23

Die Zeit zog sich quälend langsam dahin. Hagen gesundete, aber es war ein langwieriger, mühevoller und schmerzvoller Prozeß, bei dem er die Unzulänglichkeit seines Körpers bald zu hassen begann. Er mußte wieder gehen lernen wie ein Kind. Die Augenblicke, in denen er sich wünschte, in der Schlacht gefallen zu sein und einen ehrenvollen Tod gefunden zu haben, statt auf diese - wie er es nannte - schmachvolle Art dahinzuvegetieren, häuften sich. Mehr als einmal sprach er zu Radolt darüber, aber der Heilkundige antwortete stets nur mit einem berufsmäßigen Lächeln oder tat so, als hätte er seine Klagen nicht gehört. Aber er erholte sich, wenn auch hundertmal langsamer, als er sich gewünscht, und zehnmal langsamer, als er es gewohnt war. Allmählich erlangte er etwas von dem verlorenen Gewicht zurück, und im gleichen Maße, in dem sich sein Körper erholte, gesellte sich die Langeweile an sein Lager. Bald kannte er jede Fuge im Zimmer, jede Maserung des Fußbodens, jede Linie in den Balken der Decke, und der immer gleiche Blick aus dem Fenster auf den Hof hinunter begann ihm unerträglich zu werden. Erst eine Woche vor dem Pfingstsonntag verließ er zum ersten Mal wieder die Kemenate. Als er auf den Hof hinaustrat, vorsichtig und mit kleinen schlurfenden Schritten, den rechten Arm um die Schulter seines Bruders gelegt und die linke Hand auf den Arm Ortweins gestützt, hatte er das Gefühl, zum ersten Mal seit Wochen wieder frei atmen zu können. Kriemhilds Kemenate war einer der größten und sicher der behaglichste Raum in der Burg, dennoch erschien sie ihm mit einemmal wie ein trostloses, enges Gefängnis angesichts der Weite des Himmels, der in makellosem Blau erstrahlte, und des Schimmers von Grün, mit dem ihn der Frühlingstag begrüßte. Die Luft roch gut und war sehr klar, und goldenes Sonnenlicht ergoß sich in verschwenderischer Fülle über den Hof und verwandelte die Helme und Schilde der Wachen oben auf den Zinnen in flüssiges Gold. Er bedeutete seinem Bruder mit einem kurzen Druck der Hand, stehenzubleiben, löste behutsam seinen Arm von Dankwarts Schultern und stand, wenn auch schwankend und mit zitternden Knien, aus eigener Kraft.

»Geht es?« fragte Ortwein. Das fröhliche Jungenlächeln, das er an seinem Neffen immer am meisten gemocht hatte, war auf Ortweins Züge zurückgekehrt, aber seine Stimme klang ernst, und sein Blick verriet Sorge. Hagen nickte, löste vorsichtig auch die andere Hand von Ortweins hilfreich dargebotenem Arm und atmete in tiefen Zügen ein. Die Luft war noch kühl, und der Wind stand so, daß er den Geruch des Wassers vom Rhein mit sich in die Burg hinaufbrachte; Hagen genoß jeden einzelnen Atemzug, und für eine Weile gab er sich einfach dem Gefühl hin, wieder unter freiem Himmel zu sein. Dem Gefühl, wieder zu leben. Das Kitzeln der Sonnenstrahlen auf dem Gesicht zu spüren und den harten Stein des Hofes unter den Stiefelsohlen. Was war er für ein Narr gewesen, sein Leben so einfach wegwerfen zu wollen l »Du darfst dich nicht überanstrengen«, sagte Dankwart, als Hagen sich wieder auf ihn stützte und langsam über den Hof ging. »Denk an die Worte des Arztes.«

»Überanstrengen?« Hagen lächelte. »Keine Sorge - ich habe nicht vor, auszureiten.«

»Das könntest du auch nicht«, erwiderte Dankwart »Gunther hat den Stallknechten bei Todesstrafe verboten, dir ein Pferd zu geben.« Hagen zog es vor, nicht darauf zu antworten, sondern konzentrierte sich ganz darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen und das offenstehende Tor anzusteuern. Er fühlte sich auf sonderbare, beinah wohltuende Art kraftlos und matt, aber das Gehen ermüdete ihn nicht, sondern schien ihm im Gegenteil etwas von seiner verlorenen Kraft wiederzugeben; es war, als kehrte das Leben Schritt für Schritt in seinen Körper zurück Nach ein paar Schritten löste er die Hand vom Arm seines Bruders und ging aus eigener Kraft weiter. Erst vor dem Tor blieb er stehen und sah sich um. Worms kam ihm verändert vor, aber er vermochte nicht zu sagen, woran es lag. Erst nach einer geraumen Weile wurde ihm klar, was es war: es war zu still. Auf den Mauern patrouillierten Wachen, aber es waren zu wenige, kaum die Hälfte der Männer, die selbst in Friedenszeiten wie jetzt dort oben sein sollten, und auch das emsige Treiben, das so selbstverständlich zum Anblick des Hofes gehörte wie die graubraunen Mauern und die Fahnen Burgunds, erschien ihm weniger lebhaft als sonst. Alle Geräusche klangen gedämpft.

