Sie hatten die Stadt in weitem Bogen umgangen und näherten sich dem Tor vom Osten her, der dem Rhein abgewandten Seite. Es war noch früh; obgleich es bereits hell geworden war, lag noch Nebel wie grauer Dunst über dem frisch geackerten Feld, und die Luft roch feucht. Hagen zweifelte nicht daran, daß ihr Kommen längst bemerkt worden war; Gunthers Türmer waren wachsam. Aber niemand kam ihnen entgegen, das Tor, einladend offenstehend und mit Wimpeln geschmückt, blieb leer. Hagen hielt noch einmal an, kurz bevor er die Zugbrücke erreicht hatte, und sah zum Rhein hinab. Stadt und Fluß lagen im blauen Licht des Morgens. Wie immer, wenn er für längere Zeit fort gewesen war, schien sich Worms verändert zu haben. Es war keine Veränderung im einzelnen, nichts, worauf er den Finger legen oder was er in Worte fassen konnte. Die Stadt erschien ihm fremd, wenn auch auf eine freundliche Art; aber trotzdem fremd. Es waren Momente wie diese, in denen er begriff, daß es nicht seine Stadt war. »Worauf wartest du?« fragte Dankwart ungeduldig. Hagen lächelte. »Ich sehe mich um.«
Er wäre gerne noch verweilt, denn es war trotz allem eine Art Heimkehr für ihn. Aber Dankwart hatte recht. Sie waren seit acht Tagen im Sattel, und während der letzten Nacht hatten sie nur eine einzige Rast von nicht einmal einer Stunde eingelegt, und auch diese nur, damit sich die Pferde erholen konnten, nicht etwa ihre Reiter.
Der Hufschlag ihrer Pferde ließ das Holz der Zugbrücke dröhnen, und endlich - sie hatten die Burg schon fast erreicht - zeigte sich eine Gestalt im Tor.
Es war ein Mann aus Gunthers Leibwache, den Hagen nicht namentlich, aber von Angesicht kannte, und dieser erkannte Hagen ebenfalls. Einen Moment war er verwirrt, aber dann machte der Ausdruck von Müdigkeit und Unlust auf seinen Zügen Freude Platz; er ließ seinen Speer fallen und lief Hagen und seinem Bruder entgegen. »Hagen von Tronje!« rief er. »Ihr seid angekommen. Endlich!« Hagen sprang aus dem Sattel und ließ es zu, daß der Mann ihn umarmte. Als ihm sein unschickliches Betragen zu Bewußtsein kam, trat der Mann verlegen einen Schritt zurück. »Verzeiht«, sagte er. »Ich war so überrascht, und die Freude...«
»Es ist gut«, sagte Hagen. »Du mußt dich nicht entschuldigen.« Er verstand den Mann, und die ehrliche Freude, die er in seinen Augen las, erfüllte ihn mit Dankbarkeit. Er war der erste, der ihn begrüßte, der erste Mensch, der ihm entgegenkam und ihn in die Arme schloß bei seiner Heimkehr nach Worms. Es tat gut, die Nähe eines Freundes zu spüren. Er wandte sich zu seinem Bruder um und bedeutete ihm abzusitzen. Sodann bat er die Wache, sich um die Pferde zu kümmern. Der Mann nickte eilfertig und griff nach den Zügeln, aber Hagen hielt ihn noch einmal zurück und deutete zur Burg hinauf. »Gunther und die anderen«, sagte er, »sind sie in Worms?«
Die Augen des Mannes leuchteten auf. »Sie sind hier«, antwortete er. »Gunther, Giselher und Gernot und alle anderen, und viele edle Gäste dazu. Der König wartet bereits voll Ungeduld auf Euch.« Hagen nickte und trat beiseite, um den Mann und die beiden Pferde vorbeizulassen. Dann sah er sich aufmerksam um. In den Mauern der Burg herrschte noch graue Dämmerung. Es war eine friedliche Art von Dunkelheit, freundlich und beschützend, nicht bedrohlich. »Gunther und die anderen werden noch schlafen«, meinte Dankwart. Hagen sagte nichts darauf. Er empfand plötzlich unsinnigen Zorn auf seinen Bruder, der zum zweitenmal so störend seine Gedanken durchdrang. Dann rief er sich zur Vernunft. Dankwart hatte auf seine nüchterne Art recht Gunther war nicht dafür bekannt, mit den Hühnern aufzustehen. »In der Küche ist Licht«, sagte Dankwart. Er deutete auf ein kleines gelbes Rechteck, das wie ein verschlafenes Auge in die Dunkelheit des Hofes blinzelte. »Laß uns hineingehen. Ein Becher heißer Glühwein wird uns beiden guttun.«
Einen Moment lang war Hagen versucht, auf den Vorschlag seines Bruders einzugehen. Aber dann schüttelte er den Kopf. »Geh nur«, sagte er. »Ich will hinaufgehen in meine Kammer.«
Dankwart zuckte nur mit den Schultern und ging. Hagen sah ihm nach. Er wußte, daß Dankwart ihm die Antwort übelnahm. Sein Bruder war in den letzten Tagen immer gereizter geworden, je mehr sie sich Worms näherten.
