9

Brunhilds Ohnmacht war nur von kurzer Dauer, aber diese wenigen Augenblicke waren genug, die Halle der Prüfungen in ein Chaos zu verwandeln. Ein vielstimmiger, entsetzter Aufschrei ließ den Krater erzittern, und plötzlich strömten von überall her goldblitzende Gestalten auf die gestürzte Walküre zu.

Auch Hagen und sein Bruder waren zum Fuß des Kraters hinabgeeilt, aber schon auf halbem Weg von Brunhilds Kriegerinnen aufgehalten worden, die in Scharen aus dem Tor geströmt waren und einen geschlossenen Ring um ihre Herrin bildeten, Schilde und Speere drohend erhoben.

Hagen sah, wie eine der Kriegerinnen neben Brunhild niederkniete und die Hände nach ihr ausstreckte; gleichzeitig drängten zwei andere mit gekreuzten Speeren den Nibelungen zurück. Siegfried war klug genug, die Gefahr zu erkennen, die eine einzige unbedachte Bewegung in diesem Moment bedeutet hätte. Ohne Widerstand zu leisten, ließ er sich durch den Ring der Kriegerinnen hindurchstoßen - wich plötzlich einen Schrift zurück und tauchte in der Menge unter. Hagen versuchte vergeblich, ihm mit den Augen zu folgen. Jemand ergriff ihn unsanft am Ellbogen. Hagen riß mit einem wütenden Ruck seinen Arm los, fuhr herum und blickte in das ausdruckslose Goldgesicht einer Walkürenkriegerin. Die Geste, mit der sie erst auf ihn, dann auf seinen Bruder und schließlich auf den Ausgang deutete, war befehlend.

»Besser, wir gehorchen und verschwinden von hier«, raunte Hagen seinem Bruder zu. Dankwart wollte widersprechen, aber das warnende Funkeln in Hagens Blick belehrte ihn eines Besseren. Mit einem Nicken wandte er sich um und wartete, bis die beiden Kriegerinnen Hagen und ihn in die Mitte genommen hatten und aus der Halle führten. Es wurde ein Spießrutenlauf. Jetzt, da das erste Entsetzen über Brunhilds Niederlage abzuklingen begann, machte sich Wut wie eine schäumende Woge in der Halle breit. Die Blicke, die Hagen auffing, waren drohend; die Gesichter, die seinem Bruder und ihm folgten, verzerrt vor Haß. Hagen war sicher, daß sie die Halle ohne den Schutz der beiden Kriegerinnen nicht lebend verlassen hätten.

Ihre beiden Begleiterinnen winkten ihnen weiterzugehen, und Hagen und Dankwart beeilten sich, dem Befehl zu folgen. Im Laufschritt durchquerten sie die Halle, stürmten durch das Tor und den kurzen, halbrunden Tunnel aus schwarzer Lava, der sich daran anschloß, ehe die beiden Frauen - noch immer besorgt, aber doch mit deutlicher Erleichterung - in ein normales Tempo zurückfielen.

Dankwart blickte zornig über die Schulter zurück. »Ist das Brunhilds Art, ihr Wort zu halten?«

»Was erwartest du?« fragte Hagen gleichmütig. »Wir haben eine Königin geschlagen.«

»Nicht wir«, sagte Dankwart. »Sieg...«

»Gunther«, fiel ihm Hagen erschrocken ins Wort. »Gunther wolltest du sagen, nicht wahr? Aber das bleibt sich gleich. Wenn sie ihn töten, töten sie auch uns.« Er warf seinem Bruder einen beschwörenden Blick zu, und Dankwart begriff. Verlegen senkte er den Blick.

Die beiden Kriegerinnen führten sie durch ein Labyrinth finsterer, nur von spärlichen blakenden Fackeln erhellter Gänge zurück in den Teil des Isensteines, in dem sie untergebracht waren. Einmal - etwa auf halbem Weg - kam ihnen eine Gruppe anderer Kriegerinnen entgegen; ansonsten trafen sie auf kein lebendes Wesen. Der Isenstein schien wie ausgestorben.

Erst als sie ein Tor durchschritten und wieder in den sanft nach links gekrümmten Gang traten, in dem ihre Kammer lag, wurden die Fackeln zahlreicher, und gedämpfte Stimmen und andere Laute drangen an ihr Ohr. Trotzdem trafen sie auf niemanden mehr, bis sie ihre Kammer erreicht hatten.

Eine ihrer beiden Begleiterinnen öffnete die Tür und bedeutete ihnen mit strengen Gesten, hierzubleiben, bis sie geholt würden. Hagen nickte zum Zeichen seines Einverständnisses. Doch sobald er mit seinem Bruder allein war, preßte er das Ohr gegen das Holz der Tür, um zu lauschen. »Was tust du?« fragte Dankwart stirnrunzelnd.

Hagen gab ihm ein ärgerliches Zeichen, still zu sein. Die Tür war aus Eichenholz und so stark wie seine Hand, und alles, was er hörte, war das Klopfen seines eigenen Herzens. Dennoch gab er sich kurz darauf einen entschlossenen Ruck, nickte seinem Bruder auffordernd zu und schob den Riegel zurück. »Komm mit«, sagte er. Dankwart rührte sich nicht von der Stelle. »Wohin?« »Zu Gunther natürlich«, sagte Hagen ungeduldig. »Wohin sonst?« Er schob die Tür vorsichtig einen Spaltbreit auf und spähte auf den Gang hinaus. Nach kurzem Zögern öffnete er die Tür ganz und trat mit einem entschlossenen Schritt hinaus.

Der Gang war verlassen. Die beiden Kriegerinnen waren gegangen, und wie Hagen gehofft hatte, war keine Wache vor ihrer Tür zurückgeblieben. Dankwart schloß hastig - und lauter, als Hagen lieb war - die Tür hinter sich und folgte ihm.