»Was ist ... geschehen?« fragte er stockend und so, als fürchte er die Antwort.

»Was geschehen ist, Ohm Hagen?« Ortwein warf einen Blick durch das offenstehende Tor auf die Stadt hinab, ehe er antwortete. »Worms hat geblutet, das ist geschehen. Es ist jetzt weniger schlimm als noch vor Tagen - Gunther hat die Verwundeten, die jetzt noch darniederliegen, in die Stadt hinunterschaffen lassen, damit sie die Festvorbereitungen nicht stören.«

Hagen erschrak. »Aber das ist doch nicht möglich«, sagte er mit einer Geste zu den Wehrgängen hinauf. »Diese Männer hier können doch nicht alle sein, die unversehrt geblieben sind!«

»Natürlich nicht«, sagte Dankwart an Ortweins Stelle. Hagen bemerkte, daß er seinem Neffen einen warnenden Blick zuwarf und fast unmerklich den Kopf schüttelte. »Die anderen sind in der Stadt, um den Ärzten und Priestern zu helfen, und viele sind übers Land geritten, Vorräte für das Fest zu kaufen, Spielleute und Gauklervolk zu rufen oder Einladungen zu überbringen.«

Das letzte klang wie Hohn in Hagens Ohren, und er glaubte zu spüren, daß es auch so gemeint war. Hagen hatte schon vorher aus verschiedenen Bemerkungen entnommen, daß längst nicht jeder in Worms mit dem Fest einverstanden war, das Gunther auszurichten gedachte. Ein Sieg verlangt eine Feier, aber Hagen gewann immer mehr den Eindruck, daß Gunther ein wenig über das Angemessene hinausschoß. Es waren nicht nur die Herrscher der Reiche geladen worden, die mit Burgund im Bunde standen, sondern alle Könige und Edlen im Umkreis von fünf Tagesritten; mehr als dreißig, wenn sich Hagen recht entsann. Er spielte mit dem Gedanken, Dankwart und Ortwein zu bitten, ihn in die Stadt hinunterzubegleiten, tat es aber dann doch nicht, weil er wußte, daß er jeden Schritt, den er jetzt zuviel tat, später zehnfach bereuen würde. Und er mußte gesund werden, so schnell wie möglich. Gesund genug, um die Reise nach Tronje anzutreten. Hagen hatte außer mit Dankwart mit niemandem über sein Vorhaben, Worms - wenigstens für eine Weile - zu verlassen, gesprochen. Er hätte viel darum gegeben, die Heimreise noch vor der Pfingstfeier anzutreten, aber das konnte er nicht Und er mußte es auch nicht mehr. Nicht jetzt, wo ihm die Entscheidung abgenommen worden war, vor der er fast in den Tod gerannt wäre, nur um sie nicht fällen zu müssen.

»Laß uns zurückgehen, Hagen«, sagte Dankwart leise. »Es ist genug für das erste Mal.« Er legte Hagen sanft die Hand auf die Schulter. Hagen streifte seine Hand ab. »Behandle mich nicht wie einen Greis«, sagte er zornig. »Es ist nicht das erste Mal, daß ich verwundet wurde.« Dankwart antwortete nicht, aber er hielt seinem Blick stand, und was Hagen in seinen Augen las, gefiel ihm nicht Was war das? Hatten sich alle verändert? Oder war er es, der nicht mehr der gleiche war? »Dort sind Lüdeger und Lüdegast«, sagte Ortwein hastig, um das stumme Duell zu unterbrechen. Hagen folgte seinem Blick und gewahrte/ die beiden königlichen Brüder am entgegengesetzten Ende des Hofes. Ihr Anblick erschreckte ihn. Sie trugen noch immer Kleider, die ihrem Stand angemessen waren: kostbare Wämser und Hosen aus feinster Seide und sorgsam gegerbtem Leder, dazu prachtvoll bestickte Umhänge, die jedoch das Wappen von Burgund zeigten, nicht ihrer eigenen Reiche. Aber davon abgesehen hatten sie nichts Königliches mehr an sich. Lüdegast stützte sich schwer auf den Arm seines Bruders Lüdeger, und um seine Stirn lag ein frischer weißer Verband. Er ging sonderbar schleppend und vornübergebeugt, und hätte ihn Lüdeger nicht gestützt, hätte er sicher nicht die Kraft gehabt, sich überhaupt auf den Beinen zu halten. »Laßt uns zu ihnen gehen«, sagte Hagen. Dankwart sah ihn erstaunt an, und Hagen fügte mit einem schmerzlichen Lächeln hinzu: »Vielleicht können wir Krüppel unter uns ein gemütliches Schwätzchen halten.« Dankwart schien das nicht sehr lustig zu finden, aber wieder verbiß er sich die Antwort, die ihm sichtlich auf den Lippen lag, und geleitete Hagen nach kurzem Zögern über den Hof.

