20

Der Tag verging wie in einem Rausch. Er war in seine Kammer hinaufgegangen, hatte die Tür hinter sich verriegelt und sich auf sein Lager geworfen, und er wußte nicht mehr, was während der folgenden Stunden geschehen war. Etliche Male wurde an seine Tür geklopft, und verschiedene Stimmen hatten Einlaß gefordert, herrisch und befehlend, schmeichelnd oder auch drohend. Hagen hatte niemandem geöffnet, auch Gunther nicht, der vier- oder fünfmal gekommen war. Schließlich, schon spät am Nachmittag, war das harte Stampfen von Stiefeln durch die Tür gedrungen, und das Klopfen und Rufen hatte aufgehört. Gunther hatte eine Wache vor seiner Kammer postiert; Hagen wußte nicht, ob zu seinem Schutz oder als Bewachung.

Er wußte nicht mehr, was in seinem Kopf vorgegangen war an diesem Nachmittag. Lange nach Sonnenuntergang klopfte wieder jemand an seine Tür. Hagen antwortete nicht, aber der Besucher blieb hartnäckig. Hagen erkannte Gunthers Stimme durch die Tür, ohne die Worte zu verstehen. Ihr Ton war fordernd und zugleich besorgt. Ein Rest Vernunft sagte ihm, daß er sich nicht für immer in dieser Kammer einschließen konnte. Und Gunther mußte zudem einen Grund haben, ihn zu stören, nachdem er ihn zuerst so gründlich vor allen anderen abgeschirmt hatte. Er stand auf, ging zur Tür, zog den Riegel zurück und trat beiseite, als Gunther eintrat Gunther ging geradewegs zum Fenster, um die Läden herunterzunehmen. Obgleich inzwischen Abend war, wurde es heller in der Kammer, denn die Burg war von unzähligen Fackeln beleuchtet, und flackernder Feuerschein zuckte über die Decke und die Wände. »Wie geht es dir?« fragte Gunther. Seine Stimme zitterte leicht, und Hagen spürte, daß die Frage mehr als nur eine leere Redensart war. »Warum fragst du?«

Gunther warf einen besorgten Blick zur Tür, als fürchtete er, belauscht zu werden. »Du mußt fort, Hagen. Wie schlimm sind deine Wunden? Wirst du reiten können?« »Fort?« fragte Hagen. »Warum?«

»Du bist hier nicht mehr sicher«, erklärte Gunther. »Ich fürchte um dein Leben, wenn du bleibst. Kriemhild hat mitgeholfen, Siegfried zu waschen und aufzubahren. Sie hat die Wunde gesehen. In seinem Rücken, Hagen.«»Was habt Ihr erwartet?« fragte Hagen kalt. »Sie ist nicht blind.« »Sie hat geschrien, daß das ganze Haus zusammengelaufen ist. Inzwischen weiß es jeder in der Burg«, sagte Gunther. Seine Augen flackerten. »Und Brunhild?« fragte Hagen ungerührt.

Gunther zögerte mit der Antwort. »Sie war... sehr ruhig. Nicht einmal sehr überrascht...«

Er begann unruhig in der kleinen Kammer auf und ab zu gehen. »Du mußt fort, Hagen«, sagte er noch einmal. »Brunhild hat irgend etwas vor, das spüre ich. Sie hält dich für Siegfrieds Mörder.« »Genau das sollte sie auch«, sagte Hagen.

»Genau das sollte sie nicht!« antwortete Gunther aufgebracht. »Für den Mann, der Siegfried von Xanten erschlug, meinetwegen. Aber nicht für seinen Mörderi«

»Welchen Unterschied macht das schon?« murmelte Hagen. »Und warum sollte ich fliehen? Um meine Schuld damit noch deutlicher einzugestehen?«

