Obwohl er müde war, fand er in dieser Nacht keinen Schlaf. Alberich hatte ihn in ihre Unterkunft gebracht; eine fensterlose, rechteckige Kammer, die er sich zwar mit Dankwart teilen mußte, die aber nicht weniger wohnlich eingerichtet war als die Gunthers. Obgleich ihn Dankwart mit Fragen bestürmt hatte, hatte er kaum geantwortet. Er hatte sich nur notdürftig von ihm seine Wunde versorgen lassen und sich dann halb angekleidet auf seinem Lager ausgestreckt und so getan, als schliefe er. Aber er schlief nicht Gunthers Worte klangen ihm noch immer in den Ohren, und das Entsetzen über sie stellte sich erst jetzt richtig ein. Nimm dein Schwert und erschlage diesen Hund... Die eiskalte Ruhe, die ihn zuvor erfüllt hatte, war einem tiefen, schmerzlichen Erschrecken gewichen. Nimm dein Schwert und erschlage ihn.
Warum jetzt? dachte Hagen bitter. Nach den zahllosen Vorwänden, die Siegfried ihnen geliefert hatte - warum ausgerechnet jetzt? Weil Siegfried durch den geplanten Schwindel Gunther nun endgültig in der Hand haben würde? Weil Gunther es nicht ertrug, den Mitwisser seiner verlorenen Ritterehre um sich zu haben?
Irgendwann, zu einer Stunde, in der über dem Isenstein schon wieder die Sonne aufgehen mochte, fiel er doch in einen unruhigen, von Träumen heimgesuchten Schlaf, aus dem ihn Dankwart durch rohes Rütteln an der Schulter weckte.
»Brunhild erwartet uns«, sagte Dankwart müde und abgespannt Hagen fuhr hoch und blieb einen Moment reglos sitzen, weil ihn von der plötzlichen Bewegung schwindelte. Ein schlechter Geschmack war in seinem Mund, und sein Herz schlug schnell. Er atmete einige Male langsam und tief ein und wartete, bis sich sein Herzschlag beruhigt hatte. Dann stand er auf und spülte den pelzigen Geschmack auf seiner Zunge mit einem Schluck Wein hinunter. »Laß uns gehen«, sagte er.
Dankwart rührte sich nicht. »Ich möchte wissen, was du mit Gunther gesprochen hast«, sagte er. Hagen seufzte. Er hatte keine Lust, das Gespräch vom vergangenen Abend fortzusetzen, aber er kannte seinen Bruder gut genug, um zu wissen, daß er keine Ruhe geben würde. »Über dies und das«, antwortete er ausweichend. »Für wie dumm hältst du mich«, sagte Dankwart aufgebracht. »Willst du mir weismachen, Gunther hätte dich und mich hierhergerufen, nur um mit dir über dies und das zu reden? Ihr habt über Siegfried gesprochen.« »Sicher«, sagte Hagen. »Über ihn auch.« »Du verschweigst mir etwas!«
»Ja«, antwortete Hagen. »Das tue ich. Und nun komm. Brunhild wartet« Als sie die Kammer verließen und auf den Gang hinaustraten, tauchten goldgepanzerte Kriegerinnen neben ihnen auf, so daß Dankwart nichts anderes übrigblieb, als ihnen schweigend zu folgen. Aber Hagen wußte, daß sein Bruder es nicht dabei bewenden lassen würde. Brunhild erwartete sie in ihrem Thronsaal. Der Raum war nur wenig größer als das Gemach Gunthers und völlig schmucklos eingerichtet Immerhin war es bis jetzt der erste Raum in dieser finsteren Burg, der eine Fensteröffnung hatte, ein schmales Viereck, durch das ein Streifen grauverhangenen Himmels zu sehen war und das vom licht der Fackeln und Kohlebecken flackernd überstrahlt wurde.
Brunhild saß auf einem Thron, der seitwärts zur Tür stand, so daß ihr Gesicht nur als schattiges Profil gegen das Grau des Fensters auszunehmen war. Sie gab durch keine Bewegung zu erkennen, ob sie Hagens und Dankwarts Eintreten bemerkt hatte.
