7

Der Sommer war gekommen und wieder gegangen, und wieder hatte der Winter das Land mit seinem eisigen Hauch und der Stille frisch gefallenen Schnees in Besitz genommen, ehe er zögernd und - wie zum Ausgleich für den zeitigen Einbruch des Frühlings im letzten Jahr - sehr spät dem ersten warmen Hauch des Frühjahrs zu weichen begann. Aber noch ließ sich der Frühling nur ahnen, noch war es, gerade hier oben auf den Mauern, wo es keinen Schutz vor dem Wind und kein wärmendes Feuer gab, klirrend kalt, und das rauhe Holz des Wehrgangs war mit einem glitzernden Eispanzer überzogen, so daß man achtgeben mußte, wohin man seine Schritte lenkte.

Hagen stützte sich schwer auf die vereiste Mauerkrone. Der Wind spielte mit seinem Haar, das heute nicht von einem Helm bedeckt war, und die Kälte war trotz des schweren wollenen Mantels und des gegerbten Schaffelles, das er zusätzlich darübergeworfen hatte, längst in seine Glieder gekrochen und machte sie schwer und taub. Sein Atem schlug sich in Form kleiner, regelmäßiger Dampfwölkchen auf seinem Gesicht nieder, und seine Finger kribbelten trotz der schweren Handschuhe vor Kälte. Er war hier heraufgekommen, um nach Dankwart und Ortwein Ausschau zu halten, die zusammen mit Siegfried und einer Handvoll seiner Begleiter über Land geritten waren und eigentlich schon am vergangenen Abend hätten zurückkehren sollen. Doch die einzige Spur von Leben, die sich ihm zeigte, war ein Schiff, das eine Pfeilschußweite hinter den Dächern der Stadt auf dem Fluß dahinglitt. Hagen beobachtete es schon eine geraume Weile; in der weißüberzuckerten Landschaft rechts und links des Rheines war sein gemächliches Dahintreiben die einzige Bewegung, beinahe die einzige Spur von Leben.

Der Kahn bewegte sich langsam, fast träge. Der Wind war im gleichen Maße, in dem die Sonne den Himmel im Osten erst grau und dann rot färbte, abgeflaut, so daß das große, braunweißgestreifte Segel schlaff von den Rahen hing und nur dann und wann das Klatschen des von der Nässe schwer gewordenen Segeltuches durch das Wispern der Wellen drang. Die beiden Ochsen, die am Ende der straffgespannten Seile auf dem Treidelpfad zogen, vermochten den breiten, bis zum Bersten beladenen Rumpf des Kahnes kaum gegen den Sog der Strömung von der Stelle zu bewegen. Ab und zu ließ eines der Tiere ein unruhiges Brummen hören, aber ihre Treiber knallten unbarmherzig mit den Peitschen, wenn sie auch nur die Köpfe senkten, um an einem der kärglichen Grasbüschel zu rupfen, die rechts und links des schlammigen Pfades durch den Schnee lugten und das eintönige Weiß des Ufers mit Flecken von Braun und Grün auflockerten. Die Luft war sehr klar, aber trotzdem mit einer Art ungreifbarem Nebel durchsetzt, und anders als die Geräusche, die beinah unnatürlich weit zu vernehmen waren, schien alles Sichtbare verschwommen und unklar. Die Gestalt des Schiffers auf dem Deck war nicht mehr als ein verschwommener blasser Schatten gegen das graue Band des Flusses, und seine Stimme wurde fast vom Flüstern des Wassers verschluckt.