»Ich traue Brunhild nicht«, sagte Gunther. Er war erregt, wütend. »Bei Gott, Hagen, begreifst du denn nicht, daß ich dich schützen will? Nimm Vernunft an und fliehe aus Worms! Vor dem Tor steht das schnellste Pferd bereit, das ich habe, und Verpflegung für einige Tage. Die Krieger dort draußen vor der Tür werden dich und deinen Bruder ungesehen aus der Burg bringen. Ihr könnt einen halben Tagesritt weit weg sein, ehe euer Verschwinden bemerkt wird.«

»Unsinn«, sagte Hagen. »Warum sollte ich fliehen? Ich fürchte Brunhild nicht«

»Das solltest du aber«, sagte Gunther düster. »Und wenn schon nicht sie, dann Siegfrieds Nibelungenreiter. Oder die dreißig Männer, die Siegmund von Xanten begleiten.«

»Ist Eure Macht so gering, daß Ihr mich nicht einmal vor Euren Gästen beschützen könnt, mein König?« fragte Hagen kalt. »Oder vor Eurem eigenen Weib?«

»Natürlich nicht«, antwortete Gunther unwillig. Er schien den verletzenden Klang von Hagens Worten nicht einmal bemerkt zu haben. »Aber ich weiß nicht, was heute nacht geschieht Es sind mehr Fremde in Worms als je zuvor. Auf jeden meiner Männer kommen drei, die Siegfried verbunden waren. Noch hält sie die Ehrfurcht vor meiner Krone« - er zögerte einen Moment und verbesserte sich - »oder vielmehr die Furcht vor den Schwertern meiner Krieger zurück. Aber ich weiß nicht, was geschieht, wenn sie Siegfrieds Scheiterhaufen brennen sehen.« »Seinen Scheiterhaufen?« fragte Hagen ungläubig. Gunther nickte. »Sie verbrennen ihn, heute nacht, unten im Burghof.« »Aber Siegfried von Xanten ist Christ!« widersprach Hagen heftig. »Er ist getauft!«

»Wie ich!« sagte Gunther heftig. Zur Erklärung fügte er hinzu: »Es war Brunhilds Wunsch, Siegfried auf diese Art unserer Väter zu bestatten, und Kriemhild hat sich ihm nicht widersetzt. Was, glaubst du wohl, wird geschehen, wenn sie Siegfried brennen sehen, und Brunhild mit dem Finger auf dich zeigt und ruft: ›Dort steht Siegfrieds Mörder‹? Sie werden dich in Stücke reißen.«

»Ihr könnt es verbieten«, sagte Hagen. »Es ist eine heidnische Zeremonie. Geht zu Eurem Bischof, der Siegfried getraut hat« Gunther schnaubte. »Er würde gleich mit auf dem Scheiterhaufen landen, würde er Einspruch erheben«, sagte er. »Ich meine es ernst, Hagen. In einer Stunde wird Kriemhild das Feuer entzünden, und wenn du dann noch hier bist, wird der Brand auf ganz Worms übergreifen. Brunhild plant etwas, und es würde mich nicht wundern, gälte es dir.« »Ich bleibe«, sagte Hagen ruhig. »Geht jetzt, Gunther. Geht zu Brunhild und sagt ihr, daß ich dasein werde, wenn sie Siegfried zu Grabe tragen.« »Du... du bist verrückt«, stammelte Gunther.