In drei Schritten Abstand vom Thron blieben sie stehen. Hagen spürte den Blick seines Bruders und auch die Unruhe, die ihn erfüllte, aber Dankwart regte sich nicht, sondern verharrte ebenso starr wie die Walküre selbst.
»Geht hinaus, Dankwart von Tronje«, sagte Brunhild unvermittelt Hagen sah aus dem Augenwinkel, wie Dankwart zusammenfuhr, aber sein Respekt vor der Walküre war größer als seine Verärgerung; er zögerte einen Moment, dann senkte er das Haupt und ging rückwärts aus der Kammer. Eine der beiden Kriegerinnen folgte ihm, während die andere die Tür schloß und mit vor der Brust verschränkten Armen davor Aufstellung nahm. Obwohl ihr Gesicht hinter einer goldenen Halbmaske verborgen war, spürte Hagen, daß sie ihn scharf beobachtete und ihren Blicken keine seiner Bewegungen entging. Vielleicht nicht einmal seine Gedanken. Brunhild drehte den Kopf. »Ängstigt Euch meine Kriegerin? Ich kann sie hinausschicken, wenn Ihr es wünscht.« Hagen schüttelte den Kopf und verneinte. »Aber ihre Anwesenheit stört Euch«, stellte Brunhild fest »Was ist es, was Euch stört? Der Umstand, daß sie jedes Wort hören wird, das wir sprechen, oder die Brüste, die sich unter ihrem Harnisch verbergen?« Sie lachte spöttisch. »Verzeiht mir, Hagen von Tronje. Aber ich vergaß, daß Frauen im Leben eines Mannes wie Ihr eine ebenso geringe Rolle spielen wie Männer in meinem.«
»Eine geringere, meine Königin«, erwiderte Hagen mit einer leichten Verbeugung, die es ihm ermöglichte, Brunhilds Blick auszuweichen, ohne unhöflich oder schwach zu erscheinen. »Denn ich geleite die Frauen, die meinen Weg kreuzen, nicht nach Walhalla.«
Wieder lachte sie, leise diesmal, und hob die linke Hand. Hagen hörte, wie die Kriegerin hinter ihm aus ihrer Starre erwachte und den Raum verließ, so daß er nun mit Brunhild allein war.
»Ihr seid ein sonderbarer Mann, Hagen von Tronje«, sagte Brunhild. »Ihr nennt mich, die Ihr noch nie gesehen habt, Eure Königin, und im gleichen Atemzug beleidigt Ihr mich.« Sie winkte ab, als Hagen antworten wollte. »Widersprecht mir nicht, Hagen, denn dies wäre eine neue, schwere Beleidigung.« Hagen senkte den Blick. »Verzeiht, meine Königin«, sagte er. Brunhild nickte leicht »Ich nehme Eure Entschuldigung an, Hagen von Tronje«, sagte sie. »Kommt näher - oder zieht Ihr es vor, mit einem Schatten zu reden?«
Einen Moment lang war Hagen verwirrt, aber dann begriff er, daß die Anordnung von Thron und Fenster, die Fackeln, das Spiel von Licht und Dunkel, daß nichts davon Zufall war. Statt hinter Zepter und Krone oder dem geschlossenen Visier eines Helmes verbarg sich Brunhild hinter einem Schleier aus tausend Schatten. Die Aufforderung, hinter diesen Schleier zu blicken, mußte eine große Ehre bedeuten. Hagen war sicher, daß sie Gunther nicht zuteil geworden war.
Zögernd trat er näher. Abermals hob Brunhild die Hand, und bei seinem nächsten Schritt teilte sich der Schleier, und zum ersten Male konnte er Brunhilds Gesicht und ihre Gestalt erkennen.
Brunhild war eine Frau von altersloser Schönheit, ganz anders als die Lieblichkeit und zartgliedrige Zerbrechlichkeit Kriemhilds, groß und schlank, mit dunklem, von einem schmucklosen beinernen Kamm zurückgehaltenem Haar. Es war nicht die Schönheit eines jungen Mädchens, sondern die einer Göttin. Brunhild ließ ihm Zeit, sie zu betrachten, und nutzte ihrerseits die Gelegenheit, ihn mit der gleichen unverhohlenen Neugier zu mustern. Es dauerte lange, dies gegenseitige Betrachten, und Hagen durchzuckte der Gedanke, daß sie sich in gewisser Weise ebenbürtig waren. Schließlich nickte Brunhild wie zur Bestätigung. »Ich habe viel von Euch und Euren Taten gehört, Hagen von Tronje«, sagte sie.