Bis zu Gunthers Gemach war es nicht weit, trotzdem schien Hagen der Weg eine Ewigkeit zu dauern. Sein Verstand sagte ihm, daß er sich wie ein Narr benahm. Man hatte ihm und Dankwart befohlen, in ihrer Kammer zu bleiben, aber was besagte das schon? Sie würden zurückgebracht werden, stießen sie auf eine Streife von Walkürenkriegerinnen - na und? Trotzdem hämmerte sein Herz zum Zerbersten, als sie endlich Gunthers Gemach erreicht hatten.

Er sah sich noch einmal nach beiden Seiten um und bedeutete Dankwart hinter ihn zu treten, ehe er anklopfte und - ohne eine Antwort abzuwarten - die Tür öffnete.

Gunther sprang bei ihrem Eintritt erschrocken von seinem Stuhl auf. Als er Hagen erkannte, eilte er ihm erleichtert entgegen. Sein Gesicht war eine Grimasse. Er war in Schweiß gebadet. Auf seiner Rechten waren blutige Kratzer zu sehen, die er sich vermutlich selbst beigebracht hatte, um eine Verletzung vorzutäuschen. Sein Atem ging schnell, als wäre er gerannt. Hagen konnte sich des Gedankens nicht erwehren, Gunther hätte sich vorsätzlich in einen Zustand der Erschöpfung und Atemlosigkeit gebracht für den Fall, daß ein Nichteingeweihter ihn nach dem Kampf aufsuchte. Alles, was Hagen bei Gunthers Anblick empfand, war ein Gefühl tiefer Verachtung.

»Was ist mit Brunhild?« fragte Gunther erregt. »Ich habe gehört, sie...« Er stockte und blickte erschrocken zu Dankwart, der hinter Hagen eingetreten war. »Sie ist verletzt«, fuhr er in verändertem, mühsam beherrschtem Tonfall fort »Man hat mich nicht zu ihr gelassen. Konntet Ihr sehen, ob es schlimm ist?«

»Nicht aus der Nähe«, antwortete Dankwart an Hagens Stelle. »Aber als wir die Halle der Prüfungen verließen, stand sie bereits wieder aus eigener Kraft.« Er lächelte vieldeutig. »Das konntet Ihr natürlich nicht sehen, mein König, denn Ihr hattet es ja eilig, mit Siegfried Platz zu tauschen.« Gunthers Augen wurden groß. »Ihr wißt...« Sein Blick ging zu Hagen. »Du hast es ihm verraten!« sagte er vorwurfsvoll. »Das war nicht nötig«, lenkte Dankwart ab. »Selbst ein Blinder hätte gemerkt, daß nicht Ihr es wart, gegen den Brunhild gekämpft hat« »Schweig endlich!« sagte Hagen wütend. Gunther hob besänftigend die Hand. »Laßt ihn, Hagen«, sagte er. »Dankwart soll reden.« Und zu Dankwart gewandt: »Was habt Ihr damit gemeint, selbst ein Blinder hätte gemerkt, mit wem Brunhild gekämpft hat?«

Dankwart zog trotzig die Brauen zusammen, aber sein Lächeln wirkte mit einemmal nicht mehr so sicher. »Verdacht habe ich bereits geschöpft, als er den Speer warf.« Er sah Gunther abbittend an. »Verzeiht mir, mein König, aber es war ein Wurf, wie ihn kaum ein Mann geschafft hätte.« »Und weiter?« drängte Gunther, als Dankwart verlegen schwieg. Dankwart nahm sich ein Herz und fuhr entschlossen fort. »Das Bogenschießen hat meinen Verdacht bekräftigt!« sagte er. »Doch ... spätestens der Zweikampf mußte auch dem letzten die Augen öffnen!« Er breitete in einer beschwörenden Geste die Arme aus. »Überlegt doch, Gunther - Siegfried hat mit einem einzigen Hieb Brunhilds Schild zerschlagen und ihren Arm gebrochen. Wir drei gemeinsam hätten das nicht geschafft!« »Und?« fragte Gunther mit rauher Stimme. »Was wollt Ihr damit sagen?« »Daß selbst der Dümmste den Betrug durchschauen muß!« erwiderte Dankwart erregt.

»Alberichs Zauber...« begann Gunther, doch Dankwart unterbrach ihn. »Unsinn!« rief er. »Vergeßt nicht, Siegfried ist schon einmal hiergewesen. Brunhild kennt ihn, seine Art, sich zu bewegen - und zweifellos auch zu kämpfen. Und auch...« Er zögerte. »... Auch Ihr seid kein Unbekannter in diesem Teil der Welt«, ergänzte er schließlich. »Sprich ruhig aus, was du denkst«, sagte Gunther ruhig. »Du wolltest sagen, daß Gunther von Burgund einen Vergleich mit Siegfried von Xanten nicht aushält.«

»Das ... das meine ich nicht«, verteidigte sich Dankwart. Er warf Hagen einen hilfesuchenden Blick zu, den dieser übersah, und starrte betreten zu Boden. »Wie konntet Ihr...«

Gunther ließ ihn nicht ausreden. »Ich weiß, was du sagen willst Wie konnte der König von Worms sich so tief erniedrigen? Du hast recht Ich habe mit diesem Betrug meine Ritterehre verwirkt Aber ich hatte keine andere Wahl. Es war der Preis für etwas, was noch wichtiger ist als meine Ehre. Der Frieden.«

Gunther lächelte und leerte seinen Becher. »Geht jetzt«, sagte er. »In einer Stunde erwartet uns Brunhild, und es gibt noch vieles, was ich bedenken muß.«

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