»Und geht auch zu meinem Bruder und Ortwein und zu allen Euren Männern, die Siegfried gehaßt haben«, fuhr Hagen fort, »und schärft ihnen folgendes ein: Was immer heute nacht geschehen wird, es ist mein ausdrücklicher Wille, daß niemand sich einzumischen hat. Niemand, versteht Ihr?« »Diesen Wunsch werden nicht alle respektieren«, wandte Gunther ein, aber Hagen unterbrach ihn. »Ich sagte nicht, daß es mein Wunsch ist. Gunther von Burgund, sondern mein Wille. Ich befehle es.« Es dauerte einen Moment, bis Gunther begriff. Er wurde blaß. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verließ die Kammer. Hagen hörte ihn einen scharfen Befehl rufen, dann drang noch einmal das Geräusch harter Schritte durch die Tür, als auch die Wache, die seinen Schlaf behütet hatte, abzog. Er war sehr ruhig, als er den Riegel vorlegte, zu seinem Bett zurückging und sich zu entkleiden begann. Die Kälte machte sich unangenehm bemerkbar. Die zahllosen kleinen und größeren Wunden, die er am Morgen davongetragen hatte, schmerzten; einige davon brachen auf und bluteten. Hagen öffnete die Truhe mit seinen wenigen Habseligkeiten und nahm ein kleines, sorgsam in ein Tuch eingewickeltes Bündel hervor. Mit großem Bedacht begann er, jede einzelne seiner Wunden zu reinigen und zu verbinden. Er brauchte lange dazu, und mehr als einmal mußte er innehalten und warten, bis die Schmerzen abgeklungen waren und seine Finger aufhörten zu zittern. Zum Abschluß wusch er sich, so gut es seine verbundenen Arme zuließen. Dann ging er abermals zu seiner Truhe und begann sich anzukleiden.

Er wählte das gleiche Gewand, mit dem er hergekommen war: den einfachen, braunroten Rock eines Kriegers, dazu einen schmucklosen Waffengurt und den zerschrammten, schon vor einem halben Menschenleben unansehnlich gewordenen Schild; keines von den prachtvoll bestickten Kleidern, die ihm Gunther hatte bereitlegen lassen. Nur das Schwert, das in seinem Gürtel blitzte, war jetzt ein anderes. Es war der Balmung. Schließlich streifte er bedächtig die schwarze Augenklappe über und setzte den Helm auf. Er war ganz ruhig. Es war das altbekannte Gefühl, in einen Kampf zu ziehen, wenngleich er wußte, daß es diesmal - sollte er gezwungen sein, das Dämonenschwert aus seinem Gürtel zu ziehen - sein unwiderruflich letzter Kampf sein würde. Er war verletzt und viel zu schwach, es mit Brunhilds Walkürenkriegerinnen aufzunehmen, geschweige denn mit ihr selbst Oder mit Siegfrieds Nibelungen. Der Gang war leer, als er die Kammer verließ und sich auf den Weg nach unten machte. Als er die Treppe erreichte, vertrat ihm ein Schatten den Weg. Mattes Gold blitzte. Hagen legte die Hand auf das Schwert an seiner Seite, als er eine von Brunhilds Walkürenkriegerinnen vermutete. Dann sah er, daß er sich täuschte und es die Walküre selbst war, gerüstet und gewappnet. So wie damals, dachte er, als sie gegen Siegfried antrat »Meine Königin«, sagte er und deutete eine Verbeugung an. Brunhild sah ihm ruhig entgegen. Im schwachen Licht des Ganges war ihr Gesicht nur undeutlich zu erkennen.

»Nehmt die Hand vom Schwert, Hagen«, sagte sie. »Ihr habt von mir nichts zu befürchten. Es gibt nichts, was Ihr mir noch antun könntet« Hagen schwieg.

»Ich will nur eine Antwort von Euch, Hagen, mehr nicht«, fuhr Brunhild fort »Und ich bitte Euch, seid ehrlich.« Sie atmete hörbar aus. »Ist es wahr, was Kriemhild sagte, daß Siegfried sie geliebt hat?« Hagen starrte an der Walküre vorbei ins Leere. Dann nickte er. »Ich glaube, ja.«

»Dann war alles Lüge.«

Hagen überlegte einen Moment. »Nein«, sagte er dann. »Ich glaube nicht, daß Siegfried gelogen hat. Ich glaube, er... er war gar nicht fähig zu lügen.«

»So wie Ihr.«

»So wie ich«, bestätigte Hagen. »Es war wohl so, daß er alles geplant hat, was nötig war, Worms und Burgund in seine Hand zu bringen. Alles bis auf eine Kleinigkeit. Er hat sich in Kriemhild verliebt.«

»Liebe!« Brunhild spie das Wort aus. »Geliebt hat er auch mich. Wenigstens hat er das gesagt!«

»Und es war wahr«, sagte Hagen. »Vielleicht war es gerade das, Brunhild. Daß er zwei Frauen geliebt hat und darum keine von ihnen bekam. Er wollte das alles nicht, glaube ich. Aber er konnte nicht mehr zurück.« »Ihr sprecht sehr sonderbar von einem Mann, den Ihr erschlagen habt«, sagte Brunhild nach einer Weile.