Hagen hob die Hand und erwiderte den Gruß des Mannes, als dieser der Burg zuwinkte; ein Gruß ohne bestimmtes Ziel, denn gegen das Licht der noch tiefstehenden roten Sonne konnte Worms nicht mehr als ein mächtiger schwarzer Schatten sein, Hagen in seinem dunklen Umhang ein Teil desselben. Der Kahn hatte die Landungsstege passiert und bewegte sich jetzt langsam weiter nach Süden, den Rhein hinauf und in wärmere Gefilde. Er hatte nicht angehalten wie die zahllosen anderen Lastkähne, die Worms in den vergangenen Tagen und Wochen angelaufen hatten, sondern fuhr weiter, und Hagen überlegte kurz, woher er gekommen war und was sein Ziel sein mochte. Der lange Winter hatte auch die Schifffahrt stark beeinträchtigt, und als das Eis endlich aufgebrochen und der Fluß wieder schiffbar geworden war, waren die Boote herbeigeströmt, um den unersättlichen Hunger der vom Winter gebeutelten Stadt wenigstens notdürftig zu stillen. Auch die Speicher und Keller von Worms waren leer, um so mehr, als die Anwesenheit des Xanteners die doppelte Zahl von Besuchern und Gästen angelockt hatte. Hagen löste sich vom Anblick des Flusses, drehte sich um und blickte nachdenklich auf den Hof hinunter. Es war nicht nur ein sehr langer und harter Winter gewesen, der hinter ihnen lag, sondern auch einer der unruhigsten, an die er sich erinnern konnte. Die Burg sah mitgenommen aus, müde wie ein Krieger, der zu lange im Feld gewesen war: nicht verwundet, aber grau und abgekämpft und mit zahllosen Kratzern und Scharten bedeckt. In den Ritzen und Spalten der grauen Wehrmauern schimmerte Eis wie weißes Pilzgeflecht, und auf dem Hof lagen Schnee und brauner, krumiger Schlamm. Es war, als duckte sich die Burg unter dem tiefhängenden Himmel. Der gedämpfte Klang eines Homes ließ Hagen aus seinen Gedanken schrecken. Er sah auf und blickte nach Norden, darauf gefaßt, ein Dutzend Reiter über den Hügeln am Rheinufer auftauchen zu sehen; aber da war nichts. Hagen hielt schützend die Hand über die Augen, um zum Turm hinaufzuschauen, von dem das Signal gekommen war. Er konnte die Posten gegen das grelle Licht der Morgensonne nicht erkennen, aber das Hornsignal wiederholte sich. Doch als er schließlich nach Osten blickte, gewahrte Hagen eine Anzahl dunkler Punkte im Schnee, die rasch näher kamen. Sie bewegten sich querfeldein, den Bogen, den die halb verschneite Straße schlug, über den Acker abschneidend. Es waren zwei Reiter mit vier Pferden, von denen zwei als Packtiere dienten: ein Zeichen dafür, daß sie von weit her kamen; weit von jenseits der Grenzen Burgunds. Reiter und Tiere wirkten erschöpft. Hagen verließ seinen Posten auf der Mauer, eilte - vorsichtig, um nicht auf den vereisten Stufen auszugleiten - die Treppe zum Hof hinunter, wandte sich zum Tor und erreichte es fast zur gleichen Zeit wie die beiden Fremden. Sein erster Eindruck war richtig gewesen: sowohl die Männer als auch ihre Tiere befanden sich in denkbar schlechtem Zustand. Die Zugbrücke war heruntergelassen, und auch die beiden Flügel des mächtigen Eichentores standen weit offen; das Fallgitter war hochgezogen, und seine Spitzen lugten wie rostige Zähne eines klapperigen Eisengebisses aus dem Torbogen. Der Wind war hier unten fast noch unangenehmer als oben auf der Mauer; er fuhr durch das Tor wie durch eine Schleuse herein, und Hagen senkte den Kopf, um sich dagegen zu stemmen. Die Reiter brachten ihre Tiere erst zum Stehen, als die beiden Wachen am Tor vortraten und die Speere kreuzten. Die beschlagenen Hufe der Pferde hämmerten dumpf auf dem Holz; die Tiere waren unruhig, ihre Leiber dampften in der Kälte, und das offenstehende Tor und die Geräusche und Gerüche der Burg verhießen ihnen die Nähe von Ställen und Futter. Es kostete die Reiter sichtlich Mühe, die Pferde zum Anhalten zu zwingen.

Hagen blieb im Scharten des Torbogens stehen, um die Fremden einen Moment in Ruhe betrachten zu können, ohne selbst gesehen zu werden. Eine der Wachen trat den Männern entgegen und richtete das Wort an sie; bestimmt, aber mit der Fremden gegenüber gebotenen Höflichkeit. »Was ist Euer Begehr, Herren?« fragte er. »Wer seid Ihr, und was führt Euch nach Worms?«

»Wir haben eine Botschaft für Gunther, den König von Burgund. - Für ihn allein«, antwortete einer der Reiter; in schärferem Ton, als Hagen angemessen schien. Es war nicht nur die Erschöpfung, die den Mann ungeduldig werden ließ, das spürte Hagen. Die beiden Reiter kamen nicht als Freunde. Hagen verließ den Schatten des Tores, sandte die Wachen mit einem Wink auf ihre Posten zurück und trat den Reitern entgegen. Die Pferde stampften, ihr Atem ging rasselnd, ihre Reiter mußten sie gnadenlos gehetzt haben.

Hagen legte einem der Tiere die Hand auf die Nüstern, streichelte es beruhigend und sah fragend zu seinem Reiter auf. Der Mann war sehr groß und so breitschultrig, daß er beinahe bucklig wirkte, und seine Hände, die trotz der beißenden Kälte unverhüllt waren, schienen kräftig genug, eine Lanze zu zerbrechen.

»Nun, Ihr Herren«, fragte er betont freundlich, fast heiter. »Ist es dort, wo Ihr herkommt, nicht üblich, die Frage nach dem Woher und nach dem Auftrag zu beantworten?«

Die Männer schwiegen, und Hagen merkte, wie ihre Anspannung wuchs. Sie waren nervös. Und er glaubte zu spüren, daß sie Furcht hatten. Furcht wovor?

»Die Tore von Worms stehen jedem offen«, fuhr Hagen fort. »Jedem, der in Freundschaft kommt oder der Hilfe bedarf.« Er trat zurück, machte eine einladende Bewegung mit der Hand und deutete eine Verbeugung an. »Nennt Eure Namen und Euer Begehr und seid unsere Gäste.« »Wir bringen eine Botschaft für Gunther von Burgund«, erwiderte der breitschultrige Reiter wie zuvor.

»Sagt sie mir«, verlangte Hagen. »Ich werde Gunther berichten, daß Boten für ihn eingetroffen sind. Was ist das für eine Botschaft, die Ihr bringt?«

»Sie ist für die Ohren des Königs bestimmt, nicht für die eines Knechtes«, schnappte der andere. Er versuchte, Hagens Hand beiseitezuschieben, aber die Finger des Tronjers hielten das Zaumzeug des Pferdes eisern fest. »Wer bist du, daß du es wagst, einen Boten aufzuhalten, der wichtige Kunde für deinen König bringt?«

