenden Reiter mit dem Mut der Verzweiflung abzuwehren, aber es war ein hilfloses Beginnen. Einer fiel, getroffen von einem Ger, den einer der Nibelungenreiter schleuderte, der andere sprang mit einem verzweifelten Satz zur Seite, um einem zweiten Wurfgeschoß auszuweichen, stolperte direkt vor Hagens Pferd und riß instinktiv seine Waffe hoch.

Hagen wehrte seinen Schwerthieb ab, stieß den Mann mit dem Schild zu Boden und zwang sein Pferd herum, kam aber nicht dazu, ein zweites Mal zuzuschlagen. Einer von Siegfrieds Reitern jagte heran und stieß dem Dänen seinen Speer in die Seite. Der Mann fiel, walzte sich im Schnee und begann zu schreien; hoch, spitz und in einer Tonlage, die kaum mehr etwas Menschliches hatte. Der Nibelunge wollte sein Pferd herumreißen und davongaloppieren, aber Hagen hielt ihn mit einem wütenden Griff zurück. »Töte ihn!« sagte er hart. »Gib ihm den Gnadenstoß!« Für die Dauer eines Herzschlages hielt der Nibelunge seinem Blick stand. Dann riß er sein Pferd mit einem Satz herum, hob ein zweites Mal den Speer und erlöste den Leidenden.

Als sich Hagen umwandte, war der Kampf vorüber. Die Dänen lagen zu Tode getroffen im Schnee. Nur ein einziger von ihnen lebte noch. Er hatte sein Schwert weggeworfen und rannte verzweifelt dorthin, wo die Pferde angebunden waren. Dankwart war auf seinem Pferd dicht hinter ihm, sein Schwert bereits zum tödlichen Schlag erhoben. »Halt an, Dankwart!« rief Siegfried. »Ich brauche ihn lebend!« Einen Moment lang sah es so aus, als hätte Dankwart Siegfrieds Worte nicht gehört Er trieb sein Pferd im Gegenteil zu noch schnellerer Gangart an, beugte sich weit aus dem Sattel und schlug mit aller Gewalt zu. Aber im letzten Moment drehte er das Schwert in der Hand, so daß die Klinge den Flüchtenden nur mit der Breitseite traf. Der Hieb war gewaltig genug, den Mann mitten im Lauf herumzureißen und zu Boden zu schleudern, aber sein Helm nahm ihm den größten Teil seiner Wucht, so daß der Schlag nicht mehr tödlich war.

Dankwart sprengte noch ein Stück weiter, ehe es ihm gelang, sein Pferd herumzureißen und zu dem regungslos auf dem Boden Liegenden zurückzureiten.

Siegfried, Hagen und zwei seiner Reiter erreichten den gestürzten Dänen nahezu gleichzeitig. Siegfried schwang sich mit einer kraftvollen Bewegung aus dem Sattel und kniete neben dem Dänen nieder. Der gezückte Balmung blitzte in seiner Faust. Auf der Klinge schimmerte Blut. Mit einem Ruck drehte er den Bewußtlosen herum und schlug ihm ein paarmal mit der flachen Hand ins Gesicht, aber der Mann rührte sich nicht Siegfried zuckte mit den Schultern, stand auf und winkte einen seiner Männer herbei. »Er lebt noch«, sagte er. »Sieh zu, daß du ihn wach bekommst.«

Auch Hagen stieg aus dem Sattel. Seine Bewegungen waren eine Spur schwerfälliger als sonst; er fühlte sich benommen, überrumpelt von der Plötzlichkeit des Geschehens und vor allem davon, wie es geschehen war. Der Schnee im weiten Umkreis war zertrampelt und rot und braun von Blut, die Luft roch nach Blut und Kot, der Gestank des Schlachtfeldes, der sich in die klare, kalte Schneeluft geschlichen hatte. Das ganze furchtbare Geschehen hatte nicht länger als ein paar Minuten gedauert. Siegfrieds Männer waren wie eine Naturgewalt über die überraschten Dänen hereingebrochen und hatten sie hinweggefegt, ohne daß es einen wirklichen Kampf gegeben hatte. Er schauderte.