Die Wahrheit war, daß Hagen einfach noch einen Moment allein sein wollte.
Er wartete, bis sein Bruder verschwunden war, dann wandte er sich um und ging langsam die Treppe zum Haupthaus hinauf. Neben der Türstand keine Wache, und auch die große Halle dahinter war leer. Hagen blieb stehen und atmete tief ein, sog den vertrauten Geruch nach Stein und Kälte und Feuchtigkeit in die Lungen, der zu Worms gehörte wie seine Mauern und das blutige Rot seiner Wimpel. Und wieder hatte er das Gefühl, nach Hause zu kommen.
Langsam durchquerte er die Halle, öffnete die Tür zu Gunthers Thronsaal und blieb auf der Schwelle stehen, ohne einzutreten. Auf der Tafel standen die Reste einer Mahlzeit, von den Dienern noch nicht abgeräumt, weil das Fest wahrscheinlich bis in die frühen Morgenstunden gedauert hatte. Der Geruch nach Wein lag in der Luft, und für einen Moment meinte er, das Klingen der Becher und das Lachen der Zechenden zu hören.
Lautlos zog er die Tür zu, wandte sich um und stieg die ausgetretenen hölzernen Stufen der Treppe hinauf. Der Klang seiner Schritte und die Schatten, die in den Winkeln nisteten, begleiteten ihn und weckten sonderbare Gedanken und Gefühle in ihm. Es war nicht das erstemal, daß es ihm so erging, seit er in Island gewesen war. Irgend etwas von der Düsternis, ein winziger Keim vom grauen Schrecken des Isensteines war ihm gefolgt, und es würde ihn nie wieder verlassen. Er erreichte den Turm, aber er traf auch hier niemanden; obwohl Stadt und Burg vor Menschen aus den Nähten platzte, schien dieser Teil der Festung ausgestorben. Hagen war es nur recht. Sosehr er sich auf ein Wiedersehen mit Gunther und den anderen gefreut hatte, fürchtete er den Moment jetzt beinahe. Hagen erreichte den ersten Treppenabsatz und fand auch diesen Teil des Turmes leer. Nach kurzem Zögern ging er weiter und betrat schließlich seine alte Kammer.
Der Raum war kalt und dunkel. Der Staub eines Jahres lag auf dem Boden und den wenigen Möbelstücken, und die Kammer kam ihm schäbiger vor, als er sie in Erinnerung hatte. Er trat ans Fenster, nahm den Laden herunter und ließ das Sonnenlicht ein. Die goldfarbene Wärme machte den Raum ein wenig freundlicher, aber nicht viel. Noch einmal ließ er den Blick durchs Zimmer schweifen. Dann wandte er sich mit einem Ruck um und ging zur Tür.
Als er die Kammer verließ, stand er unvermittelt einer Gestalt gegenüber - klein und zierlich, in einen langen, in einer spitz nach vorne gezogenen Kapuze endenden Mantel gekleidet, die ihr Gesicht halb verdeckte.
Hagen erschrak im ersten Moment, aber das Erschrecken wurde sogleich von einer heißen Welle der Freude hinweggespült. »Kriemhild!« rief Hagen überrascht.
»Hagen?« Es klang zögernd wie eine Frage. Dabei zitterte ihre Stimme, als unterdrücke sie mit Mühe die Tränen. Sie hob die Hände unter dem Mantel hervor und schlug die Kapuze zurück. »Hagen!« sagte sie noch einmal. Und plötzlich stieß sie einen kleinen Schrei aus, flog auf ihn zu und warf Hagen die Arme um den Hals, so ungestüm, daß er um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte. »Hagen!« rief Kriemhild immer wieder. »Hagen, du bist zurück!« Sie preßte das Gesicht gegen seine stoppelbärtige Wange, ihr Atem strich heiß über sein Gesicht. Hagen spürte, daß ihr Körper unter dem dünnen Stoff ihres Mantels zitterte. Einen Moment lang versuchte er sich gegen ihr Ungestüm zu wehren, aber dann gab er der Freude über das Wiedersehen nach. Er schlang die Arme um ihre Mitte, drückte Kriemhild an sich und hob sie schließlich in die Höhe, lachend und sie ein paarmal im Kreis schwenkend, wie er es früher gemacht hatte, als sie ein Kind gewesen war. Sie lachte, ließ seinen Hals los und ließ sich zwei-, dreimal im Kreis herumwirbeln, ehe sie mit den Füßen zu strampeln begann, damit er sie absetzte, genau wie sie es früher getan hatte.