Hagen sah aus den Augenwinkeln, wie sich die beiden Torwachen spannten, brachte sie aber mit einer Geste zur Ruhe. »Nehmt an«, sagte er, noch immer lächelnd, »ich sei sein Waffenmeister. Und vielleicht sein Freund.« Erschrecken zuckte über das Gesicht des Reiters. Seine Haltung änderte sich nicht, trotzdem spürte Hagen, wie seine Unsicherheit wuchs. Und seine Angst. »Sein Waffenmeister?« entfuhr es ihm. »Ihr seid ... Hagen von Tronje?« Es gelang ihm nicht ganz, seine Überraschung zu verbergen: Dieser unscheinbare Mann, der weder überdurchschnittlich groß noch besonders muskulös war und der in seinem einfachen braunen Mantel und dem übergeworfenen rohgegerbten Schaffell noch unscheinbarer, eher wie ein Stall - als wie ein Waffenmeister wirkte, sollte der gefürchtete Hagen von Tronje sein? »Ja«, sagte Hagen. »Nun, vertraut Ihr mir jetzt?« Der Reiter klopfte nervös die Mähne seines Pferdes. Der Blick, mit dem er Hagen ansah, war fast flehend. »Ich... kann es nicht, Hagen«, sagte er. »Ich habe geschworen, nur Gunther von Burgund selbst meine Botschaft zu überbringen. Niemandem sonst«

Hagen blickte einen Moment an den Reitern vorbei auf den Fluß hinab, als gäbe es dort etwas Besonderes zu sehen. »Geschworen«, wiederholte er. »Nun, wenn Ihr einen Eid abgelegt habt, so will ich Euch nicht zwingen, ihn zu brechen. Ihr und Euer Begleiter seid willkommen in Worms.« Er trat beiseite. »Übergebt den Knechten Eure Tiere, und laßt Euch selbst einen Becher heißen Met geben, während ich zum König gehe und Euer Kommen ankündige.«

Der Reiter zögerte. Hagens unerwartet freundliche Art verwirrte ihn. »Oder ist Eure Botschaft von so großer Dringlichkeit, daß Ihr nicht Zeit hättet, Euch zu säubern und frische Kleider anzulegen, ehe Ihr vor unseren König tretet?« fügte Hagen hinzu. »Wenn es Euer Wunsch ist, könnt Ihr auch eine Weile ausruhen. Ihr müßt erschöpft sein.« Der Reiter nickte krampfhaft »Wir sind ... lange geritten«, sagte er. »Aber unsere Nachricht ist dringend, Hagen von Tronje. Es ist gut möglich, daß das Leben vieler tapferer Männer davon abhängt, ob Euer König sie hört oder nicht.«

Hagen blickte ihn prüfend an, und der andere hielt seinem Blick stand. Hagen nickte.

»Dann wollen wir keine Zeit verlieren. Folgt mir. Die Wachen werden sich um Eure Tiere und Euer Gepäck kümmern.« Die beiden Reiter saßen wortlos ab. Der zweite hatte bisher keinen Laut von sich gegeben; vielleicht war er einfach zu erschöpft, um Kraft zum Reden aufzubringen.

Der breitschultrige Hüne trat an Hagen vorbei und sah sich mit unverhohlener Neugier auf dem Innenhof um, während sein etwas gedrungenerer Begleiter sich noch am Sattelzeug zu schaffen machte und ein längliches, zum Schutz vor Nässe in gegerbtes Ziegenleder eingeschlagenes Bündel hervorholte.

Hagen beobachtete den ersten scharf. Der Blick, mit dem er sich umsah, gefiel ihm nicht. Es war nicht nur bloße Neugier, die ihn dabei leitete. Es war der geschulte Blick eines Kriegers, der gleichzeitig die Stärke der Befestigungsanlagen prüfte, die Anzahl der Wachen wahrnahm und die Anzahl derer schätzte, die im Inneren waren und auf den Wehrgängen Platz hatten. Dieser Mann war kein gewöhnlicher Bote. Sein Blick war der eines Eroberers, eines Mannes, der eine Festung nur ein einziges Mal sehen mußte, um zu wissen, ob sie einzunehmen war - und wie. »Seid Ihr zufrieden?« fragte Hagen.

Der andere wandte betont langsam den Kopf. Er mußte wissen, daß Hagen seine Neugier richtig deutete. Aber es schien ihm nichts auszumachen.

»Ich habe viel von Worms gehört«, erwiderte er. »Man sagt, daß es eine starke Festung ist. Ich sehe, das ist sie.« »Stark genug?« fragte Hagen. »Wozu?«

Hagen deutete mit einer Kopfbewegung zum Wehrgang hinauf. »Könnt Ihr sie einnehmen?« Der andere nickte. »Man kann jede Festung einnehmen, vorausgesetzt, man hat genügend Männer und Zeit«, sagte er. »Doch Worms scheint mir von besonderer Stärke.«

»Stärke...« wiederholte Hagen nachdenklich. »Stärke allein nützt nichts. Es kommt immer darauf an, wie man sie einsetzt.« Der andere ging nicht darauf ein. Er drehte sich um und sah ungeduldig zu seinem Begleiter zurück, der noch immer mit den Packtieren beschäftigt war. »Ist es wahr, daß Siegfried von Xanten als Gast in Worms weilt?« fragte er beiläufig. »Wie kommt Ihr darauf?« Ein flüchtiges Lächeln erhellte die Züge des anderen und erstarb wieder. »Einfach so«, sagte er. »Wir sprachen über Stärke.« »Er ist hier«, bestätigte Hagen nach kurzem Zögern. Wenn auch nicht unbedingt als Gast, fügte er in Gedanken hinzu. Nach einem Jahr konnte man schwerlich noch von Gast reden. »Hat Eure Frage mit dem Grund Eures Hierseins zu tun?« fügte er hinzu.