»Muß ich ihn deshalb hassen?« Er blickte nachdenklich zu Boden. »Nein. Ich habe geglaubt, Siegfried zu hassen. Ich wollte ihn hassen. Aber in Wahrheit... in Wahrheit gelang es mir nicht.«

Brunhild antwortete nicht mehr. Als Hagen aufsah, war sie verschwunden. Schließlich setzte Hagen seinen Weg fort.

Das Schweigen und die Stille, die auf dem Hof herrschten, erschienen ihm schon beinahe unnatürlich angesichts der gewaltigen Menschenmenge, die sich dort versammelt hatte. Die zahlreichen Wachen, die Gunther aufgezogen hatte und die keinen Zweifel daran ließen, daß sie nicht zögern würden, nötigenfalls vom Schwert Gebrauch zu machen, mochten das Ihre dazu beitragen. Vergeblich sah Hagen sich nach den elf riesenhaften Gestalten der Nibelungenreiter um. Ihr Fehlen wirkte aus einem unerklärlichen Grund unheimlicher, als wenn sie in ihrer finsteren Bedrohlichkeit gegenwärtig gewesen wären.

Einen Moment lang blieb er noch im Schatten des Tores stehen und blickte auf das Meer von Köpfen hinunter. Und plötzlich begriff er, daß sämtliche Bewohner der Burg - von Gunther und seinen Edlen bis zum geringsten Stallknecht - hier zusammengeströmt waren. Das Haus hinter ihm war leer, ausgestorben, und erst jetzt, im nachhinein, fiel ihm die Stille auf, die in seinen Gängen geherrscht hatte. Warum waren sie hierhergekommen? dachte er.

Nur, um Siegfrieds Verbrennung beizuwohnen? Oder um zu sehen, wie er, Hagen von Tronje, starb? Für viele wäre dies ein Schauspiel, das sie sich insgeheim schon lange gewünscht hatten. Hagen war sich darüber im klaren, daß die meisten von denen, die sich seine Freunde nannten, ihn in Wahrheit haßten; ein Haß, der aus Furcht geboren und das Vorrecht der Schwachen war.

Er straffte die Schultern und trat mit einem kraftvollen Schritt aus dem Schatten des Tores auf den von Fackeln und vielen kleinen Feuern erhellten Hof hinaus.

Obwohl es kaum glaublich schien, wurde es noch stiller. So wie am Morgen in Worms schlug ihm eine Welle des Schweigens entgegen. Hunderte von Gesichtern wandten sich ihm zu, und was er in ihren Augen las, war überall das gleiche. Furcht, Erwartung und eine prickelnde, nur mühsam unterdrückte Vorfreude.