Lüdeger blieb stehen, als er ihr Herankommen bemerkte. Auch er hatte sich verändert, auf fast noch erschreckendere Weise als sein Bruder. Er war noch immer ein Bär von einem Mann und überragte Hagen und seine Begleiter um mehr als Haupteslänge. Trotzdem schien er irgendwie kleiner geworden zu sein. Es war nicht die Kraft seines Körpers, die aus ihm gewichen war, sondern die innere Stärke, das Feuer, das in ihm gebrannt hatte und ihn befähigt hatte, König zu sein. Es war ein geschlagener Mann, dem Hagen gegenüberstand, gebrochen für alle Zeiten. Ist es das, dachte Hagen, und Grauen packte ihn - ist es das, was denen geschieht, die sich Siegfried in den Weg stellen?

Siegfried hatte Lüdegast und Lüdeger das Leben geschenkt Und doch hatte er sie getötet, auf seine Weise. Vielleicht wäre es gnädiger gewesen, er hätte sie auf dem Feld erschlagen.

Aber Hagen ließ sich nichts von all dem anmerken. Er neigte in einer angedeuteten Verbeugung das Haupt.

Lüdeger erwiderte den Gruß, während sein Bruder nur stumpf vor sich hinstarrte und seine Finger sich ein wenig fester in den Stoff von Lüdegers Ärmel krallten. Sein Blick war leer und seine Züge sonderbar schlaff und ohne Halt. Hagen schauderte. Er hatte nicht gewußt, daß Gunther die Wahrheit sprach, als er sagte, daß auf dem Thron der Dänen in Zukunft ein Schwachsinniger sitzen würde. Nun wußte er, warum Dankwart gezögert hatte, ihn hierherzuführen.

Hagen merkte plötzlich, daß er Lüdegast anstarrte, und wandte verlegen den Kopf. Aber es war Lüdeger, der das peinliche Schweigen brach. »Hagen von Tronje«, begann er. »Ich fühle mich geehrt, Euch zu sehen. Ich höre, es geht Euch besser?«

Hagens Blick glitt noch einmal beinahe schuldbewußt über Lüdegasts erschlaffte Züge. Er nickte. »Es ... es geht mir gut«, sagte er, eine Spur zu hastig. »Ich danke Euch, König...«

»Vergeßt den König, Hagen von Tronje«, fiel ihm Lüdeger ins Wort. In seiner Stimme war nichts von Bitterkeit. Er schien Hagen fast unnatürlich ruhig. Aber auch er hatte vier Wochen hinter sich, in denen er wohl nicht viel anderes zu tun gehabt hatte, als zu denken. »König war ich einmal«, fuhr er fort. »Aber es ist lange her.«

Lüdegast hob mit einer ruckhaften Bewegung den Kopf. »König?« sagte er. »Ich bin König. Wer verlangt nach mir? Wo ist meine Krone?« Hagen senkte betreten den Blick Er spürte, wie sich Dankwart neben ihm unruhig bewegte. Es war kein guter Einfall gewesen, diese Begegnung zu suchen. Plötzlich wünschte er sich, wieder oben in seiner Kammer zu sein.

»Wir müssen weiter«, sagte Ortwein, als das Schweigen unerträglich zu werden begann. »Du darfst nicht zu lange aus dem Haus, Ohm Hagen.« Hagen wollte ihm bereitwillig folgen, doch Lüdeger hielt ihn zurück. »Weiter, Ortwein von Metz?« fragte er, und mit einemmal war seine Stimme nicht mehr so ruhig wie bisher. »Weiter, oder nur fort? Soll Euer Ohm nicht sehen, was der Xantener getan hat?« Ortwein runzelte die Stirn und wandte sich mit einer heftigen Bewegung um. Aber Hagen entzog ihm seinen Arm und blieb stehen. »Nicht so hitzig, Ortwein«, sagte er. »Lüdeger hat recht.« Der Sachsenkönig schien überrascht. Er hatte nicht erwartet, ausgerechnet von Hagen Unterstützung zu erhalten.