Diesmal blieb ihm der Mann die Antwort schuldig. Schweigend setzte er sich in Bewegung und begann langsam über den Hof auf das Haupthaus zuzugehen. Der andere folgte ihm. Ein paar Knechte kamen ihnen entgegen, aber niemand schenkte den beiden Fremden Beachtung. Worms hatte während des zurückliegenden Winters zu viele fremde Gesichter gesehen, als daß zwei weitere noch auffielen. »Woher kommt Ihr?« fragte Hagen, der mit dem zweiten Mann Schritt hielt. »Oder ist das auch ein Geheimnis?«

»Aus dem Norden. Eure Heimat und meine liegen nicht weit voneinander, Hagen.«

Sie sprachen kein Wort mehr, bis sie den Thronsaal erreichten und Hagen den beiden mit einer knappen Geste bedeutete zu warten. »Ich werde sehen, ob König Gunther bereit ist, Euch zu empfangen.« Er wandte sich zur Tür, zögerte, als wäre ihm im letzten Augenblick noch etwas eingefallen, und drehte sich um. »Und wen soll ich melden?« »Den Boten König Lüdegers, des Königs der Sachsen«, erwiderte der Größere der beiden.

»Und den Lüdegasts, des Königs der Dänen«, fügte der andere hinzu. Hagen war nicht sehr überrascht. Er hätte blind sein müssen, zu glauben, daß die zwei in einem friedlichen Auftrag gekommen waren. Lüdeger und Lüdegast ... die Namen der beiden königlichen Brüder klangen nach Tod und Unheil, wo immer sie genannt wurden. Hagen nickte, wandte sich um und ging in den Thronsaal. Gunther stand am Fenster und blickte auf den Hof hinunter. Erwartungsvoll drehte er sich um, als er Hagens Schritte hörte. Er mußte beobachtet haben, wie Hagen die beiden Fremden über den Hof geleitete. »Du bringst Besucher, Hagen?« fragte er. Wie immer, wenn sie allein waren, benutzten sie beide als Anrede das vertrauliche Du. Hagen nickte. »Fremde«, sagte er. »Aber keine Freunde, fürchte ich.« »Keine Freunde?« Zwischen Gunthers feinen blonden Brauen erschien eine steile Falte. In der dicken, schaffellgefütterten Kleidung, in die er sich gehüllt hatte, wirkte er massiger, als er tatsächlich war. Trotz des prasselnden Feuers, das in der offenen Feuerstelle brannte, war es hier drinnen beinahe kälter als draußen. Die steinernen Wände atmeten einen eisigen Hauch aus. »Wie meinst du das?«

»Es sind Boten des Sachsenkönigs Lüdeger«, antwortete Hagen, »und seines Bruders Lüdegast, des Herrn der Dänen. Sie haben mir nicht gesagt, wie ihr Auftrag lautet. Aber es ist nicht schwer zu erraten. Die Sachsen und die Dänen plündern und morden schon länger als ein Jahr oben im Norden, und nun...«

»Sind sie gekommen, um den Krieg in unser Land zu tragen?« unterbrach ihn Gunther. Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. Mit belegter Stimme fügte er hinzu: »Vielleicht siehst du wieder einmal zu schwarz, Hagen.« »Ich hoffe es«, murmelte Hagen.

»Wie auch immer, wir sollten nicht urteilen, ehe wir ihre Botschaft gehört haben. Führ sie herein.« Hagen sah sich im Raum um. »Sie sind bewaffnet. Willst du sie allein empfangen?«

»Ich bin nicht allein«, erwiderte Gunther. »Du bist ja da. Mag sein, daß es Kriegsboten sind, doch bestimmt keine gedungenen Mörder. Führ sie herein.«

Hagen war in diesem Punkt nicht ganz so zuversichtlich wie Gunther, aber er gehorchte.

Die beiden Männer sprachen leise miteinander, brachen jedoch mitten im Wort ab, als Hagen heraustrat. Hagen sah noch, wie der Sachse die Rolle aus Ziegenleder unter seinem Mantel verschwinden ließ. Der Däne wirkte etwas betreten, während der hünenhafte Sachse Hagen mit demselben Gleichmut entgegenblickte, den er schon die ganze Zeit zur Schau trug.

Hagen trat bis auf Armeslänge an sie heran. »König Gunther erwartet Euch«, sagte er, verstellte den beiden aber gleichzeitig den Weg, als sie an ihm vorbeigehen wollten. »Eure Schwerter«, sagte er. Der Däne setzte zu einer scharfen Antwort an, aber der Sachse kam ihm zuvor. Die Rechte auf den Knauf des schartigen Schwertes gelegt, das er ohne Scheide im Gürtel trug, fragte er: »Unsere Schwerter?«, als hätte er Hagens Aufforderung nicht richtig verstanden. »Was meint Ihr damit, Hagen von Tronje?« Hinter ihnen entstand eine Bewegung. Die beiden Wachen, die bisher reglos am Fuß der Treppe gestanden und die Fremden mit scheinbar unbeteiligten Gesichtern beobachtet hatten, traten einen Schritt näher. Hagen scheuchte sie zurück. »Ich meine damit«, erwiderte er, noch immer ruhig, aber ein wenig schärfer als bisher, »daß Ihr und Euer Begleiter nicht mit dem Schwert im Gürtel vor unseren König treten werdet Nicht, solange Ihr den Grund Eures Kommens verschweigt.«

Wieder wollte der Däne auffahren, und wieder war der Sachse schneller. »Ich will zu Euren Gunsten annehmen, daß Ihr Eure Worte nicht so gemeint habt, wie ich sie verstanden habe«, sagte er drohend. »Denn sonst müßte ich Euch zum Kampf fordern. Wir sind keine gedungenen Mörder, Hagen von Tronje.«