Und dann tat sie noch etwas, was sie früher oft getan hatte, als sie ein Kind und Hagen so etwas wie ein zweiter Vater für sie gewesen war. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, nahm sein Gesicht in beide Hände und küßte ihn.
Aber es war nicht mehr wie früher. Kriemhild war kein Kind mehr, sondern eine Frau.
Und sie küßte ihn wie eine Frau.
Ihre Lippen waren weich und warm, und ihre Berührung berauschender als alles, was er jemals erlebt hatte. Er wollte sich wehren, sie wegstoßen und anschreien, daß sie etwas Verbotenes tat, daß sie ihn loslassen sollte. Aber er konnte es nicht.
Mit aller Kraft riß er Kriemhild an sich und erwiderte ihren Kuß, wild und stürmisch und heiß, mit der Kraft und Verzweiflung eines Ertrinkenden.
Es dauerte nur wenige Sekunden, einige wilde, rasende Herzschläge lang, aber die Zeit blieb stehen, und er fühlte, daß es Kriemhild erging wie ihm, denn sie wehrte sich nicht, sondern erwiderte seine Umarmung. Dann, so schnell, wie es sie überkommen hatte, war es vorbei. Sie begriffen beide im gleichen Moment, was sie taten, und er spürte Kriemhilds Schrecken wie seinen eigenen. Hastig ließ er sie los, wich einen Schritt zurück und sah sie betroffen an. Kriemhild senkte beschämt den Blick. »Ich ... es tut mir leid«, sagte er schließlich. »Verzeih, Kriemhild. Ich habe mich hinreißen lassen, aber das ... hätte nicht geschehen dürfen.« Kriemhild sah auf. In ihren Augen schimmerten Tränen. »Aber du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen«, sagte sie leise. Hagen starrte sie an. Wie schön sie ist, dachte er. »Ich bin es, die sich entschuldigen muß«, fuhr Kriemhild fort, nun wieder gefaßt. Plötzlich lächelte sie, obwohl ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Aber was reden wir überhaupt, Hagen? Kennen wir uns denn nicht lange genug? Und ist ein ganzes langes Jahr der Trennung nicht Grund genug für einen freundschaftlichen Kuß?« Aber es war kein freundschaftlicher Kuß gewesen, dachte Hagen. Begriff sie denn nicht, daß er sie liebte? Der Gedanke traf ihn mit der Wucht eines Fausthiebes. Und er tat ebenso weh. Er liebte Kriemhild.
Nicht das Kind in ihr, das sie gewesen war. Nicht Gunthers Schwester, die er auf den Knien geschaukelt hatte, sondern Kriemhild, die Frau. Er liebte sie nicht mehr wie ein Vater seine Tochter, nicht wie ein Bruder die Schwester, sondern wie ein Mann eine Frau. Und nicht erst seit heute. Er hatte sich all die Jahre hindurch selbst belogen, aber jetzt ging es nicht mehr. Es war wie das Ende einer langen, schmerzhaften Reise, einer Reise zur Wahrheit, für die er sein ganzes Leben gebraucht hatte. Jetzt hatte er das Ziel erreicht, und es gab kein Zurück mehr. Hagen rettete sich in ein Lächeln. »Es ist... nichts, Kriemhild«, brachte er mühsam hervor.
»Aber du...« Sie stockte. »Du weinst ja!« flüsterte sie. Sie streckte die Hand aus, um ihm eine Träne von der Wange zu wischen, aber Hagen hielt ihre Hand fest »Es ist wirklich nichts, Kriemhild«, sagte er. »Nur die Freude über das Wiedersehen. Und vielleicht auch ein wenig Müdigkeit. Dankwart und ich sind die letzten drei Tage und Nächte fast ohne Pause geritten. - Und ich bin kein junger Mann mehr«, fügte er lächelnd hinzu. Er schob Kriemhild auf Armeslänge von sich. »Aber nun erzähle«, sagte er. »Wie ist es dir ergangen während meiner Abwesenheit?« »Wie soll es mir ergangen sein?« gab Kriemhild achselzuckend zurück. »Ein Jahr ist lang, und noch viel länger ohne dich.« Sie hob in gespieltem Zorn den Finger, um ihm damit zu drohen. »Du hättest mich nicht so lange allein lassen dürfen, Hagen.«
Sie lachten beide, und dann ergriff Kriemhild seine Hand und zog ihn zur Treppe. »Laß uns hinuntergehen und Gunther wecken. Er wird außer sich vor Freude sein, dich zu sehen.« »Er schläft noch?«
»Er und alle anderen«, bestätigte Kriemhild. Sie runzelte die Stirn. »Sie haben bis spät in die Nacht gefeiert. Und mein königlicher Bruder war wieder einmal völlig betrunken.« Hagen blieb stehen und sah sie fragend an.