Sie schwieg einen Moment und fuhr dann in freundlichem, mehr zu sich selbst gewandtem Ton fort: »Was ich gehört habe, hat mich an einen Mann denken lassen, der mir sehr ähnlich sein muß, und ich sehe, daß es stimmt Wir hätten gut zueinander gepaßt, glaube ich. Schade, daß nicht Ihr es seid, der hergekommen ist, um sich den Prüfungen zu stellen, sondern dieser Narr Gunther. Wer weiß, vielleicht hättet Ihr sie sogar bestanden.« Sie seufzte. »Aber Ihr wäret nicht Ihr, wolltet Ihr es, und so muß ich Gunther töten, wie alle anderen vor ihm.« Hagen war verwirrt. Es war eine völlig neue Erfahrung für ihn, Worte aus dem Munde einer Frau zu hören, die allenfalls umgekehrt er zu einem Weib gesprochen hätte.
»Ihr scheint... sehr sicher zu sein, Gunther von Burgund besiegen zu können«, sagte er stockend. »Sicher?« Brunhild lächelte. »Ich bin nicht sicher, Hagen. Ich weiß es. Er ist nicht der erste, und er wird nicht der letzte sein, der hierherkommt, um sein Leben zu lassen. Wäre ein Mann wie Ihr gekommen...« »Oder Siegfried«, sagte Hagen.
Brunhilds Augen verdunkelten sich. Plötzlich sah Hagen etwas Neues in ihnen; ein Mißtrauen, das bisher nicht dagewesen war. »Begeht nicht den Fehler, Gunther von Burgund zu unterschätzen«, sagte er ablenkend. »Sein Schwert ist beinahe so gefürchtet wie das meine.« »Und doch werde ich ihn töten«, sagte Brunhild ruhig. »Und das ist auch der Grund, weshalb ich Euch rufen ließ.« Sie beugte ihr Gesicht zu seinem. »Ihr habt Gunther von Burgund die Treue geschworen«, fuhr sie fort. »Aber in weniger als einer Stunde wird er sterben, hier und von meiner Hand.« Sie zögerte einen Moment, dann fragte sie: »Was werdet Ihr tun, Hagen?«
Die Frage überraschte ihn; vielleicht nur deshalb, weil er sich bis zu diesem Moment mit aller Macht dagegen gewehrt hatte, darüber nachzudenken. Gunthers Tod war etwas jenseits aller Vorstellbarkeit »Ich will wissen, woran ich mit Euch bin, Hagen«, sagte Brunhild, da Hagen schwieg. »Ihr seid Gunthers Gefolgsmann und Freund, und Ihr seid ihm so treu wie meine Kriegerinnen mir. Ich will kein Blutbad unter meinen Kriegerinnen, wenn Gunther von meiner Hand stirbt. Und ich will Euch nicht töten müssen.«
Hagen versteifte sich. »Ihr habt kein Recht, so zu reden«, sagte er. »Gunther kam aus freien Stücken hierher. Und er kennt die Gefahr.« »Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
»Mein Schwert steht zwischen Gunther und jedem, der ihm Schaden zufügen will«, sagte Hagen. »Vor sich selbst vermag es ihn nicht zu schützen. Aber Ihr werdet ihn nicht töten.«
Brunhild nickte wider Erwarten. »Das ist eine Antwort, mit der ich mich zufriedengeben will«, sagte sie und fügte lächelnd hinzu: »Ich bin froh, mich nicht in Euch getäuscht zu haben, Hagen.« Sie lehnte sich wieder zurück, so daß ihre Schultern und ihr Haar mit dem schwarzen Holz des Thronsessels zu verschmelzen schienen. »Und nun geht«, sagte sie. »Es ist nicht mehr viel Zeit, bis ich Gunther gegenübertreten werde, und es sind noch Vorbereitungen zu treffen.«