»Ich sehe, was Ihr meint, König Lüdeger«, sagte Hagen mit Blick auf Lüdegast Der Däne hob bei »König« erneut den Kopf und wollte etwas sagen. Lüdeger schlug ihm leicht auf den Mund, und Lüdegast verstummte. Hagen überging es. »Ich sehe es, und es gefällt mir nicht«, fuhr er fort. »Doch wer den Krieg in die Länder seiner Nachbarn trägt, muß damit rechnen, daß er erntet, was er gesät hat.«

Lüdegers Gesicht blieb unbewegt. »Ich habe Burgund den Krieg erklärt Nicht Siegfried von Xanten.«

»Hättet Ihr es unterlassen, wenn Ihr gewußt hättet, daß Siegfried mit uns im Bunde ist?«

»Nicht, wenn ich gewußt hätte, was er ist«, antwortete Lüdeger. Seine Stimme bebte. »Ihr...«

»Ihr seid verbittert, Lüdeger«, fiel ihm Dankwart ins Wort »Ihr seid gefangen und geschlagen, und Ihr braucht Zeit, beides zu verwinden. Warum greift Ihr Hagen an? Er ist nicht schuld an dem, was Euch und den Euren geschehen ist. Es war ein gerechter Kampf, und Ihr habt ihn verloren.«

»Gerecht?« Lüdeger schnaubte. »Wir waren euch drei zu eins überlegen.« »Eben«, sagte Ortwein, aber Lüdeger fuhr unbeeindruckt fort: »Nennt Ihr es gerecht, gegen einen Feind zu kämpfen, der mit dem Teufel im Bunde ist?«

»Ihr irrt, Lüdeger«, sagte Hagen steif.

»Das mag sein«, erwiderte der Sachse ungerührt. »Und Ihr irrt in der Wahl Eurer Verbündeten.«

»Überlegt Euch, was Ihr redet, Lüdeger«, sagte Dankwart drohend. »Siegfried von Xanten ist unser Freund.«

»Es gibt Männer, die man besser zum Feind hat als zum Freund«, antwortete Lüdeger ruhig. »Auch Ihr werdet das noch begreifen. Nur fürchte ich, daß es dann zu spät sein wird.« Er sah Dankwart voll Verachtung an, faßte seinen Bruder unter und wandte sich ab.

Hagen sah den beiden betroffen nach. Er hatte plötzlich das Gefühl, daß in Worms mehr, weit mehr geschehen war, als er geahnt hatte. Fragend blickte er seinen Bruder an, aber Dankwart wich seinem Blick aus. »Was geht hier vor?« fragte Hagen. Sein Bruder antwortete nicht »Was geht hier vor, Ortwein? Was ist in Worms geschehen, was mir niemand sagen will?«

»Nichts, was wir nicht hätten voraussehen müssen«, sagte Ortwein. Er sprach nicht weiter, sondern senkte verlegen den Blick. Es war Dankwart der die Antwort gab. »Es ist Siegfried, Hagen.« Hagen hatte gewußt, daß das kommen würde.

»Siegfried«, bestätigte Ortwein. Hagen merkte, daß es kein Zufall war, wie Dankwart und sein Neffe einander abwechselten; ihm zu antworten. Nichts von allem, was geschehen war, seit sie das Haus verlassen hatten, war Zufall, nicht einmal die Begegnung mit dem Sachsen, obgleich sich Dankwart redliche Mühe gegeben hatte, es so aussehen zu lassen. Ortwein und er hatten ihn hierhergeführt, um ihm etwas zu zeigen und um ihm etwas zu sagen, und sie warfen sich dabei geschickt die Bälle zu. »Und was ist mit ihm?« fragte Hagen lauernd.

»Er stiehlt uns Worms«, antwortete sein Neffe. »Er nimmt es sich, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen. Noch ein Jahr, und er wird die Hand nach Gunthers Thron ausstrecken, und niemand wird es wagen, ihn daran zu hindern.«

Hagen starrte ihn an. Es waren seine eigenen Gedanken, die Ortwein aussprach. Er war ein Narr gewesen, zu glauben, daß nur er die Gefahr erkannte, die von dem Nibelungen ausging.