»Wirklich, Hagen«, sagte Kriemhild wie zur Erklärung. »Ich bin froh, daß zu zurück bist. Es war nicht das erste Mal, daß Gunther zuviel getrunken hat«
»Ich weiß«, sagte Hagen. »Es ist schlimmer geworden.« »Seit wann?« fragte Hagen, als sie nicht weitersprach. »Seit Siegfried und er zurückgekommen sind«, antwortete Kriemhild, ohne ihn dabei anzusehen. »Und seit diese schreckliche Frau in Worms ist«
»Brunhild?«
»Ja, Brunhild«, bestätigte Kriemhild. »Und du hast Gunther auch noch geholfen, sie zu holen.«
»Mein Anteil daran war nicht besonders groß. Aber wieso nennst du sie eine schreckliche Frau?«
»Weil sie es ist«, behauptete Kriemhild. »Sie führt sich auf, als wäre sie bereits die Königin von Worms, mehr noch, der ganzen Welt. Jedermann kommandiert sie herum, und wenn sich jemand weigert, ihren Befehlen zu gehorchen, läuft sie zu Gunther und beschwert sich oder schickt ihre beiden schrecklichen Dienerinnen, ihn grausam zu bestrafen. Einen der Reitknechte haben sie erschlagen.«
»Das ist nicht wahr«, entfuhr es Hagen.
Kriemhild schürzte die Lippen. »Dann geh hin und frage Gunther«, sagte sie. »Der arme Bursche hatte einen Sattelgurt nicht richtig festgezogen, so daß Brunhild um ein Haar vom Pferd gestürzt wäre. Gunther hat ihn dafür peitschen lassen, aber das war Brunhild wohl nicht genug. Am nächsten Morgen wurde er hinter dem Stall gefunden - mit eingeschlagenem Schädel.«
»Das ... das fällt mir schwer zu glauben«, sagte Hagen, »Brunhild ist...« »Sie ist böse und herrschsüchtig und gemein«, fiel ihm Kriemhild erregt ins Wort. »Jedermann in Worms hat Angst vor ihr, selbst Gunther. Und wenn sie erst Königin ist, wird alles noch viel schlimmer werden.« »Aber das ist nicht alles«, sagte Hagen leise.
Kriemhild starrte an ihm vorbei an die Wand. Dann schüttelte sie den Kopf, daß ihre blonden Locken flogen. »Nein«, sagte sie. »Ich ... ich hasse sie, Hagen, und nicht nur ich. Sie macht Siegfried schöne Augen.« »Weiter nichts?« fragte Hagen.
Kriemhild schnaubte. »Weiter nichts!« rief sie. »Als ob das nicht genug wäre. In drei Tagen ist meine Hochzeit mit Siegfried, und die meines Bruders mit ihr. Aber du müßtest sie sehen, wenn sie abends an der Tafel sitzt. Wie sie Siegfried anstarrt, unentwegt! Und Gunther hit, als merke er es nicht« Sie ballte zornig die Faust. »Ich bin froh, wenn die Hochzeit vorüber ist und wir Worms verlassen.«
»Ihr... wollt fort?« fragte Hagen erschrocken. Der Gedanke, daß Kriemhild nach ihrer Hochzeit die Stadt verlassen könnte, war ihm bisher überhaupt noch nicht gekommen.
Kriemhild nickte. »Wir reisen nach Xanten«, erklärte sie. »Siegfrieds Eltern haben uns eingeladen, den Sommer auf ihrer Burg zu verbringen. Und ehe der Winter kommt, werden wir zu Siegfrieds Burg im Reich der Nibelungen reiten.« Sie lächelte, als sie sah, wie sich Hagens Gesicht verdüsterte. »Oh - ich vergaß, du glaubst ja nicht, daß es sie gibt« »Das stimmt.«
»Aber Siegfried würde kaum mit mir zu einem Ort reiten wollen, der gar nicht existiert, oder?« Hagen antwortete nicht darauf. »Laß uns hinuntergehen und deinen Bruder wecken«, sagte er statt dessen.