Sein Blick löste sich von den erwartungsvollen Gesichtern und glitt zu dem gewaltigen Scheiterhaufen, der in der Mitte des Hofes, halbwegs zwischen ihm und dem jetzt geschlossenen Burgtor, aufgeschichtet worden war. Siegfrieds Leichnam war bereits darauf gebettet worden. Die Menge wich vor ihm auseinander, als Hagen auf den Hof hinaustrat, bildete eine Gasse, breiter, als nötig gewesen wäre. Was war das? dachte er erschrocken. Woher kam dieser Haß, der ihm auf einmal so geballt entgegenschlug? Zwei von dreien auf dem Hof hatte er einen Gefallen getan mit Siegfrieds Tod. Wieso haßten sie ihn jetzt dafür? Eine Gestalt trat ihm entgegen, als er zehn Schritte gegangen war: Dankwart. Wie Hagen selbst war er in Waffen und trug die einfache Kleidung eines Kriegers, was nicht nur eine Beleidigung des Toten, sondern auch sein eigenes Todesurteil bedeuten mochte, wenn es zum Kampf kam. Aber wenn es wirklich dazu kam, dachte Hagen bitter, würde Dankwart sterben, gleich, ob er seinen Befehl, nicht einzugreifen, befolgte oder nicht Ruhig ging er auf seinen Bruder zu, verharrte einen Moment im Schritt und schüttelte fast unmerklich den Kopf, als Dankwart dazu ansetzte, etwas zu sagen. Sein Bruder verstand. Widerspruchslos trat er zurück, die rechte Hand auf dem Schwertgriff und die Lippen entschlossen aufeinandergepreßt. Hagen fiel auf, daß die Männer in seiner unmittelbaren Nähe vor ihm zurückzuweichen versuchten, was auf dem überfüllten Hof jedoch so gut wie unmöglich war. Die Tatsache, daß sie es versuchten, erfüllte Hagen mit Bitterkeit. Sein Leben lang hatte Dankwart in seinem Schatten gestanden. Ohne ihn wäre Dankwart selbst ein gefürchteter Mann gewesen, berühmt ob seiner Klugheit und gefürchtet ob der Stärke seines Schwertarmes. Aber er hatte nie wirklich eine Chance gehabt, mehr zu sein als eben der Bruder Hagen von Tronjes. Es war nicht richtig, daß er nun auch noch den Haß zu spüren bekam, der ihm selbst galt. Er ging weiter, bis er den Scheiterhaufen erreicht hatte. Der Geruch nach frisch geschlagenem, mit Öl getränktem Holz stieg ihm in die Nase, der Duft kostbarer Öle, mit denen der Tote gesalbt worden war. Er blieb stehen, stricht mit der Linken über die sorgsam aufgeschichteten Stämme und sah in Siegfrieds Gesicht.

Der Nibelunge sah aus, als schliefe er. Das blutbesudelte Gewand war gegen ein blütenweißes getauscht worden. Seine Hände waren auf der Brust gefaltet und hielten ein kleines silbernes Kreuz, und obgleich es fast eine Lästerung angesichts der heidnischen Bestattungszeremonie war, erschien es Hagen doch auf sonderbare Weise passend. Dies, der Scheiterhaufen der alten und das Kreuz der neuen Welt, war Siegfrieds Leben gewesen, und es war kein Zufall gewesen, daß er so starb, wie er gelebt hatte: als ein Mann, der sich niemals wirklich entschieden hatte, zu welcher der beiden Welten er wirklich gehörte. Siegfrieds Gesicht war schön. Unwillkürlich streckte Hagen die Hand aus, um es zu berühren. »Rühr ihn nicht an!«

Die Stimme war leise, nicht viel mehr als ein Flüstern. Hagen zog hastig die Hand zurück.

»Rühr ihn nicht an, Hagen von Tronje«, sagte Kriemhild noch einmal. Hagen erschrak, als er Kriemhild erblickte. Die Menschenmenge hatte sich abermals geteilt, diesmal, um Gunthers Schwester Platz zu machen, aber die Frau, die mit gemessenen Schritten auf ihn zukam, hatte nichts mehr mit der Kriemhild gemein, die er gekannt hatte. Sie trug ein einfaches, weißes Gewand ohne allen Schmuck und Zierat, ausgenommen ein kleines silbernes Kreuz auf der Brust, ähnlich dem, das Siegfried in Händen hielt. Ihr Haar war streng zurückgekämmt, was sie älter aussehen ließ, als sie war. In der rechten Hand trug sie eine brennende Fackel, von der Pech und winzige glühende Funken auf den Boden und den Saum ihres Kleides herabregneten, ohne daß sie es zu bemerken schien. Ihr Blick war starr auf Hagen gerichtet, aber ihre Augen waren leer. »Rühr ihn nicht an, Hagen«, sagte sie zum drittenmal. »Nie wieder, hörst du? Nie wieder sollst du ihn oder mich berühren, oder irgend etwas, was mir gehört.«

Hagen schwieg. Er konnte spüren, wie die Spannung ringsum wuchs. Sie warten, dachte er. Sie warten auf ein Wort Kriemhilds, eine Geste, ein Zeichen. Es wurde noch stiller, als auch der letzte auf dem Hof den Atem anhielt, um Kriemhilds Worten zu lauschen.