Und gleichzeitig erfüllten ihn Ortweins Worte mit Zorn; Zorn auf sich selbst, über ein Jahr geschwiegen und sich im Ernst eingebildet zu haben, der einzige in Worms zu sein, der sehen konnte l Warum hatte er nicht vor einem Jahr mit Dankwart und Ortwein hier gestanden und dieses Gespräch geführt? Alles wäre anders gekommen. Jetzt war es zu spät Gunther hatte die Entscheidung gefällt, und er würde sich ihm nicht widersetzen und auch nicht zulassen, daß es ein anderer tat. Auch wenn er hundertmal wußte, daß er unrecht hatte. »Und warum kommt ihr damit zu mir?« fragte Hagen. »Es muß etwas geschehen«, antwortete Ortwein. »Wir haben versucht, mit Gunther zu reden, aber er hört uns nicht einmal zu, obgleich er ganz genau spürt, was hier vorgeht« »Und ... die anderen?«

»Welche anderen?« fragte Dankwart zornig. »Es gibt nur uns, Hagen. Ortwein, mich - und dich. Du wirst in ganz Burgund keine fünfzig Männer finden, die Siegfried noch nicht ins Netz gegangen sind. Und die, die ihn nicht bewundern, haben Angst vor ihm.« »Und was wollt ihr tun?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Dankwart. »Wir ... hatten gehofft, daß du mit Gunther sprechen würdest. Wenn es einen Menschen gibt, auf den er hört, dann auf dich.« Hagen schüttelte traurig den Kopf. »Das kann ich nicht.« Dankwart sah ihn enttäuscht an. »Kannst du es nicht, oder willst du nicht?«

»Beides«, erwiderte Hagen. »Ich kenne die Antwort, die er mir geben würde.«

»Dann bleibt uns nur noch eine Wahl«, murmelte Ortwein. »Siegfried zu töten?« Hagen lachte bitter. »Das wiederum könnt ihr nicht Niemand ist diesem Mann gewachsen.«

»Er ist nicht unverwundbar«, antwortete Ortwein zornig. »Und sein Zauberschwert schützt ihn nicht vor Gift oder einem Pfeil aus dem Hinterhalt.«

»Mord?« fragte Hagen stirnrunzelnd. »Ihr würdet ihn meuchlings ermorden?«

»Wenn es die einzige Möglichkeit ist, Burgund zu retten, ja«, antwortete Ortwein entschlossen. Ich bin es, der diese Worte sprechen sollte, dachte Hagen. Nicht du. Warum tue ich es nicht? Es war gar nicht Ortwein, der da sprach. Er selbst, Hagen, sprach aus ihm, derjenige, der er noch vor einem Jahr gewesen war und den Ortwein zu ersetzen versuchte und es nicht konnte. Aber es gab diesen Hagen nicht mehr. »Du würdest es wirklich tun«, murmelte er.

Ortwein nickte. »Wüßte ich, daß ich Burgund damit rette, dann täte ich es noch heute.«

»Aber du würdest Burgund nicht retten«, antwortete Hagen düster. »Glaube mir, Ortwein. Du würdest alles nur noch schlimmer machen.« »Und was soll ich statt dessen tun?« schnaubte Ortwein. »Die Hände in den Schoß legen und warten, bis Siegfried auf Gunthers Thron sitzt?« »Nein«, antwortete Hagen. »Das gewiß nicht. Aber es gibt noch eine dritte Lösung, außer Verrat oder Feigheit« »Und welche?« fragte Dankwart Hagen antwortete nicht gleich. Sein Blick tastete über die grauen Mauern des Hofes, aber er sah etwas anderes. Er wußte jetzt, was er tun würde. Die Lösung war so einfach, daß er sich für einen Moment fragte, warum er nicht schon vor einem Jahr darauf gekommen war. Damals, als er Volker dabei überrascht hatte, Kriemhild die Geschichte des Nibelungen zu erzählen. »Wartet ab«, sagte er leise, aber mit solcher Entschlossenheit, daß weder Ortwein noch Dankwart es wagten, weiter in ihn zu dringen. »Unternehmt nichts und wartet ab«, fügte er mit Nachdruck hinzu. »Nur eine Woche noch.«

»Eine Woche?« Dankwart runzelte die Stirn.

»Wartet bis zum Pfingstfest«, sagte Hagen, »und ihr werdet verstehen, was ich meine. Es gibt eine Möglichkeit, Siegfried Einhalt zu gebieten. Und ich werde es tun, und wenn es das letzte wäre, was ich in meinem Leben vollbringe.«

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