»Es ist mir gleich, was Ihr denkt«, antwortete Hagen kühl. »Solange Ihr Euch weigert, mir den Grund Eures Besuches zu nennen, kann ich nicht anders handeln. Würdet Ihr mich im umgekehrten Fall ungefragt zu Eurem Herrn vorlassen?«

Der Sachse schwieg. Hagen war nicht auf seine versteckte Herausforderung eingegangen, aber fast schien es, als wäre der Sachse froh darüber. Langsam zog er Dolch und Schwert aus dem Gürtel und reichte sie Hagen, und nach kurzem Zögern tat es ihm sein Begleiter gleich. Hagen legte die vier Klingen achtlos auf den Fenstersims, streifte mit einer raschen Bewegung das Schaffell von seinen Schultern und straffte sich. Mit einer einladenden Geste deutete er hinter sich. »Bitte. König Gunther erwartet Euch.«

Gunther saß auf seinem Thron. Er hatte die Zeit genutzt, den warmen, aber wenig kleidsamen Mantel gegen den blutroten Umhang der burgundischen Reiterei zu tauschen, und trug jetzt - was Hagen einigermaßen überraschte - sogar die schwere sechsstrahlige Krone auf dem Haupt. Er lächelte, aber es war ein bloßes Verziehen der Lippen, das die Höflichkeit gebot und das nicht über den mißtrauischen Ausdruck seiner Augen hinwegtäuschen konnte.

Die beiden Boten näherten sich dem Thron, blieben in gebührendem Abstand stehen und verneigten sich leicht; gerade genug, um den Regeln des Anstands Genüge zu tun. Hagen stellte sich so, daß er sie und Gunther gleichermaßen im Auge behalten und Ihre Regungen von ihren Gesichtern ablesen konnte.

»König Gunther«, begann der Sachse steif. »Herrscher von Burgund und König des Geschlechts der Gibikungen. Unsere Herren, die Könige Lüdeger und Lüdegast, Herrscher des Sachsen- und des Dänenlandes, entbieten Euch ihre Grüße und senden Euch ihre Ehrerbietung und Hochachtung ... Und diese Botschaft.« Er zog die Rolle aus Ziegenleder unter seinem Mantel hervor und hielt sie dem König hin. Gunther machte keine Anstalten, danach zu greifen, sondern erwiderte seinen Blick kühl und rührte sich nicht. Hagen sah, wie es im Gesicht des Sachsen arbeitete. Ein verräterisches Funkeln trat in seine Augen; aber es war weniger Zorn als Unsicherheit Rasch, bevor sich die Lage noch mehr spannte, trat Hagen hinzu, nahm dem Mann die Rolle aus der Hand und reichte sie Gunther. Gunther nahm sie entgegen, warf einen Blick auf das Siegel und ließ die Rolle achtlos auf seine Knie sinken. »Ich danke Euch«, sagte er ruhig. Seine Hand legte sich auf die Schriftrolle. Sein Blick streifte Hagen. Dann wandte er sich wieder den beiden Boten zu. »Diese Botschaft, die Ihr bringt«, fuhr er fort. »Ich werde sie lesen, in der gebotenen Ruhe und mit der gebotenen Sorgfalt. Doch mein Waffenmeister Hagen berichtete mir, daß Ihr in großer Eile seid und diese Eure Botschaft von großem Gewicht sei. Sagt sie mir - in Kürze.« Die Gestalt des Sachsen versteifte sich. Hagen war sich nicht ganz im klaren darüber, ob er das Verhalten des Königs gutheißen sollte oder nicht »Die... Kunde von Eurem Reichtum und Burgunds Größe und Macht ist weit über die Grenzen Eures Reiches hinausgedrungen«, begann der Sachse endlich stockend. Seine ersten Worte klangen schleppend, als versuchte er einen auswendig gelernten Text aufzusagen, hätte aber Mühe, sich auf den genauen Wortlaut zu besinnen. »Sie blieb auch König Lüdeger, dem Herrscher der Sachsen, und dem Dänenkönig Lüdegast nicht verborgen...« Er räusperte sich. »Burgund und Worms, König Gunther«, fuhr er dann wesentlich gefaßter und sicherer fort, »haben sich den Groll unserer Könige und ihrer Getreuen zugezogen. Der Ruf Eurer Stärke und Eures Mutes ist unseren Herren seit langem ein Dorn im Auge. Deshalb haben beide beschlossen, diesen Mut auf die Probe zu stellen.«

Gunther zeigte sich, wenn überhaupt, so nur mäßig überrascht Ein Blick in Hagens Richtung brachte ihm Bestätigung. »Das bedeutet - Krieg«, sagte Gunther nach kurzem Schweigen. Der Sachse nickte mit unbewegtem Gesicht. »Lüdeger und Lüdegast rüsten sich zu einer Heerfahrt an den Rhein, edler König. Binnen zwölf Wochen werden ihre Heere vor den Toren von Worms stehen, gerechnet vom Tage unserer Rückkehr an.« Der Däne, nun ebenfalls beherzter geworden, fügte erklärend hinzu:»Unsere Herren gewähren Euch zwölf Wochen Frist Eure Getreuen zu sammeln und Eure Heere zu ordnen, wenn Ihr die Herausforderung annehmt.«