Siegfried nahm eine Handvoll Schnee auf, wischte die Klinge des Balmung damit sauber und schob das Schwert in die Scheide zurück. »Dänen«, murmelte er kopfschüttelnd, »so weit im Süden schon. Ich fürchte, sie beabsichtigen noch eher anzugreifen, als wir dachten.« »Ein Grund mehr, zum Heer zurückzukehren.« Hagen wies mit einer Kopfbewegung auf den Gefangenen. Einer von Siegfrieds Männern hatte ihn gepackt und auf die Füße gestellt, während ein anderer damit beschäftigt war, ihm Schnee ins Gesicht zu reiben. »Nehmen wir ihn mit« »Warum die Umstände?« erwiderte Siegfried. »Was wir von ihm wissen wollen, erfahren wir auch hier. Und schneller. Wir verlieren nur Zeit, wenn wir uns mit ihm abschleppen.«

Hagen spürte eine Woge heißen Zornes in sich aufwallen. »Ich werde nicht zulassen, daß Ihr ihn foltert, Siegfried«, sagte er scharf. »Dieser Mann ist unser Feind, aber er ist ein Krieger und hat ein Anrecht darauf, wie ein solcher behandelt zu werden.«

Siegfried wollte antworten, doch in diesem Moment trat einer der Männer, die abgesessen waren, um das Haus zu durchsuchen, hinzu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Siegfried zögerte. Der verächtliche Ausdruck in seinen Augen machte einem zornigen Funkeln Platz. »Wartet einen Moment, Hagen«, sagte er. Dann wandte er sich um und folgte dem Mann ins Haus.

Er blieb nur wenige Augenblicke. Als er wieder ins Freie trat, war er bleich und sein Gesicht wutverzerrt. »Warum kommt Ihr nicht ins Haus und seht Euch an, was diese ehrenvollen Männer getan haben, Hagen!« preßte er zwischen den Zähnen hervor. »Und dann sagt mir noch einmal, daß ich den Gefangenen mit Ehrerbietung behandeln soll.« Hagen machte einen Schritt auf das Haus zu und blieb wieder stehen. Er wollte nicht sehen, was dort drinnen geschehen war, obgleich er es wußte. Die Bilder waren immer die gleichen.

»Ein Mann und eine Frau«, sagte Siegfried. »Dazu ein Kind, wahrscheinlich ihre Tochter. Oder das, was sie von dem Mädchen übriggelassen haben.«

Hagen warf nur einen kurzen Blick ins Innere des Hauses. Seine vom Schnee geblendeten Augen sahen nicht mehr als Schatten und formlose schwarze Umrisse, aber vielleicht war es gerade das, was er nicht sah, was es so schlimm machte. Mit einem Ruck wandte er sich um und ging zu seinem Pferd zurück. Er vermied es, dem Dänen ins Gesicht zu sehen, als Siegfrieds Männer ihn ins Haus führten und die Tür hinter sich schlössen.

Dankwart sah seinen Bruder stirnrunzelnd an, während er aus dem Sattel stieg und sein Pferd zwang, wieder auf den gegenüberliegenden Waldrand zuzutraben. »Was ist mit dir?« fragte er »Sag jetzt nicht, daß dir diese dänischen Mörder leid tun.«

»Leid?« Hagen machte einen tiefen Atemzug. Jetzt, da alles vorbei war, spürte er wieder die Kälte der Luft. Leid? Tat ihm der Däne leid? »Nein«, sagte er. »Aber er ist ein Mensch.« »Das waren die da drinnen auch«, erwiderte Dankwart. Hagen schwieg. Dankwart hatte recht. Und trotzdem mußte er sich zwingen, nicht ins Haus zurückzugehen und Siegfrieds Tun Einhalt zu gebieten.

Es verging viel Zeit, ehe Siegfried zurückkam. Sie hatten die Lichtung überquert und am Waldrand haltgemacht Hagen sah von Zeit zu Zeit zur Hütte hinüber. Es begann stärker zu schneien, aber es wurde auch ein wenig wärmer, und die Bäume boten Schutz vor dem Wind. Wie oft nach einem starken Schneefall legte sich eine eigentümliche Stille über den Wald und die Lichtung. Ein paarmal glaubte Hagen dumpfe Laute und Schreie zu hören, die aus dem Haus drangen, aber er war sich nicht sicher, und nach einer Ewigkeit war Ruhe, dann trat Siegfried aus dem Haus und ging zu seinem Pferd, ritt jedoch noch nicht los, sondern sah zu, wie seine Männer die Erschlagenen ins Haus trugen. Anschließend zündeten sie die Hütte an. Die Pferde nahmen sie mit.

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