»Du bist also gekommen«, sagte Kriemhild. Sie war stehengeblieben, so nahe bei dem Scheiterhaufen, daß Hagen fürchtete, ihre Fackel könnte vorzeitig das Holz und sie selbst entzünden. »Ich war es Siegfried schuldig«, sagte Hagen leise. »Schuldig?« Kriemhild lächelte. »Schuldig«, sagte sie noch einmal, aber jetzt mit anderer Betonung. »O ja, du warst es ihm schuldig. Ich habe nicht daran gezweifelt, daß du dem Mann, den du hinterrücks ermordet hast, die letzte Ehre erweisen würdest« Sie lachte; ein Laut, der wie ein unterdrückter Schrei klang und Hagen schaudern ließ. »Es... es war anders, als du glaubst, Kriemhild«, flüsterte er. Er wollte sich nicht verteidigen, weder jetzt noch irgendwann. Aber er war unfähig, die Worte zurückzuhalten.

»Ich weiß, wie es war«, erwiderte Kriemhild kalt »Ich habe die Wunde in seinem Rücken gesehen, Hagen von Tronje.« Sie preßte die Lippen aufeinander. Ihre Hand, die die Fackel hielt, zitterte. »Ihr habt ihn ermordet«, flüsterte sie. »Ich hätte Euch vergeben können, hättet Ihr ihn wirklich in ritterlichem Zweikampf besiegt Aber Ihr habt ihn hinterrücks erstochen wie ein gemeiner Mörder.« Ein dumpfes Murmeln erhob sich aus der Menge. Hagens Blick war unverwandt auf Kriemhild gerichtet, aber er sah trotzdem, wie sich Hände auf Schwerter und Dolche senkten, spürte, wie sich die Menge spannte. Auch seine Hand kroch zum Schwert, obwohl er mit verzweifelter Kraft versuchte, die Bewegung zu unterdrücken.

In Kriemhilds Augen blitzte es auf. »Keine Sorge, Hagen von Tronje«, sagte sie. »Ihr braucht Eure Waffe nicht zu ziehen. Euch wird nichts geschehen. Nicht hier und nicht jetzt Ihr steht unter meinem Schutz, hört Ihr? Und auch ihr anderen«, fügte sie mit erhobener, weiterhin schallender Stimme hinzu. »Merkt es euch gut: Niemand wird Hagen von Tronje auch nur ein Haar krümmen. Ich, Siegfrieds Weib, verbiete es euch. Ich will, daß er lebt«

Sie lachte, jetzt wieder leise und an ihn gewandt. »Sorgt Euch nicht, Hagen. Euch wird nichts geschehen. Nicht heute.«