Gunther runzelte die Stirn. »Wenn wir sie... annehmen?« fragte er. »Was soll das heißen? Haben wir denn eine Wahl?« »Die Botschaft, die Euch Lüdeger und Lüdegast senden«, sagte der sächsische Riese mit einer Geste auf die Schriftrolle, die noch immer unberührt auf Gunthers Knien lag, »sagt auch, daß Ihr den Krieg meiden könnt, wenn Ihr ihn scheut. Seid Ihr bereit, einen Betrag in Gold und edlen Steinen zu zahlen, der Euch in diesem Schreiben genannt ist, so werden unsere Herren auf die Heerfahrt verzichten, und das Leben vieler tapferer Männer bleibt verschont.«

Gunther erstarrte. Seine Finger spannten sich so fest um die Schriftrolle, daß man das Pergament in ihrem Inneren knistern hören konnte. Dem König des Burgunderreiches ein solches erpresserisches Angebot zu machen verlangte mehr als nur Mut »Wir... danken Euch für Eure Offenheit«, sagte er. »Und die Sorgfalt, mit der Ihr Euch Eures Auftrags entledigt habt Doch nun laßt uns allein. Wir werden über den Vorschlag beraten. Mein Waffenmeister wird Euch Quartier anweisen lassen. Ich... werde zur gegebenen Zeit nach Euch schicken, um Euch unsere Entscheidung mitzuteilen.« Hagen klatschte in die Hände. Zwei Wachen kamen herein und nahmen auf Hagens Wink die beiden Fremden zwischen sich. »Führt diese beiden Herren in die Stadt hinab und weist ihnen die besten Quartiere zu«, sagte er. »Und sorgt auf das allerbeste für ihr leibliches Wohl. Sie sind Gäste des Königs.«

Spätestens nach diesen Worten, die bei aller Freundlichkeit wie ein Befehl klangen, war den beiden Abgesandten klar, daß Widerstand zwecklos und zudem nicht ratsam war. Unwillig, doch ohne Protest, verließen sie zwischen den beiden Wachen den Saal.

Gunther und Hagen waren allein. Gunther hatte seine Haltung nicht verändert. Er saß da, die Rolle auf seinen Knien, und starrte blicklos vor sich hin. »Krieg«, murmelte er. »Du hattest recht, Freund Hagen. Es ist ein Jahr vergangen, bis deine Prophezeiung sich erfüllt hat, aber sie hat sich erfüllt. Oder sie wird es hin, in Kürze. Krieg.«

Hagen schwieg. Er konnte Gunther nur zum Teil recht geben. Als ob sie es nicht alle längst vorausgesehen hätten: Lüdeger und Lüdegast plünderten seit mehr als einem Jahr im Norden, und nicht einmal der Winter hatte Einhalt gebieten können. Selbst während der langen kalten Monate, die Worms von Schnee und tobenden Winterstürmen eingeschlossen gewesen war, hatten immer wieder Nachrichten vom Vordringen der sächsischen und dänischen Heere die Stadt erreicht Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, wann die beiden kriegslüsternen Brüder ihre Hand auch nach Burgund ausstrecken würden - wann, nicht ob sie es taten. »Wir müssen... alle zusammenrufen«, sagte Hagen und merkte, daß seine Stimme heiser klang. »Es muß ein Rat abgehalten werden. Ihr habt gehört, was der Däne gesagt hat, mein König.« Er sprach langsam und wählte unwillkürlich, obgleich sie wieder allein waren, die förmliche Anrede statt des vertraulichen Du. In diesem Moment mußte die Freundschaft zurückstehen, waren Gunther und Hagen wieder der König und sein Waffenmeister, und beide, jeder auf seine Art, allein. Gunther nickte abwesend. Seine Finger spielten unbewußt mit der ledernen Rolle auf seinen Knien. »Rufe Gernot und Giselher, Volker und...« »Es sind nicht alle Edelleute bei Hofe«, unterbrach ihn Hagen. »Volker, Euer Bruder Giselher und Siegfried sind ausgeritten, wie Ihr wißt« »Ausgeritten?« Gunther blickte verwirrt auf, als erwache er langsam aus einem bösen Traum. »Wollten sie nicht schon... gestern zurück sein?« Hagen nickte. »Das wollten sie. Aber der Winter ist noch nicht vorüber, und die Straßen sind schlecht Wenn Ihr es befehlt, mein König, dann sende ich ihnen Reiter entgegen, sie zurückzurufen.« »Ja. Tu das, Hagen«, sagte Gunther leise. Er wirkte beherrscht aber Hagen kannte ihn lange genug, um hinter seine Stirn blicken zu können. Es war nicht Furcht, was in seiner Stimme schwang. Gunther war erschüttert. König Gunther - Gunther von Burgund, den Mann auf dem Thron von Worms - hatte die Botschaft nicht überraschen können, denn er hatte gewußt, daß es eines Tages so kommen würde. Aber der wahre Gunther, der Mensch, der sich unter der Last der Krone verbarg und den nur Hagen und allenfalls seine Mutter Ute kannte - er weigerte sich, das Gehörte zu glauben. Er weigerte sich zu glauben, daß der Krieg von einem Augenblick auf den anderen die Hand nach seinem Land ausstreckte, nur weil die Kunde von der Größe und dem Reichtum Burgunds in mißgünstigen Nachbarn Haß und Neid geweckt hatte. »Gunther...« begann Hagen, die Förmlichkeit nun doch wieder beiseite lassend. Aber Gunther unterbrach ihn unwillig. »Nicht«, sagte er. »Ich weiß, was du sagen willst, Freund. Aber ich brauche keinen Trost.« Seine Stimme klang gereizt »Rufe Gernot, Ekkewart, Sinold - alle, die in der Stadt sind.« Der Schmerz fiel von ihm ab wie ein abgetragenes Kleidungsstück. Von einem Augenblick auf den anderen war er wieder der König, der auf dem Posten war und sein Reich regierte. »Es ist keine Zeit zu verlieren, Hagen. Das hier«, seine Hand fiel auf die Schriftrolle und zerknitterte sie, »ist kein Spaß. Du weißt so gut wie ich, daß wir den vereinigten Heeren der Dänen und Sachsen nicht gewachsen sind.« »Du denkst doch nicht daran, dieses unverschämte Angebot anzunehmen und dich freizukaufen?« entfuhr es Hagen. Im gleichen Moment bedauerte er schon, es ausgesprochen zu haben. Doch Gunther nahm es ihm nicht übel.

»Natürlich nicht Aber wir haben keine Stunde zu verlieren.« Gunther stand auf. »Sende Boten in alle Städte und an jeden Hof, der uns Gehorsam schuldet oder in Freundschaft verbunden ist, und Reiter in jede Stadt am Rhein, die auf dem Wege der sächsischen Heere liegt Jeder Mann, der ein Schwert zu führen versteht und ein Pferd zu reiten imstande ist, soll unverzüglich nach Worms kommen.« Hagen nickte, machte jedoch keine Anstalten, Gunthers Befehl zu befolgen. »Das muß und wird geschehen. Gewiß«, sagte er. »Aber vielleicht gibt es eine andere Lösung.« Gunther sah ihn fragend an. »Siegfried«, antwortete Hagen »Siegfried...?« Gunther konnte seine Überraschung nicht verbergen. »Sagst du das, weil du Siegfried haßt, oder glaubst du wirklich, daß er uns helfen kann?«

»Meine Gefühle dem Xantener gegenüber sind unwichtig«, erwiderte Hagen. »Ich meine es ernst, Gunther. Siegfried von Xanten hat dir Freundschaft und Burgund Treue geschworen. Wäre dies nicht der Moment, seinen Eid auf die Probe zu stellen? Immerhin hat er siebenhundert Recken erschlagen im Nibelungenland. Ganz allein.« Gunther machte eine ärgerliche Handbewegung. »Laß das, Hagen. Dies ist nicht der Moment zu scherzen.« »Ich scherze nicht«, erwiderte Hagen ruhig. »Siegfried...« »... würde für mich in den Kampf ziehen, ganz allein, wenn ich ihn darum bitte«, unterbrach ihn Gunther. »Und vielleicht dabei getötet werden. Das ist es doch - oder nicht?«

Hagen runzelte die Stirn. »Nein«, widersprach er. »Oder vielleicht doch«, fügte er nach kurzer Überlegung hinzu. »Ich hasse Siegfried nicht, aber es würde mir nicht das Herz brechen, wenn er in der Schlacht fiele.« »Du haßt ihn«, behauptete Gunther. »Wenn ich nur wüßte, warum. Du hast ihn vom ersten Augenblick an gehaßt, und das Jahr, das er bei uns weilt, hat daran nichts geändert« Hagen blickte an Gunther vorbei aus dem Fenster. Die Sonne war höher gestiegen, und der rötliche Schein des Himmels begann zu verblassen. Die Luft war sehr klar, man konnte sehen, wie kalt sie war. Hagen versuchte, über diesen Beobachtungen der leisen, beharrlichen Stimme in seinem Inneren nicht zu achten, die seine Worte Lügen strafte. »Ich hasse ihn nicht«, sagte er zum wiederholten Male. »Aber vielleicht fürchte ich ihn.«

»Du hast keinen Grund, Siegfried von Xanten zu fürchten.« »Vielleicht nicht ihn«, erwiderte Hagen. »Sondern das Unglück, das ihn begleitet wie einen Schatten.«

Gunther verfiel in einen gereizten Ton. »Unglück? Warst nicht du es, der fast im gleichen Atemzug vorschlug, Siegfried unseren Kampf kämpfen zu lassen?«

»Das eine schließt das andere nicht aus«, sagte Hagen. Und unversehens waren sie schon wieder - zum wievielten Mal wohl? - mitten in dem Gespräch, das sie in den letzten zwölf Monaten oftmals geführt und immer an der gleichen Stelle abgebrochen hatten. Vielleicht, weil sie beide Angst hatten, es fortzuführen.

»Ich werde... Euren Bruder unterrichten«, sagte Hagen. »Ihr habt recht, mein König: es ist keine Zeit zu verlieren.« Er ging; so schnell, daß Gunther keine Gelegenheit hatte, ihn zurückzurufen. Sie waren beide erregt und mochten Dinge sagen, die ihnen später leid taten. Draußen in der Halle blieb er stehen und schloß für einen Moment die Augen. Sein Herz schlug schnell. Er war erregter, als er selbst geglaubt hatte.