Hagen wollte antworten, aber in diesem Moment erscholl vom anderen Ende des Hofes ein schmetternder Posaunenstoß, und abermals erhob sich aus der Menge ungläubiges, erschrockenes Murmeln und Raunen. Hagen wandte sich um, konnte aber im ersten Augenblick nichts erkennen als quirlende Bewegung und die zuckenden roten Lichter der Fackeln. Metallischer Hufschlag näherte sich, und plötzlich wurden Schreie laut; die Menschenmenge stob erschreckt auseinander, bildete zum drittenmal eine breite, quer über den Hof führende Gasse. Die einzige, die sich nicht bewegte, war Kriemhild. Über den Köpfen der auseinanderweichenden Menge blitzte es golden und rot auf. Ein Chor entsetzter Schreie und Verwünschungen eilte den drei Reiterinnen voraus, die im rasendem Galopp über den Hof gesprengt kamen, goldenen Dämonen gleich, die ihre Pferde rücksichtslos durch die Menge trieben. Es mußte Verletzte und vielleicht Tote geben, dachte Hagen entsetzt Aber nicht einer von Gunthers Kriegern rührte sich, niemand machte auch nur den Versuch, Brunhild und ihre beiden Begleiterinnen aufzuhalten. Und auch er selbst regte sich nicht, sondern stand wie gelähmt, bis die Walküre herangekommen war und ihr Pferd mit einem harten Ruck am Zügel zum Stehen brachte. Es war ein Moment, den Hagen für den Rest seines Lebens nicht vergessen sollte. Er wußte nicht, was er fühlte, als er Brunhild und ihre beiden Begleiterinnen wie furchtbare Rachegeister vor sich aufragen sah. Er wußte nicht, was er erwartet hatte. Aber nichts von allem, was möglich gewesen wäre, geschah. Einen Augenblick lang starrte die Walküre auf ihn herab, und obwohl sie jetzt wie ihre Kriegerinnen eine goldene Maske trug, die ihr Gesicht vollkommen bedeckte, spürte Hagen ihren Blick wie die Berührung einer glühendheißen Hand. Brunhild zog das Schwert, hielt die Klinge mit der linken hoch über den Kopf und streckte die freie rechte Hand fordernd in Kriemhilds Richtung aus. Ohne die Walküre anzusehen, trat Kriemhild einen halben Schritt zurück und reichte Brunhild die Fackel. Die blakenden Flammen streiften Brunhilds Arm; sie schien es nicht zu spüren. Ihre linke Hand hielt das Schwert noch immer hoch über den Kopf. Die Klinge zitterte leicht »Bei allen Göttern - was habt Ihr vor?« rief Hagen. Erschrocken hob er die Hand und wollte die Walküre zurückhalten, aber eine von Brunhilds Kriegerinnen lenkte ihr Pferd zwischen ihn und ihre Herrin und trieb ihn selbst mit einem derben Schildstoß zurück.

Hagen war nicht der einzige, den die Reiterinnen aus der unmittelbaren Nähe des Scheiterhaufens vertrieben und ein Stück zurückgedrängt hatten. Auch Kriemhild war bis hinter die unsichtbare Grenze zurückgewichen, die die Reiterinnen rings um den gewaltigen Holzstapel gezogen hatten. Kriemhild blickte Hagen noch immer unverwandt an. Ein düsterer, böser Triumph glomm in ihren Augen. Brunhild hatte ihr Pferd auf die andere Seite des Scheiterhaufens gelenkt. Das Tier tänzelte auf der Stelle, warf den Kopf hin und her und versuchte immer wieder auszubrechen, aber Brunhild brachte es mit einem festen Ruck am Zaumzeug zur Ruhe, zwang es, den begonnenen Kreis zu vollenden, und hielt erst an, als sie am Kopfende von Siegfrieds aufgebahrtem Leichnam angelangt war. Ihre beiden Kriegerinnen folgten ihrer Herrin und lenkten dann ihre Tiere neben sie. Eine Zeitlang verharrte die Walküre in völliger Reglosigkeit, und ihre Vasallinnen mit ihr.

Dann senkte Brunhild ihr Schwert, legte die Waffe auf Siegfrieds Brust, indem sie den Griff wie ein zweites, barbarisches Kreuz in seine über dem silbernen Kruzifix gefalteten Hände schob, hob die lodernde Fackel hoch über den Kopf, hielt sie eine Sekunde reglos erhoben - und stieß das brennende Holz mit aller Kraft in den Scheiterhaufen. Funken stoben, brennende Holzsplitter flogen wie kleine Feuerkäfer empor, dann leckte eine erste, noch winzige Flamme aus dem Scheiterhaufen, sprang auf kleinen lodernden Füßen weiter, breitete sich aus ... Für einen kurzen Moment schien der gewaltige Holzstapel wie unter einem unheimlichen, inneren Licht aufzuglühen.