Als sich sein Herzschlag beruhigt hatte, wandte er sich nach links, um in seine Kammer hinaufzugehen, zögerte kurz und wandte sich dann in die entgegengesetzte Richtung. Er durchquerte die Halle, trat aus dem Haus und ging mit weit ausgreifenden Schritten über den Hof. Der verharschte Schnee knirschte unter seinen Tritten, als er am Gesindehaus vorüberging und dem langgestreckten Rechteck der Stallungen zustrebte. Wärme, der durchdringende Geruch nach warmem Heu und Pferdemist schlugen ihm entgegen, als er den Stall betrat und die Tür hinter sich schloß. Eines der Pferde hob müde den Kopf und sah ihm gleichgültig entgegen. Im ersten Moment erkannte er nichts als Schatten. Aber seine Augen, an das helle Sonnenlicht und das Gleißen des Schnees gewöhnt, stellten sich rasch auf die goldbraune Dämmerung hier drinnen ein. Der Stall war halb leer. Die rohgezimmerten Boxen auf der einen Seite waren verwaist, während sich die Tiere auf der anderen Seite des schmalen Mittelganges drängten, um sich mit ihrer Körperwärme gegenseitig vor der Kälte zu schützen. Kein einziger der Stallburschen war zu sehen, obgleich eigentlich Fütterungszeit war und die Knechte strengsten Befehl hatten, die Tiere nicht einen Augenblick unbeaufsichtigt zu lassen, denn zwei der Stuten waren trächtig. Aber er verschwendete keinen weiteren Gedanken daran, ehe er den Gang entlang zum gegenüberliegenden Ende des Stalles eilte. In der Stirnwand befand sich eine niedrige, aus rohen Brettern gezimmerte Tür, hinter der eine kleine Kammer lag. Früher hatte sie zur Aufbewahrung allerlei Gerümpels gedient: Werkzeuge, Säcke, all die tausend Dinge, die Stallknechte nun einmal brauchten und ständig griffbereit haben mußten. Jetzt diente sie einem anderen Zweck. Hagen öffnete die Tür, trat gebückt hindurch, richtete sich drinnen wieder auf und sah sich mit zusammengekniffenen Augen um. Die Kammer war klein und fensterlos und so dunkel, daß er den Schatten vor sich erst wahrnahm, als er sich bewegte.

»Hagen?« Alberichs Stimme klang wie das heisere Krächzen einer Krähe in der Dunkelheit »Was verschafft mir die Ehre deines unerwarteten Besuches? Übst du dich im Herumschleichen?« Hagen machte eine unwillige Bewegung. »Komm heraus, Zwerg«, sagte er. »Ich habe etwas mit dir zu besprechen.« »Warum tust du es dann nicht?« fragte Alberich. Hagen trat ohne ein weiteres Wort in den Stall zurück und wartete, bis der Zwerg geräuschvoll aufgestanden und ihm nachgekommen war. Alberichs Gesicht wirkte verschleiert; der Blick seiner Augen war nicht ganz so stechend wie gewohnt. Hagen mußte ihn aus dem Schlaf gerissen haben. Es war heller Tag, aber so, wie der Alb selbst etwas von einem Schatten an sich hatte, lebte er vorzugsweise in der Dunkelheit »Nun?« »Ich habe eine Aufgabe für dich«, sagte Hagen.

Alberich blinzelte. »Eine Aufgabe?« fragte er. »Ich wüßte nicht, daß ich in deinen Diensten stehe.« Hagen drängte den Ärger über den Spott in Alberichs Worten zurück. »Es ist etwas, was dir Spaß machen wird«, sagte er. »Eine Sache, die einen geborenen Schleicher wie dich erfordert, Zwerg.« Alberich lachte. »Ich soll jemanden bespitzeln? Eine Intrige vielleicht? Mit dem größten Vergnügen, Hagen. Um wen geht es?« »Ich dachte, du wüßtest es bereits«, versetzte Hagen anzüglich. »Es sind zwei fremde Reiter angekommen, Boten aus Dänemark und Sachsen.« Alberich schwieg einen Moment. »Haben sie also endlich ihr Auge auf Burgund geworfen?«

»Ja.« Hagen nickte ungeduldig. »Die beiden Boten sind im Gasthaus in der Stadt Gunther hat ihnen das Gastrecht gewährt« »Wie unbequem«, spöttelte Alberich. »Wo sie doch sicher so vieles wissen, was dich zu erfahren dürstet, nicht wahr?«

»Unbequem nicht nur für mich«, sagte Hagen. »Ich fürchte, auch für dich sind die fetten Tage vorbei, wenn dein Herr und Gebieter die Kunde von der Kriegserklärung vernimmt.«

Alberich seufzte. »Da kannst du recht haben«, murmelte er. »Siegfried wird kaum zusehen, wie die Sachsen Burgund erobern. Xanten liegt zu nahe bei Worms. Und Lüdeger ist ein gieriger alter Raffzahn. Du brauchst also meine Hilfe?«

Hagen nickte. »Ich muß alles erfahren, was sie wissen. Wo ihre Truppen stehen. Wie stark ihr Heer ist, wie viele Reiter sie haben und wie viele Gemeine, und wie die Moral der Truppe ist. Alles.« »Das werden sie mir kaum freiwillig erzählen«, sagte Alberich und zog eine Grimasse.

»Hast du dich gerühmt, unsichtbar sein und jedes Geheimnis ergründen zu können, oder nicht?«

»Man rühmt sich schnell dieser oder jener Sache«, sagte Alberich. »Der eine behauptet, unverwundbar zu sein, und der andere ...« Er zuckte mit den Achseln und seufzte. »Was du verlangst, ist nicht leicht, Hagen. Aber ich werde sehen, was ich tun kann. Die Menschen reden viel, wenn sie sich ungestört glauben. Diese beiden Fremden sind im Gasthaus in der Stadt, sagst du?«

Hagen nickte. »Im Kerker wären sie mir lieber«, sagte er. »Aber sie stehen unter dem Schutz des Gastrechtes.«»Was vielleicht nicht das schlechteste ist«, murmelte Alberich nachdenklich. »Ich nehme an, du läßt sie bewachen?« »Natürlich.«

»Dann zieh deine Wachen wieder ab. Nicht ganz, sondern nur aus ihrer unmittelbaren Nähe. So daß sie keinen Verdacht schöpfen, sich aber ungestört wähnen.« Hagen nickte abermals.

»Gib mir Zeit bis zum Abend«, sagte Alberich. »Und jetzt geh. Ich habe gewisse... Vorbereitungen zu treffen.«

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