Dann fing das ölgetränkte Holz mit der Wucht einer Explosion Feuer. Flammen schössen zehn, fünfzehn Fuß weit in die Höhe. Ein dumpfes, machtvolles Krachen und Splittern ertönte, und dann war alles voll Rauch und stiebenden Funken und gleißendem licht. Ein hundertstimmiger entsetzter Schrei ließ den Hof erzittern. Rings um den brodelnden Höllenkessel brach Panik aus, als Männer und Frauen vor der grausamen Hitze zurückzuweichen versuchten und doch nicht von der Stelle kamen. Hagen sah und hörte von alledem nichts. Er spürte auch die Hitze nicht, die wie ein glühender Atem sein Gesicht rötete und sein Haar und seine Brauen verbrannte. Er stand da, betäubt, starr, gelähmt von dem entsetzlichen Anblick, der sich ihm bot, und starrte mit tränenden Augen in die Flammen. Die Gestalten von Brunhild und ihren beiden Kriegerinnen waren als zuckende, finstere Schatten hinter der Feuerwand auszumachen, hoch aufgerichtet in ihren Sätteln sitzend, vernebelt vom schwarzen Rauch, der die Flammen floh. Die Hitze dort drinnen mußte Gold zum Schmelzen bringen, aber die drei Reiterinnen standen reglos, auch dann noch, als das Feuer sie erfaßte, Dämonen gleich, eingehüllt in lodernde Flammen.

Irgendwann, nach Ewigkeiten, merkte Hagen, daß er nicht allein war. Der Hof begann sich zu leeren. Hitze und Rauch und wohl auch das Entsetzen über das grausige Schauspiel hatten die Menge nach und nach fluchtartig zerstreut. Hinter ihm stand Kriemhild.

Der Widerschein des Feuers lag auf ihrem Gesicht. Ihr Haar war versengt, ihr Kleid voll schwarzer, rußiger Flecken, ihr Schleier angesengt und zerfetzt »Nun, Hagen?« sagte sie. »Seid Ihr zufrieden?« Ihre Stimme war fremd und unerreichbar. »War es das, was Ihr wolltet? Ihr und mein Bruder? Ihr habt ihn vom ersten Tag an gehaßt, so, wie Ihr Brunhild vom ersten Moment an gefürchtet habt. Jetzt sind sie tot, beide.« Hagen schwieg. Für einen Moment war er versucht, Kriemhild die Wahrheit über Siegfrieds Tod zu sagen. Aber er verdrängte den Gedanken sofort wieder. Es hätte nichts mehr genutzt. Die Zeit der Wahrheit für ihn war endgültig vorbei. Er hatte gelogen, dies eine, einzige Mal, und diese Lüge veränderte alles. »Sie hat ihn geliebt, Hagen«, sagte Kriemhild. »Mehr, als ich ihn jemals lieben konnte.« »Ich weiß«, sagte Hagen. »Und Ihr habt ihn getötet Ihr habt sie beide getötet. Ihr werdet dafür bezahlen, Hagen. Einen höheren Preis, als Ihr Euch jemals denken könnt.« Hagen zog dem Balmung aus dem Gürtel und hielt ihn Kriemhild hin, aber sie folgte der wortlosen Aufforderung nicht, beachtete das Schwert nicht einmal. Sie schüttelte den Kopf. »O nein, Hagen. Schwert und Dolch oder Speer, das sind deine Waffen. Ich kann und will sie nicht führen. Und ich will nicht deinen Tod. Du irrst dich. Du sollst leben, Hagen, noch lange. Ich werde dir alles nehmen, was du hast. Alles, was du liebst. Du sollst alles verlieren, was du jemals besessen hast. Ich werde dir jeden Freund nehmen. Ich werde dafür sorgen, daß dich die hassen, die du liebst, daß die Häuser, die dir offenstanden, verschlossen sind. Haß und Furcht werden alles sein, was dir entgegenschlägt. Du sollst leiden. Ein Leben lang leiden. Das ist meine Waffe, Hagen. Und ich schwöre dir, daß ich sie so gut zu führen weiß wie du deine Klinge.«

Und damit wandte sie sich um und ging ohne ein weiteres Wort. Hagen blickte ihr nach. Noch lange, nachdem sie gegangen war.

ENDE

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